Kapitel 31

Zwei Wochen später

Mein Leben war wieder zurückgesprungen in den Zustand des letzten Jahres, und gleichzeitig war nichts mehr wie zuvor. Linns anfängliche Bemühungen hielten nur noch teilweise an, und Snørre war die meiste Zeit bei mir im Laden. Ich sagte nichts, denn ich liebte den kleinen Kerl und wollte tief in meinem Herzen, dass er mein Hund war. Tja, nur schien mein Herz dieser Tage längst nicht alles zu bekommen, was es wollte.

Obwohl wir uns sonst täglich begegnet waren, hatte ich Hendrik in den letzten zwei Wochen kaum gesehen. Ich vermutete, dass er mir genauso aus dem Weg ging wie ich ihm. Was gut war, denn irgendwann würde es bestimmt wieder leichter werden – das redete ich mir zumindest ein, wenn ich ihn vermisste. Und das tat ich, jeden Tag.

»Ich bin mal eben weg«, flötete Linn und verließ den Laden. Ehrlich gesagt war ich jedes Mal froh, wenn sie ging, und fühlte mich zugleich miserabel deswegen.

Die Türklingel läutete, und ich schaute auf, dachte, Linn habe noch etwas vergessen, doch es waren Aline, Nora und Hanna, die hereinkamen. Sofort bekam ich erneut Gewissensbisse, weil ich mich auch bei ihnen seit Linns Rückkehr kaum gemeldet hatte. Auf ihre Nachrichten hatte ich ausweichend geantwortet. Nur bei Aline war meinerseits eine kurze Nachfrage wegen ihres Besuchs im Verlag erfolgt. Lediglich Hanna wusste ein wenig von meinem Gespräch mit Linn nach ihrer Heimkehr, weil sie meine Ausflüchte nicht hatte gelten lassen.

Nun setzte ich ein Lächeln auf, es war so anstrengend, dass es nicht länger als fünf Sekunden hielt. »Hey, das ist ja eine Überraschung!«

Ihre Gesichter blieben ernst.

»Linn ist also wieder da«, meldete sich Nora als Erste zu Wort.

»Du hast ja jetzt Mittagspause«, sagte Hanna und drehte einfach den Schlüssel der Ladentür um.

»Eigentlich mache ich den Laden nicht mehr mittags zu, seit Linn zurück ist«, murmelte ich und schaute zur Tür.

Snørre sprang fröhlich zwischen den dreien hin und her und schien von der angespannten Stimmung nichts mitzubekommen. Oder er wollte sie mit seiner guten Laune vertreiben.

»Heute schon«, sagte Aline mit einem sanften Lächeln.

Ich seufzte. »Möchtet ihr einen Kaffee?«

»Wir brauchen keinen Kaffee, wir wollen mit dir reden«, sagte Nora und setzte sich auf eine alte Holzbank an einen der Ausstellungstische. Sie klopfte auf den Platz neben sich.

Nervös lachte ich auf. »Ihr macht mir ein wenig Angst.«

»Es ist auch ernst«, bestätigte Hanna und sank auf einen Holzstuhl am selben Tisch. Aline setzte sich neben sie, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu ihnen zu gesellen.

»Du hast dich in den letzten vierzehn Tagen kaum gemeldet«, begann Nora. »Aber sicherlich wart ihr, du und Hendrik, zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt.« Sie sah mich eindringlich an.

»Ähm, ich hatte einfach viel zu tun. Ein paar Dinge mit Linn zu klären und … also, das mit Hendrik passte dann irgendwie doch nicht.«

»Das hat er ein wenig anders erzählt«, schaltete sich Aline ein.

»Was?«, fragte ich und konnte nicht fassen, dass Hendrik mit ihr über uns geredet hatte.

