Kapitel 30

Am nächsten Tag täuschte ich eine Migräne vor. Ich war nicht in der Lage aufzustehen, denn dann hätte ich Hendrik ins Gesicht sagen müssen, was ich meiner Schwester versprochen hatte. Linn versorgte mich mit kalten Wickeln und Tabletten und fuhr, ohne zu murren, in den Laden, ging davor sogar mit Snørre Gassi. Ich lag derweil im Bett und starrte die Decke an und fühlte gar nichts mehr.

Irgendwie schaffte ich es auch am nächsten Tag noch, Hendrik aus dem Weg zu gehen. Auf seine Nachrichten antwortete ich ausweichend und schob die Migräne vor.

Aber am Freitag, gerade als sich Linn für den Tag verabschiedet hatte und mit Snørre eine Runde drehte – sie gab sich wirklich Mühe mit ihm, und mein Herz war zumindest den Hund betreffend nicht mehr ganz so schwer – , stand Hendrik plötzlich im Laden.

»Hey, ich habe mir Sorgen gemacht.«

Mein Gesichtsausdruck sagte wohl schon viel.

»Was ist los?« Er trat zu mir hinter den Kassentresen, legte sanft seine Finger unter mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen.

»Ich … ich kann das nicht, Hendrik.«

»Was genau?«, fragte er, doch in seinen Augen las ich, dass er die Antwort bereits ahnte. Ich senkte die Lider, um ihn bei dem, was ich zu sagen hatte, nicht ansehen zu müssen. Dann fühlte es sich vielleicht nicht ganz so schwer an.

»Linn … sie hat mir erzählt, wie sehr sie damals in dich verliebt war, und dass das Ende zwischen euch ihr das Herz gebrochen hat. Ich meine, ich wusste nicht, wie ernst es zwischen euch war. Ich hätte sonst nie zugelassen, dass wir uns näherkommen.« Nach einem tiefen Atemzug schaute ich auf. »Es tut mir leid, aber das mit uns kann nicht weitergehen. Sie ist schließlich ein Teil meiner Familie. Meine Zwillingsschwester.«

Hendrik zog seine Finger von meinem Kinn zurück, als hätte er sich verbrannt. Stattdessen fuhr er sich durch sein Haar und machte einen Schritt von mir fort. »Ich wusste, dass sie Probleme machen wird, wenn sie wiederkommt.«

»Also wusstest du von ihren Gefühlen für dich?«

»Nein! Und das mit uns war niemals etwas Ernstes! Aber ich weiß, dass sie ein manipulatives Miststück ist, und im Gegensatz zu dir glaube ich keines der Worte, die sie von sich gibt.«

»Du redest von meiner Schwester«, warnte ich ihn. »Und im Grunde passen wir doch eh nicht zusammen. Sieh uns an, wir sind so unterschiedlich!«, versuchte ich ihn zu überzeugen – und mich gleich mit. Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als seine Miene sich verfinsterte.

»Ist es das, was du dir einredest?«

»Ich sage nur, wie es ist«, gab ich mich ungerührt, während sich ein heißer Kloß durch meine Organe fraß. Ich vermutete, dabei handelte es sich um mein Herz, das nun nicht länger bereit war, an Ort und Stelle zu bleiben, um meinen Blutkreislauf am Laufen zu halten.

»Du weißt, dass das nicht die Wahrheit ist. Wir passen perfekt zusammen. Schon immer. Aber weißt du, warum es zum Scheitern verurteilt war? Weil du dir einredest, ich wäre nicht gut genug für dich, während du dich von deiner Schwester behandeln lässt wie einen Fußabtreter. Und nur weil ihr aus derselben Eizelle entstanden seid, macht es sie nicht automatisch zu einem guten Menschen, wenn du einer bist. Und wenn du das nicht erkennst und nicht aufhörst, hinter ihr aufzuräumen, dann wirst du nie glücklich werden.«

Hendrik sprach ruhig, aber so eindringlich, dass seine Worte einem Grollen glichen. Ich schluckte und konnte nichts erwidern, weil es wehtat, was er da über mich sagte, und vielleicht auch ein klein wenig deshalb, weil ich befürchtete, er könnte in einigen Punkten recht haben.

Wir starrten uns an. Ich hätte so gern die Zeit zurückgedreht, wäre so gern mit ihm auf dem Hausboot gewesen, hätte ihm gern so vieles gesagt … doch ich presste die Lippen aufeinander. Ich konnte nicht. Linn war meine Schwester, und es gab auch ohne einen Mann zwischen uns genug Baustellen, die wir angehen mussten.

Die Türklingel ertönte, und ein Mann und eine Frau kamen herein. Hendrik drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Laden.