Fünf
Eine halbe Stunde später wimmelte es im und ums Haus von Polizisten. Die Spurensicherung sperrte den Eingangsbereich ab, die Treppe in den Keller, den Gang dort unten und den Raum, in dem das Mädchen lag. Niemand durfte mehr hinunter, außer dem Arzt, der das Mädchen für tot erklärte. Geduldig warteten Marta und ihr Team, während die Spurensicherung ihre Arbeit machte. Ein Krankenwagen stand bereit, um die Verstorbene ins Leichenschauhaus der Uniklinik zu bringen. Alles deutete auf einen Unfall hin – das Mädchen war wohl an einer Überdosis gestorben. Doch die Spurensicherung musste alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Konráð berichtete Marta von seinem Gespräch mit den Großeltern des Mädchens, die sich ihm wenige Stunden zuvor anvertraut und besorgt von den Ausschweifungen ihrer Enkelin erzählt hätten, die offenbar auch in den Schmuggel von Drogen involviert gewesen sei. Aus persönlichen Gründen hätten sie sich gescheut, die Polizei einzuschalten, wahrscheinlich hatten sie gehofft, sie doch noch zur Vernunft zu bringen. Und dann sei das Mädchen verschwunden. Von der Drogenfahndung habe Konráð die Adresse eines gewissen Lárus Hinriksson erhalten und beschlossen, sie auf dem Heimweg kurz zu checken – mit diesem Ergebnis.
»Freunde?«, fragte Marta. Sie standen im Treppenhaus und sahen der Spurensicherung zu. Die Bewohner des Hauses kamen nach und nach von der Arbeit zurück und durften schon bald in ihre Wohnungen, mit zum Bersten vollen Bónus-Supermarkt-Tüten in den Händen und Kindern im Schlepptau, die wie ihre Eltern mit offenen Mündern den Trubel begafften. Kriminalpolizisten arbeiteten sich durchs Treppenhaus und klopften an Türen, um die Mieter des Kellers ausfindig zu machen. Die Eigentümerin des fraglichen Kellerraums wohnte im ersten Stock, schien jedoch nicht zu Hause zu sein.
»Ja, sie war eine Freundin von Erna«, sagte Konráð. »Ich kenne diese Leute kaum. Eigentlich gar nicht.«
»Möchtest du vielleicht mit ihnen reden?«, fragte Marta. »Es ihnen sagen?«
»Nein«, antwortete Konráð nachdenklich, »das macht ihr besser auf dem offiziellen Weg.«
»Nicht schön, ihnen diese Nachricht zu überbringen.«
»Was das angeht, haben sie ihre Erfahrungen.«
»Ach ja?«
»Vor Jahren haben sie durch einen Autounfall ihre Tochter verloren«, sagte Konráð. »Die Mutter des Mädchens. Sei nett zu ihnen.«
»Himmel noch mal …«, stöhnte Marta.
Konráð schilderte einem ihm unbekannten Polizisten, was er mit der ganzen Sache zu tun und wie es ihn in besagten Keller verschlagen hatte. Der Mann war ziemlich pedantisch, daher brauchte es seine Zeit, bis das Protokoll fertig war. Ungeduldig wartete Konráð darauf, endlich loszukönnen. Er wollte so schnell wie möglich aus der Sache raus sein, den Fall der Polizei überlassen, und er bereute es, dass er sich in das Leben der Leute und des toten Mädchens hatte hineinziehen lassen. Er hatte zwar tiefes Mitleid mit den beiden, doch es war nicht seine Aufgabe, ihnen jetzt beizustehen.
Als er sich endlich von Marta verabschiedet hatte und im Auto saß, fiel ihm das Telefonat mit Eygló wieder ein. Sie schien wirklich etwas auf dem Herzen zu haben, was gar nicht typisch für sie war. Sie kannten sich noch nicht lange, hatten sich bloß einige Male getroffen und über Konráðs Vater gesprochen, nachdem sein Interesse am Schicksal seines Vaters erwacht war. Konráðs und Eyglós Väter hatten sich während der Kriegsjahre kennengelernt und gemeinsam spiritistische Sitzungen veranstaltet, die nicht ganz koscher gewesen waren, bis der Betrug schließlich aufgeflogen war.
