Neunzehn
Kurz nach Mitternacht rief Marta Konráð an. Sie war immer noch im Haus der Großeltern, wo sie zahlreiche Beutel mit einer Flüssigkeit gefunden hatten, in der Drogen aufgelöst waren. Sie befanden sich in einer Sporttasche der Verstorbenen, die im obersten Fach ihres Kleiderschranks nicht besonders gut versteckt war. Danní hatte nicht nur in ihrem Körper Drogen geschmuggelt, sondern auch in ihrem Gepäck. In der Tasche befanden sich auch Päckchen mit Kokain und Ecstasy oder MDMA sowie Tüten mit Anabolika-Tabletten. Der Wert belaufe sich auf Millionen, wenn nicht zigmillionen Kronen, sagte Marta am Telefon und atmete laut aus.
»Was treibst du eigentlich ständig hier?«, fragte sie schließlich. Er hörte, dass sie rauchte, und sah sie vor sich, vor dem Haus des Ehepaars mit einer ihrer dünnen Menthol-Zigaretten. Sie klang müde und gereizt, es war spät und sie hatte keine Lust mehr, wollte nach Hause.
»Keine Ahnung, Marta, die lassen mich einfach nicht in Ruhe«, erklärte Konráð. »Das ist keine Kleinigkeit, was das Mädchen da ins Land geschmuggelt hat.«
»Nein, wirklich nicht. Wir haben einen Trolley gefunden, der so umgearbeitet wurde, dass sie den Stoff darin verstecken konnte. Es ist ein Wunder, dass sie nicht erwischt wurde. Sie ist ein großes Risiko eingegangen.«
»Laut den Großeltern ist sie die Kurierin gewesen. Das hat sie ihnen gestanden.«
»Die armen Leute sind fix und fertig. Aber wir wissen nicht, ob das Mädchen nur die Kurierin war oder ob sie für sich oder diesen Lassi geschmuggelt hat. Irgendwie müssen sie das alles finanziert haben, aber es sieht nicht so aus, als hätten sie viel Geld gehabt. Wir müssen den Jungen so schnell wie möglich finden. Die Drogenfahnder legen sich ins Zeug, aber sie kommen nur langsam voran. Er scheint untergetaucht zu sein. Der Wohnblock wird überwacht, aber er lässt sich nicht blicken.«
»Glaubst du immer noch, ihr Tod war ein Unfall?«, fragte Konráð.
»Danach sieht es zumindest aus«, sagte Marta. »Aber die Sache mit dem Schmuggel weckt natürlich unser Interesse. Die Spurensicherung sieht sich ihr Handy an und guckt, ob da noch etwas zu holen ist.«
»Die Nachrichten von Lassi klangen ziemlich verzweifelt. Eigentlich ist doch klar, dass sie den Stoff abliefern sollte, es aber nicht getan hat, oder?«
»Denkbar.«
»Warum hat sie es nicht getan?«
»Die Jungs von der Drogenfahndung sind hier und wir haben schon überlegt, diejenigen, denen der Stoff gehört, damit hervorzulocken. Wenn er nicht doch ihr gehörte. Wir überlegen, von ihrem Handy aus eine Nachricht an Lassi zu schicken. Zeit und Ort vorzuschlagen und zu gucken, ob wir so an ihn rankommen.«
Sie überlegten noch eine Weile weiter, bis Marta ihre Zigarette ausdrückte. Sie wollte nach Hause fahren. Konráð erinnerte sie daran, dass sie schnell sein mussten, wenn sie die Beteiligten in die Falle locken wollten. Noch kannten nur wenige die näheren Umstände von Dannís Tod, doch so etwas sprach sich schnell herum. Marta fragte nur, warum er diese Entscheidungen nicht ihr überlasse und stattdessen lieber schlafen ginge.
