Wir saßen auf den Deckchairs bei Nora auf dem Steg, mit kuscheligen Fleecedecken über unseren Beinen, und schauten auf die Ostsee hinaus. Snørre tollte durch den Garten, und ich verspürte jedes Mal ein Glücksgefühl, wenn ich ihn ansah.
Meine Mutter hatte versucht, zwischen mir und Linn zu vermitteln, doch dieses Mal blieb ich hart. Ich wollte die Trennung von der Wohnung und dem Laden. Auch wenn es mich mein Baby kosten würde. Denn das war das Hygge Up. Doch am Ende war es nur ein Geschäft, kein Lebewesen.
Ich schaute zu Snørre und lächelte. Nie hätte ich gedacht, dass mir ein drei Kilo schwerer Fellball so sehr ans Herz wachsen könnte.
»Hat Linn schon gesagt, wie sie sich entschieden hat? Will sie den Laden?«, fragte Nora. Ich schüttelte den Kopf.
»Sie hat noch bis Sonntag Zeit.«
»Und was machst du, wenn sie ihn will?«
»Dann eröffne ich einen eigenen. Ich weiß noch nicht, ob es ein ähnliches Konzept sein wird … aber auf jeden Fall will ich wieder ein eigenes Geschäft.«
»Vielleicht braucht Peter für den Sommer ja wieder eine Aushilfe auf dem Campingplatz – so als Überbrückung«, scherzte Nora und brachte mich damit zum Lachen. Im letzten Jahr war sie ganz unverhofft zu diesem Posten gekommen, hatte den Sommer auf dem Campingplatz auf Holnis verbracht und sich dort in Bent verliebt. Ich dachte an Hendrik und es stach in meinem Herzen. Fast schon spürte ich die Linien der Tätowierung auf meinem Handgelenk, das ich in den letzten Tagen so oft angesehen und berührt hatte. Unwillkürlich schoben sich auch jetzt meine Finger unter den Stoff meiner Jacke. Nora entging das nicht.
»Du musst dich bei ihm melden.«
»Ich habe es vermasselt. Ich habe meiner Schwester mehr geglaubt als ihm … Sie über ihn gestellt.«
»Dann solltest du jetzt klarstellen, dass du dich geirrt hast. Ich finde, er hat auch Fehler begangen, er hätte dir erzählen müssen, was damals der Trennungsgrund zwischen ihm und Linn war.«
Doch ich wusste, er hatte es mir nicht erzählt, weil er mich nur vor einer Enttäuschung hatte schützen wollen. Immerhin war sie meine Schwester. Aber nun hatte ich selbst erkannt, dass sie mich manipulierte. Doch zu spät. Ich schwieg und schaute zu, wie das Schilf im Wind tanzte.
»Manchmal muss man zu einer großen Geste greifen. So wie Bent, als er mich auf dem Gendarmenpfad ausfindig gemacht hat, nur um mich um ein Date zu bitten. Weißt du, wir sind ja alle nur Menschen und machen Fehler. Ich zum Beispiel den, nach München zu gehen. Aber das bedeutet nicht, dass man sich am Ende nicht doch noch richtig entscheiden kann.«
»Hm«, machte ich und hob Snørre auf meinen Schoß.
»Sag ihm, dass du ihn liebst.«
»Liebe ist ein großes Wort.«
»Vor dem du etwas Angst hast. Aber Angst sollte uns nicht davon abhalten, jemandem unser Herz zu schenken. Was hast du schon zu verlieren? Nichts – du hast es schon verloren, du kannst es nur noch zurückgewinnen.«
Noras Worte klangen den Rest des Tages in mir nach, und am nächsten Morgen betrachtete ich wieder mein Tattoo und dachte an all die schönen Stunden mit Hendrik. Plötzlich hielt ich den Gedanken nicht mehr aus, den Rest meines Lebens ohne ihn zu sein. Wenn ich ihn verlor, dann nicht, ohne wenigstens für uns gekämpft zu haben.
Ich sprang aus dem Bett und griff nach einem Zettel und einem Stift. Danach zog ich mich in Windeseile an und lief mit Snørre zum Hinterhof. Mein Herz klopfte derart heftig, dass es fast schon wehtat. Außerdem war ich so schnell gelaufen, dass ich Seitenstiche bekommen hatte.