»Vorgestern hatte ich den Termin für das große Tattoo bei ihm und ganz ehrlich, er sah total mies aus. Also habe ich gefragt, ob er krank ist und wir den Termin verschieben sollen. Er hat abgewiegelt, aber offenbar hat Sven unser Gespräch mit angehört. Zumindest kam er rein und sagte: ›Unser Tätowierkünstler bricht sich lieber selbst das Herz, als mal Klartext zu reden. Hast du denn noch nichts von unseren Turteltäubchen mitbekommen? Lara ist doch deine Cousine, oder?‹ Ich war zunächst total überrumpelt und Hendrik alles andere als begeistert, aber zumindest ist er danach mit der Sprache rausgerückt und hat mir, wenn auch widerwillig, einiges erzählt. Am Anfang der Geschichte dachte ich noch: Großartig – endlich haben die beiden es hinbekommen, schließlich wusste ich noch gar nicht, dass zwischen euch was lief. Das hättest du mir übrigens ruhig mal erzählen können.« Sie schaute mich kurz strafend an, ehe sie weitersprach. »Das Ende der Geschichte fand ich dann allerdings ziemlich beschissen.«

»Du glaubst Linn doch nicht ernsthaft, dass sie heute – neun oder zehn Jahre nach deren kurzer Beziehung – immer noch nicht über ihn hinweg ist? Sie hat nie auch nur ein Wort von ihm erzählt, und als wir uns kennenlernten, war sie bereits mit jemand anderem zusammen!« Hannas linke Augenbraue zuckte, wie immer, wenn sie aufgebracht war.

»Linn ist eben nicht der Typ, der gern ihre wahren Gefühle zeigt.«

»Vielleicht, weil sie keine hat«, sagte Hanna. »Und weißt du noch, wie sie behauptet hat, dass ich mich nur mit dir angefreundet habe, um an Tom ranzukommen? Weil sie es nicht ertrug, dass wir beste Freundinnen sind?«

»Ja, das war ziemlich kindisch, aber das ist auch schon lange her«, erwiderte ich. Trotzdem dachte ich plötzlich an Hendriks überraschten Gesichtsausdruck, als ich ihn mit seinen Äußerungen von damals konfrontiert hatte. Linn hatte doch nicht etwa … Hanna und ich lernten uns nur kurze Zeit später bei einer Studentenparty kennen, es war alles zur selben Zeit, und rückblickend wiesen beide Situationen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander auf.

»Hendrik hat dir nicht erzählt, warum die beiden sich damals getrennt haben, oder?«

»Nicht direkt, so weit sind wir in unserem Gespräch nicht gekommen, aber er hat Linns Version nicht abgestritten, deswegen wird es wohl so gewesen sein. Die Details machen da keinen Unterschied, schätze ich.«

»Ich finde schon, und deshalb haben wir drei beschlossen, mit dir zu reden«, sagte Aline. »Zwar musste ich Hendrik versprechen, genau das nicht zu tun, weil er keinen Keil zwischen Linn und dich treiben will und der Ansicht ist, du müsstest selbst dahinterkommen, was für ein Spiel sie spielt. Aber ich finde, man darf einen lieben Menschen schon darauf aufmerksam machen, wenn jemand mit einem Messer hinter ihm steht.« Sie machte eine ziemlich melodramatische Pause, während ich verwirrt die Stirn krauszog. »Also, Hendrik – er war schon damals in dich verknallt.«

Ich schaute Aline an und wollte gerade etwas einwenden, als Nora mir zuvorkam.

»Ergibt total Sinn, so wie er dich immer angesehen hat.«

»Und sobald es ihm klar war, hat er es Linn ehrlich gesagt«, fuhr Aline fort.

In mir geriet einiges durcheinander. Ich kramte hektisch in früheren Erinnerungen, aber die mit Hendrik bestanden weiterhin nur aus winzigen Bruchstücken, so wie der Abend auf der Party. Ich hatte ihn nie auf die Art gesehen, schließlich war er der Freund meiner Schwester gewesen, bis auf diesen einen Moment …

»Du musst ihm wirklich viel bedeuten, wenn er die Wahrheit verschweigt, um deine Beziehung zu deiner Schwester nicht zu gefährden, obwohl, wie Aline schon sagte, sie selbst dafür verantwortlich ist.« Nora schaute mich mitfühlend an.

»Okay, vorausgesetzt, das stimmt … aber … aber was ändert das? Sie kann ja trotzdem sehr in ihn verliebt gewesen sein.«

Die drei sahen sich an, ehe Nora sagte: »Alles Weitere, meine Liebe, musst du für dich selbst herausfinden. Sprich Linn doch mal darauf an und fülle die letzten Lücken dieses Puzzles.«

»Und jetzt gehen wir mit Snørre spazieren und holen uns ein Fischbrötchen«, schlug Aline vor, und ich war zu überrumpelt, um etwas dagegen einzuwenden.