Doch ans Schlafen war nicht zu denken. Konráð saß am Esszimmertisch über den Zeitungsartikeln seines Vaters und dachte an den Besuch bei dem Lehrer, der einst Dichter gewesen war und die Leiche des Mädchens an der Brücke gefunden hatte. Konráðs Frage nach der Puppe hatte ihn sichtlich überrumpelt. Nach einigem Zögern und Nachdenken hatte er gesagt, er habe sie in den Händen der Mutter in der Baracke gesehen. Er gehe davon aus, dass sie nicht mehr existiere, sondern irgendwann auf der Müllkippe gelandet sei. Das sah Konráð anders. Dinge, die mit solch tragischen Ereignissen verknüpft waren, hatten nicht selten ein Leben nach dem Tod, und er überlegte, ob er die Spur der Mutter in Keflavík verfolgen sollte. Mit Eygló hatte er seit ihrem Disput wegen ihrer Väter nicht mehr gesprochen. Konráð wollte sich bei ihr melden und ihr seinen Standpunkt besser erklären, doch damit wartete er lieber noch, bis die größte Wut verflogen war.
Während er die Unterlagen seines Vaters durchgegangen war, hatte er versucht, sich zu erinnern, ob er vor seinem Tod von Medien oder Sehern und einer erneuten Zusammenarbeit mit Eyglós Vater gesprochen hatte, doch ihm fiel nichts ein. Zugegebenermaßen war sein Gedächtnis zu jener Zeit nicht gerade das verlässlichste gewesen. Vieles war verschwommen, wie im Nebel. Er hatte damals viel getrunken und war wütend auf seinen Vater und auch auf seine Mutter gewesen, die ihn so jung in Reykjavík zurückgelassen hatte, als sie mit Konráðs Schwester in die Ostfjorde gezogen war. Und nicht nur sein Gedächtnis war schlecht, auch die Beziehung zu seinem Vater war zuletzt nicht gut gewesen. Konráð hatte nichts mehr von seinem Vater wissen wollen, hatte sich tagelang nicht zu Hause blicken lassen, sondern bei Freunden übernachtet, bei Mädchen, die er kennengelernt hatte, oder in irgendwelchen Treppenhäusern. Damals wurden die ersten Wohnblocks im Reykjavíker Osten gebaut, wo man ungestört ausschlafen konnte, wenn man schon mal so weit draußen war.
Eines der letzten Dinge, die er für seinen Vater getan hatte, war, ihn zu einem Wirt zu begleiten, der Schulden bei ihm hatte. Ansonsten spielte er zu jener Zeit nicht mehr den Handlanger bei seinen zwielichtigen Geschäften. Konráðs Vater bezog in großem Stil Alkohol von der Besatzung der Handelsschiffe oder den Soldaten auf der Militärbasis in Keflavík und verkaufte ihn weiter, sowohl an Privatpersonen als auch an Gastwirte in Reykjavík und Umgebung. Svanbjörn war einer davon. Den Alkohol bekam er in Literflaschen, in Gallonen- oder 25-Liter-Kanistern, mit einem Alkoholgehalt von bis zu neunzig Prozent. Konráð half ihm dabei, ihn bis zu einer bestimmten Prozentzahl zu verdünnen und in normale Flaschen abzufüllen, um mehr daran zu verdienen – meistens in ihrer Kellerwohnung, wo es zwischenzeitlich wie in einer mittelgroßen Brauerei aussah. Von dort aus fuhren sie den Alkohol dann zu den Kunden. Konráðs Vater hatte kein eigenes Auto, doch ein Freund fuhr einen kleinen Lieferwagen, eine laute britische Schrottkiste, und bekam dafür einen Teil des Gewinns.
Manchmal musste Konráðs Vater mehrmals und mit Nachdruck eintreiben, was ihm zustand. Wer um eine Frist bat, musste hohe Zinsen zahlen. Besagter Svanbjörn hatte mal wieder nicht pünktlich bezahlt, und Konráðs Vater verlor die Geduld. Er stattete dem Mann einen Besuch ab und nahm Konráð mit, um ihm zu demonstrieren, dass man sich nicht auf der Nase herumtanzen ließ, wie er es formulierte.
Sie trafen Svanbjörn hinter einem seiner beiden Restaurants, das in der ersten Tageshälfte geschlossen war. Svanbjörn war im selben Alter wie Konráðs Vater, aber klein gebaut, langsam und schwächlich, und sah mit den tiefen Ringen unter den Augen irgendwie krank aus. Er hatte lange auf Hochseeschiffen gekocht und schien aus alter Gewohnheit auch jetzt noch zu schwanken. Er brachte gerade den Müll raus, war sichtlich erschrocken angesichts des Besuchs und sagte sofort, er habe gerade kein Geld. Das glaubte Konráðs Vater ihm gern, und schon flogen dem Wirt wüste Beschimpfungen um die Ohren.