Mein Blick glitt zum Hygge Up. Durch das Fenster erkannte ich Linn hinter dem Tresen. Ich hatte alles gesetzt – entweder gewann ich oder ich verlor alles. Ich schob den Gedanken beiseite und steuerte das Tattoo-Studio an. Ich erblickte Sven hinter dem Tresen und war erleichtert, dass mein Plan bis hierhin aufging. Als Sven mich bemerkte, legte ich einen Finger auf die Lippen. Mit Snørre auf dem Arm ging ich zu ihm und erzählte ihm leise, was ich vorhatte. »Wie lange dauert sein Termin noch?«, fragte ich.
Sven schaute im PC nach. »Müsste jede Minute rauskommen.«
»Okay, prima, kassierst du den Kunden ab und passt auf Snørre auf?« Sven hatte sich inzwischen mit vielen Leckerchen Snørres Zuneigung gesichert, und der Hund wedelte mit dem Schwanz, als Sven seine Hände nach ihm ausstreckte.
»Klar doch!« Er grinste, und ich ging zu der Tür, hinter der Hendrik gerade tätowierte.
»Lara?«, flüsterte Sven.
»Hm?«
»Ich bin froh, dass du hier bist.« Sven zwinkerte mir zu, hob dann Snørres Pfote und winkte mit ihr. Ich lächelte und atmete nochmal tief durch. Als ich hörte, wie Hendrik drinnen die Anweisung für die Versorgung des Tattoos gab, umklammerte ich den Zettel in meiner Hand noch etwas fester.
Die Tür öffnete sich, und ein älterer Herr kam heraus. Ich bedeutete ihm stumm, nach vorn zu gehen, schlüpfte anschließend durch die Tür in den Raum, schloss sie hinter mir und lehnte mich von innen gegen das Türblatt. Hendrik, der noch die Maschine auseinandernahm, drehte sich um. Sein Gesicht zeigte keine Regung, und ich wurde noch nervöser.
»Lara, was gibt es?«, fragte er schließlich und sortierte seelenruhig seine Sachen weiter.
»Du musst mir etwas tätowieren.«
Nun stockte er und sah mich ungläubig an. »Ich habe gleich den nächsten Kunden, und von Schnellschüssen halte ich nichts, das weißt du. Denk nochmal drüber nach und lass dir von Sven einen Termin geben.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht und ich bin mir sicher. Sehr sicher! Es ist quasi ein Notfall.«
Ich ging einfach zu der Liege und setzte mich darauf.
»Was denn überhaupt?«, fragte er sichtlich verwirrt, und ich musste mich zusammenreißen, meine Hand nicht nach ihm auszustrecken. Stattdessen reichte ich ihm den Zettel.
Mit gerunzelter Stirn faltete er ihn auseinander. Und als seine Mundwinkel leicht nach oben wanderten, fiel mir schon mal ein riesiger Brocken vom Herzen.
»Ich denke, in diesem Fall mache ich eine Ausnahme. Wo soll es denn hin?«, fragte er und griff zu der Maschine.
Ich zuckte mit den Schultern. »Kannst du dir aussuchen.«
»Hm, wie wäre es mit der Stirn? Dann denkst du zumindest immer dran, wenn du in den Spiegel schaust.«
Mein Herz hüpfte, als er die Maschine einschaltete. Er sah mich an, lächelte und ließ sie sinken.
»Ich hätte mich auch anders verhalten sollen, damals schon«, begann er. »Aber ich wollte nicht …«
Meine Finger krallten sich in sein T-Shirt, und ich zog ihn zu mir. »Du kannst dir mein Design auch tätowieren, ich verkauf dir die Lizenz daran.«
»Würde bestimmt gut laufen«, murmelte er. Der Zettel segelte zu Boden, und ich erhaschte einen letzten Blick darauf: Ich war eine Idiotin, bitte gib mir noch eine Chance.
»Vielleicht hätte ich nicht gendern sollen oder Idiot*in verwenden sollen, dann wäre es noch allgemeingültiger …«, war das Letzte, was ich sagte, ehe seine Lippen meine trafen, und plötzlich war ich mir sicher, dass auch all die anderen Dinge sich regeln würden.