Engilbert, Eyglós Vater, nahm sich die Sache damals sehr zu Herzen und brach jeglichen Kontakt zu Konráðs Vater ab. Die Jahre vergingen. Wenige Monate nach dem Tod von Konráðs Vater stürzte Engilbert ins Meer. Seine Leiche wurde am Hafen Sundahöfn gefunden. Ob es sich um einen Unfall oder um Selbstmord gehandelt hatte, konnte nie geklärt werden. Vor Kurzem hatte Konráð erneut Kontakt zu Eygló aufgenommen, nachdem er im Nachlass seines Vaters einige wenige Unterlagen gefunden hatte, die ihn auf den Gedanken brachten, dass die beiden ihre betrügerischen Geschäfte damals wieder aufgenommen hatten. Eygló hielt diesen Verdacht für völlig ausgeschlossen.
Sie hatte Konráð noch nie zu sich nach Hause eingeladen, bisher hatten sie nur telefoniert oder sich in Cafés getroffen, meist auf seinen Wunsch hin. Anfangs war sie nicht gerade erpicht auf diese Treffen gewesen, wollte nicht über ihren Vater sprechen, und Konráðs Vater verabscheute sie regelrecht, denn sie gab ihm die Schuld am schlechten Befinden und dem schlimmen Schicksal ihres Vaters. Doch mit der Zeit war sie milder geworden, und Konráð merkte, dass sie sich auch ihm gegenüber anders verhielt, als täte es ihr gut, endlich mit jemandem über ihren Vater sprechen zu können.
Konráð hielt vor dem kleinen Reihenhaus in Fossvogur. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, und er sah einen Schatten am Fenster – wahrscheinlich Eygló, die ihn erwartete. Als er die wenigen Stufen zum Eingang hinaufstieg, öffnete sich bereits die Tür und Eygló bat ihn herein. Zarter Räucherstäbchenduft empfing ihn, und aus dem Wohnzimmer drang Musik, so leise, dass sie kaum zu hören war. Konráð hatte Eygló noch nie anders als schwarz gekleidet gesehen, und auch diesmal trug sie einen schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und ein silbernes Kreuz um den Hals. Sie hatte schwarzes Haar und war hübsch, war in den Sechzigern, wirkte aber mindestens zehn Jahre jünger. Ihr Gesicht war fein, mit forschen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Konráð ging davon aus, dass sie ihr Haar färbte, und überlegte, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie es nicht mehr täte. Erna hatte sich nie die Haare gefärbt, sondern der Natur ihren Lauf gelassen.
»Entschuldige mein Drängen, aber ich muss unbedingt mit dir reden«, sagte Eygló und führte ihn ins Wohnzimmer. »Wo warst du denn?«, fragte sie dann und schnaubte leise. »Kommst du von der Müllkippe?«
Offenbar war ihr der Gestank aus dem Keller in die Nase gestiegen, der noch an seiner Kleidung hing. Er wusste, dass sie wie ihr Vater als Medium gearbeitet hatte, und überlegte, ob ein feiner Geruchssinn in diesem Metier wohl von Vorteil war. Aber wahrscheinlich waren dabei alle Sinnesorgane auf die eine oder andere Weise nützlich.
Konráð sah keinen Grund, ihr zu verheimlichen, woher er kam, und erzählte ihr von dem Ehepaar, dem Mädchen und dessen Schicksal, und dass Eygló ihn genau in dem Moment erwischt hatte, als er vor der Leiche stand.
»Das tut mir leid«, sagte sie erschrocken. »Ich habe in einem ungünstigen Moment angerufen.«
»Ja, nein, ist schon in Ordnung«, versuchte Konráð sie zu beruhigen.
»Hat das arme Ding eine Überdosis genommen?«
»Sieht so aus«, sagte Konráð. »Das wird noch genauer untersucht. Worüber wolltest du denn reden?«
Eygló berührte das Silberkreuz, das sie um den Hals trug, scheinbar ohne darüber nachzudenken, so als hätte es eine beruhigende Wirkung auf sie.
»Eigentlich geht es um zweierlei«, sagte sie so leise, dass Konráð sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Das eine ist etwas, das ich gestern gehört habe und kaum glauben kann. Und dann ist da noch ein Mädchen, dem ich mit zwölf begegnet bin, an das ich mich wieder erinnert habe, und …«
Sie sah Konráð an.
»Ich habe eine Sitzung abgehalten – das habe ich ewig nicht mehr getan.«