»Du hältst das Maul und zahlst, was ich dir sage!«, schrie er erbost, als Svanbjörn wegen der Zinsen protestierte, die noch obendrauf kamen.
»Ich habe das Geld gerade nicht hier«, wiederholte Svanbjörn. »Kommt später wieder her, dann zahle ich.«
»Ja sicher. Schick uns doch eine Einladung! Irgendwann, wenn es dir passt! Hältst du mich für einen Idioten? Du zahlst jetzt, oder ich stecke deine Scheißspelunke hier in Brand!«
»Es … es läuft in letzter Zeit nicht so gut bei mir«, sagte Svanbjörn zögernd und mit dünner Stimme. Es war, als hätte er bereits Bekanntschaft mit der Wut gemacht, die aus Konráðs Vater ausbrechen konnte, und fürchtete sie. »Ich werde … in drei oder vier Tagen habe ich das Geld zusammen. Ich schwöre, und …«
Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Konráðs Vater schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht.
»Ich habe keine Lust, mir diesen Unsinn anzuhören«, brüllte er.
Svanbjörn sah Vater und Sohn abwechselnd an. Blut rann aus seinem Mund, und er spuckte auf die Straße.
»Ich habe nichts bei mir«, sagte er. »Das hier ist völlig unnötig.«
»Unnötig? Findest du? Findest du es auch unnötig, zu zahlen, was du kaufst? Du schuldest mir drei Lieferungen. Findest du das in Ordnung? Findest du das wirklich in Ordnung?«
Svanbjörn antwortete nicht, und Konráðs Vater ging schlagend und tretend auf ihn los, stieß ihn zu Boden und wollte weiter auf ihn einprügeln, doch Konráð hielt seinen Vater fest und fuhr ihn an, er solle aufhören. Er musste alle Kraft aufwenden, um ihn festzuhalten, und schließlich drückte er ihn an eine Hauswand, bis er sich beruhigte. Unterdessen rappelte Svanbjörn sich wieder auf.
»Verdammtes Scheusal«, murmelte er. »Ein verfluchtes Scheusal bist du!«
»Zahl deine Schulden, du Flasche!«, brüllte Konráðs Vater und versuchte sich loszureißen, um weiter auf den Mann einzuschlagen.
»Hast du nicht wenigstens ein bisschen was da?«, fragte Konráð den Gastwirt.
»Ich will nicht ein bisschen was«, schrie der Vater. »Ich will das Geld jetzt haben, oder ich bringe ihn um! Lass mich los, Junge! Lass los! Was soll das? Lass mich los, du dummer Bengel!!«
Konráð ließ seinen Vater los. Er hatte sich noch kaum beruhigt und sah Svanbjörn hasserfüllt an.
»Ich komme morgen wieder, und dann hast du das Geld zusammen, du Schwachkopf. Verstanden?«
Svanbjörn murmelte etwas, das Konráð nicht verstand, und so ließen sie ihn dort hinter der Kneipe stehen. Am nächsten Tag stattete Konráðs Vater Svanbjörn mit seinen Freunden einen Besuch ab. Was genau sich zwischen ihnen abspielte, wusste Konráð nicht. Am Abend kam der Vater triumphierend und mit Scheinen wedelnd nach Hause, die Svanbjörn ihm gegeben habe, fast die gesamte Summe. An diesem Abend war er blendender Laune. Und seine Knöchel waren wund.
Am selben Abend brannte ein Lokal des Gastwirts komplett herunter. In den Nachrichten war von Brandstiftung die Rede, doch man wisse nicht, wer dahinterstecke.
Konráðs Vater schwor hoch und heilig, dass er mit dem Brand nichts zu tun habe.
Zwei Wochen später wurde er erstochen.
Svanbjörn hatte ein Alibi. Er war zur Tatzeit mit seiner Familie in Ólafsvík gewesen.