Drei
Die Sorge stand den Eheleuten ins Gesicht geschrieben. Das Handy des Mannes klingelte zweimal, während sie Konráð ihr Problem schilderten, doch er ging nicht ran, warf nur kurz einen Blick auf das Display und sprach weiter. Konráð konnte ihre Not gut nachvollziehen, doch er war nicht sicher, ob er ihnen weiterhelfen konnte. Er wusste, wer diese Leute waren, aber er kannte sie kaum. Die Frau war eine alte Bekannte von Erna gewesen, Konráðs Ehefrau, doch Konráð selbst hatte nie groß mit ihnen zu tun gehabt. Und jetzt hatte der Mann ihn auf einmal angerufen und um ein Treffen gebeten. Sie hätten Schwierigkeiten mit ihrer Enkeltochter und seien auf der Suche nach gutem Rat. Sie wussten, dass Konráð lange bei der Kriminalpolizei gewesen war, und obwohl er sich mittlerweile im Ruhestand befand, waren sie überzeugt, dass er sich mit den Dingen auskannte, in die ihre Enkeltochter sich verstrickt hatte und die für sie selber ein Buch mit sieben Siegeln waren. Nur weil der Mann nicht lockerließ, hatte Konráð sich auf das Treffen eingelassen. Erna hatte immer gut von der Frau gesprochen, sie sei so liebenswürdig, und er erinnerte sich dunkel daran, dass sie ihre Tochter durch einen Autounfall verloren und daraufhin ihre Enkeltochter großgezogen hatten.
Sie sagten gleich, sie wollten ehrlich sein. Sie hätten sich nicht an die Polizei, sondern an Konráð gewandt, um zu verhindern, dass die Medien Wind von der Sache bekämen. Die Frau war auf der politischen Bühne präsent gewesen, und auch wenn das jetzt schon eine Weile her war, befürchteten sie, die Klatschpresse auf den Plan zu rufen, wenn diese Sache bekannt würde. Sie hätten den Eindruck, dass von der Polizei häufiger mal Informationen durchsickerten. Aber Konráð dürfe sie nicht falsch verstehen. Wenn er der Ansicht sei, sie sollten sich an die Polizei wenden, würden sie das natürlich sofort tun.
»Es ist so«, begann der Mann, »dass wir schon mehrere Tage nichts mehr von ihr gehört haben. Entweder ist ihr Akku leer oder sie hat das Handy nicht bei sich, jedenfalls ist sie nicht zu erreichen. Das ist natürlich auch früher schon mal vorgekommen, aber noch nie so lange, und außerdem …«
»Wir haben kürzlich erfahren, dass sie eine Art Kurier ist, oder wie man das nennt«, schaltete sich die Frau ein und warf ihrem Mann einen Blick zu. »Sie wurde zwar nicht vom Zoll erwischt oder dergleichen und sie sagt auch, dass sie es nur dieses eine Mal für irgendwelche Leute getan hat, die sie nicht nennen wollte, aber auch das kann gelogen sein. Wir glauben ihr nichts mehr. Nur … das war etwas Neues, diese Sache mit dem Drogenschmuggel.«
Die Frau wirkte frustriert, aber ihr war anzusehen, dass sie sich ernsthaft Sorgen um das Mädchen machte. Vielleicht gab sie sich selbst die Schuld daran. Vielleicht hatte sie zum Höhepunkt ihrer politischen Karriere keine Zeit für das Mädchen gehabt. Vielleicht hatte sie nie den Platz der verlorenen Tochter einnehmen können.
»Könnte sie das Land verlassen haben?«, fragte Konráð.
»Möglicherweise hat sie ihren Pass dabei«, sagte die Frau. »In ihrem Zimmer finden wir ihn nicht. Das wollten wir dich auch bitten herauszufinden. Wenn du die Möglichkeit dazu hast. Wir erhalten von den Fluggesellschaften keine Auskunft.«
»Ich denke, ihr solltet euch tatsächlich an die Polizei wenden«, sagte Konráð. »Ich …«
»Aber wir wissen noch nicht einmal, an wen wir uns wenden sollten. Das Mädchen weiß nicht, was es da tut, schmuggelt Drogen ins Land und … Wir möchten nicht, dass sie verhaftet wird und ins Gefängnis kommt«, sagte die Frau. »Wir wissen, dass sie diese Sachen auch konsumiert. Zuerst war es der Alkohol. Jetzt ist es das. Wir kommen mit dem Mädchen einfach nicht zurecht. Sie ist so schwierig. Ein wahnsinnig schwieriger Charakter.«
»Reist sie viel?«
»Nein, nicht besonders. Sie hat ein paar Wochenendtrips mit ihrem Freund gemacht.«
»Wir dachten, dass du vielleicht mit ihm reden könntest«, meldete sich der Mann wieder zu Wort. »Er war noch nie hier, wir haben ihn noch nie gesehen, aber wir haben darüber nachgedacht, ob er vielleicht derjenige ist, der sie so ausnutzt.«
»Sind sie schon lange zusammen?«
»Wir haben vor ein paar Monaten von ihm erfahren«, sagte die Frau.
»Wohnt sie denn noch bei euch?«, wollte Konráð wissen.
»Nur theoretisch«, sagte die Frau. Sie holte ein Foto des Mädchens hervor und gab es Konráð. »Wir zahlen dir auch etwas für den Aufwand. Es ist so furchtbar, sie bei diesem Pack zu wissen und ihr nicht helfen zu können. Sie entscheidet natürlich selbst, was sie tut, sie ist zwanzig und wir haben ihr nichts mehr zu sagen, aber …«
»Selbst wenn ich sie finden sollte, läuft sie doch gleich wieder weg«, sagte Konráð und betrachtete das Foto.
»Ich weiß, aber wir wollen versuchen … Wir wollen wissen, ob es ihr gut geht. Ob wir etwas für sie tun können.«
Konráð konnte ihre Sorge gut nachvollziehen. Während seiner Zeit als Kriminalpolizist hatte er Eltern in derselben Situation kennengelernt. Eltern, die ihr Bestes gaben und trotzdem mit ansehen mussten, wie ihr Kind immer tiefer in den Sumpf aus Alkohol und Drogen sank, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten. So etwas belastete die Familien sehr. Viele gaben es nach etlichen gescheiterten Hilfsversuchen irgendwann auf. Aber manchmal gelang es auch, das Kind aus der Misere zu befreien und auf einen besseren Weg zu führen.
»Hat sie den Drogenschmuggel denn zugegeben?«, fragte Konráð und steckte das Foto ein.
»Das musste sie nicht«, antwortete der Mann.
»Genau deshalb machen wir uns ja solche Sorgen«, sagte die Frau. »Möglicherweise ist sie in etwas hineingeraten, das sie nicht mehr unter Kontrolle hat.« Verzweifelt sah sie Konráð an.
»Ich habe sie auf der Toilette überrascht. Vor drei Tagen. Sie war gerade aus Dänemark zurück und hatte offenbar vergessen, die Tür abzuschließen. Ich wusste ja gar nicht, dass sie auf der Toilette war, als ich reinkam und sie sich dieser Dinger in die Toilette entledigte. Präservative, die … die sie in ihrer Vagina versteckt hatte … Das war … es war furchtbar, das zu sehen.«
»Und seitdem ist sie verschwunden«, sagte der Mann.