Den Rest der Mittagspause redeten wir nicht mehr über Hendrik und Linn, und es tat unendlich gut, von meinen Freundinnen umgeben zu sein. Als es für mich Zeit wurde, zurück in den Laden zu gehen, verabredeten wir uns für den kommenden Sonntag.

Später an diesem Nachmittag standen meine Gedanken nicht mehr still, und ich kam völlig erledigt nach Hause. Ich hatte nicht vor, mit Linn zu sprechen, dafür war ich noch viel zu verwirrt, doch dann kam alles anders.

Laute Musik drang mir wieder einmal bereits im Hausflur entgegen. Nachdem ich meine Jacke abgelegt und auch Snørre aus seinem Mantel befreit hatte, schaute ich ins Wohnzimmer und zuckte erschrocken zusammen. Linn hockte dort mit einem Typen. Beziehungsweise eher auf einem. Ich war so fassungslos, dass ich einfach dastand und die beiden anstarrte. Der dunkelhaarige Mann bemerkte mich und beendete die Zungenakrobatik mit meiner Schwester.

»Oh, wow, ihr seht ja wirklich gleich aus.« Er hatte einen spanischen Akzent, soweit ich das bei der lauten Musik beurteilen konnte. Wie in Trance ging ich zur Stereoanlage und drehte sie leiser.

»Hi Lara! Das ist Pablo. Wir haben uns auf Gran Canaria kennengelernt. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir von ihm zu erzählen.«

»Hallo Pablo. Äh … und du machst jetzt Urlaub hier?« Ich gab mir Mühe, freundlich zu sein, obwohl ich mir gerade ein wenig wie im falschen Film vorkam.

Linn krabbelte von Pablos Schoß. »Darüber wollte ich noch mit dir reden. Sollen wir kurz in die Küche gehen?«

Ich nickte. Mir war schon klar, was gleich kommen würde – sie wollte, dass er für die Zeit, die er hier war, bei uns wohnte, und vermutlich wollte sie dann auch nicht den ganzen Tag im Laden stehen. Wie hatte ich nur so dumm sein können …

»Hör mal, das mit Pablo und mir …« Sie stockte und schien fast ein wenig unsicher. »Er bleibt erst mal hier und sucht sich einen Job. Wollten wir nicht eine Aushilfe anstellen?«

»Hä? Ich wollte eine Aushilfe einstellen für den Fall, dass du nicht wiederkommst. Wie lange will er denn bleiben und wo wird er wohnen?«

»Ja, also … zunächst mal bei uns. Aber du wirst ihn kaum merken. Außerdem haben wir überlegt, uns bald was zusammen zu suchen. Für Snørre, mich und ihn. Ich habe ihn wirklich gern, Lara, und so richtig harmonisch lief unser Zusammenleben doch auch nicht mehr, oder? Eigentlich noch nie. Das wird sich bestimmt positiv auf die Zusammenarbeit im Laden auswirken, wenn wir uns nach Feierabend nicht auch noch ständig auf der Pelle hocken.«

Ich versuchte, ihre Worte zu verarbeiten. Aber es war zu viel auf einmal. Als versuche man, trockene Erde zu gießen. In dem Moment erlitt irgendeine Synapse in meinem Kopf einen Kurzschluss.

»Spinnst du jetzt eigentlich völlig?«, schrie ich sie ohne Vorwarnung an, und sie zuckte überrascht zusammen.

»Was ist denn plötzlich aus deiner ewig währenden Liebe für Hendrik geworden?«

Binnen eines Herzschlages hatte Linn wieder ihre Scheißegal-Maske aufgesetzt und hob gleichgültig die Schultern. »Ich kann mich ja nicht ewig nach ihm verzehren. Er will mich schließlich nicht.«

»Es ist wahr, oder?«

»Was ist wahr?«, gab sie ungeduldig zurück.

»Ich verstehe es jetzt!«, keuchte ich fassungslos. »Du hattest nie tiefere Gefühle für ihn, du konntest es nur nicht ertragen, dass er mich wollte. Weder damals noch heute. Stimmt’s?«

»Oh, hat er dir endlich erzählt, wie verknallt er schon damals in dich war? Ich habe mich echt gewundert, dass es so lange gedauert hat.« Sie lachte, und in diesem Moment hätte ich ihr am liebsten eine gescheuert. »Ich habe ihm gleich gesagt, dass du nie mit ihm zusammen sein wirst, weil du – als der perfekte ältere Zwilling – mir so etwas nicht antun würdest.«

»Du … Er hat nie etwas Gemeines über mich gesagt, oder? All das, was du behauptet hast … Meine Güte, Linn, wie … wie kannst du nur so sein?«

»Wie schon gesagt, es ist anstrengend, deine Schwester zu sein. Meinst du, dann sehe ich auch noch zu, wie du dir den Typen schnappst, den ich mir ausgesucht hatte?«

»Linn, wir werden bald dreißig, wir sind keine Teenies mehr!«

»War ja klar, dass jetzt so was kommt. Sorry, dass ich nicht so reif bin wie du.«

In dieser Sekunde platzte mir endgültig der Kragen. »Weißt du was? Es reicht mir! Du und … und dieser Pablo – ihr könnt die Wohnung haben – ich ziehe aus! Und ich nehme Snørre mit! Du bist abgehauen und hast dich nicht um ihn gekümmert, von dem Moment an hast du alle Ansprüche auf ihn verwirkt.« O Mann, es fühlte sich gut an, ihr die Meinung zu sagen! Und nicht der verständnisvolle reife Zwilling zu sein. So langsam kam ich in Fahrt, und mir wurde in dieser Sekunde etwas klar, was zwar schmerzhaft war, aber dennoch eindeutig richtig.

»Ich will den Laden nicht mehr mit dir zusammen führen.«

Linn schaute völlig überfahren drein. »Snørre kannst du haben, der dackelt ja eh nur noch dir hinterher. Aber der Laden, das war meine Idee! Du kannst mich nicht einfach rauskicken.«

Ich hatte gewusst, dass sie das sagen würde. »Ich weiß, und deshalb steig ich aus.«

»Was?«, fragte sie entsetzt.

Ganz ehrlich? Ich fühlte exakt dasselbe Entsetzen.

»Du kannst es dir überlegen. Entweder du zahlst mich aus oder ich dich. Ich gebe dir bis Ende nächster Woche Bedenkzeit, ansonsten bin ich raus, und bis dahin kannst du mit Pablo ja schon mal schauen, wie es euch im Laden gefällt. Ich mache frei.«

»Das bringst du nicht«, sagte Linn, und es klang wie eine Drohung. Doch ich würde es tun. Sie hatten alle recht gehabt, nur ich hatte nie sehen wollen, wie meine Schwester wirklich war. Ich liebte sie, aber ich musste und wollte nicht mehr den Laden und die Wohnung mit ihr teilen. Sollte sie darauf bestehen, den Laden weiterzuführen, würde es mir das Herz brechen, aber ich würde mir etwas Neues aufbauen. Etwas, das exakt so war, wie ich es wollte. Zwar würde sie für immer meine Zwillingsschwester bleiben, das konnte ich nicht ändern, aber alles andere schon. Womöglich würde das unserer Beziehung langfristig sogar guttun.

Sie versuchte noch, mich aufzuhalten, indem sie meinen Arm packte, als ich aus der Küche ging, doch ich riss mich los und stürmte in mein Zimmer. Ich fühlte nicht mal was, oder zu viel auf einmal – keine Ahnung. Fahrig textete ich Nora.

Steht das Angebot mit der Wohnung noch?

Die Antwort kam umgehend und ohne Nachfragen.

Klar. Ich schreibe sofort dem Vermieter! Ich glaube, er hat sie noch nicht inseriert.

Und kann ich schon jetzt rein?

Danach klingelte mein Handy, und meine Emotionen überschwemmten mich wie eine Welle, die mich unter Wasser zog. Unter Tränen erzählte ich Nora alles.

»Ich bin stolz auf dich, hörst du?«, sagte sie, als ich geendet hatte. »Du hast das Richtige getan. Du kannst natürlich herkommen. Wir schlafen eh schon im Haus, aber wenn du willst, bleibe ich bei dir in der Wohnung.«

»Okay«, schluchzte ich, legte auf und begann, die wichtigsten Sachen zu packen. Danach lud ich alles samt Snørre in mein Auto und fuhr los.