Achtundzwanzig
Sie öffnete die Augen und starrte an die Decke, der Anstrich blätterte ab, und alle möglichen Formen und Farben tanzten vor ihren Augen und verwandelten sich in Bilder, wie von einem unsichtbaren Beamer an die Wand geworfen. Ein kleiner weißer Hund stand auf den Hinterbeinen und spielte mit zwei Kätzchen, erinnerte sie an den wuscheligen Hund, den sie mal hatte, bevor er von einem Auto platt gefahren wurde, auf der Straße lag er, ein Beinchen in die Luft gestreckt, und zuckte furchtbar im Todeskampf, und sie konnte nicht hinsehen, weil es so eklig und hässlich war und sie den Hund so liebte, den Papa ihr geschenkt hatte, den sie sich so gewünscht hatte und mit dem sie gerade spielte, als er auf die Straße rannte und das Auto kam und ihn platt fuhr, erst mit dem Vorderreifen und dann mit dem Hinterreifen, aber trotzdem war noch Leben in ihm, und er zuckte, als riefe er um Hilfe, doch sie konnte ihm nicht helfen, denn er war mausetot, klebte platt gefahren auf dem Asphalt. Der Hundefleck an der Decke wurde immer größer, und die zitternde Pfote winkte ihr zu, und sie wusste nicht, ob sie wach oder ob das einer der furchtbaren Albträume war, die sie hatte, wenn sie runterkam, oder was auch immer gerade passierte, sie hatte das Gefühl, einer versuchte, mit ihr zu schlafen, und sie stieß ihn von sich und dämmerte wieder weg …
Als sie irgendwann später aufwachte, war sie nass geschwitzt, und an der Decke rührte sich nichts mehr, und neben ihr lag ein schlafender Mann, doppelt so alt wie sie, mit offener Hose, und sie glaubte, er hatte ihr am Morgen Tabletten gegeben. Jetzt kam es ihr wie Abend vor, vielleicht war es auch schon wieder Nacht, und sie wusste immer noch nicht, wo sie war. Irgendwer hatte gesagt, er wüsste jemanden, der etwas hat oder jemanden kennt, und sie waren hingegangen, in eines dieser Kellerlöcher, das sich jemand mit dreckigen Matratzen und kaputtem Sofa und ein paar Stühlen zu eigen gemacht hatte, die Wände waren vollgesprayt mit irgendwelchen Zeichen und Symbolen, die ihr nichts sagten. Einer hatte ein Feuerzeug unter einen Löffel gehalten, und da waren zwei Spritzen gewesen und rauchende Leute und Musik, die nur aus dröhnenden Beats bestand, und jemand hatte ihr Pillen gegeben und Wodka zum Runterspülen.
Leise krabbelte sie von der Matratze, weg von dem Kerl, der neben ihr schlief, zog die Hose hoch und versuchte, nicht daran zu denken, was er ihr angetan hatte, stand auf und hielt sich den Kopf, der tierisch schmerzte, und ihr war speiübel. Das Licht einer Straßenlaterne fiel durch das schmale Kellerfenster, nur sie und der Mann waren in dem Raum, und sie hielt nach etwas Ausschau, um die Kopfschmerzen zu lindern, fiel hin und stand wieder auf und erbrach sich auf den Mann.
Bloß raus hier, an die frische Luft.
Auf einmal flog sie wieder hin und lag flach auf der Straße und wusste nicht, wieso. Sie setzte sich auf und sah, dass sie vor eine Steintreppe gelaufen war, die auf den Gehweg ragte, war mitten auf dem Laugavegur, doch sie wusste nicht, ob sie runter in die Stadt wollte oder von dort kam. Hatte keine Ahnung, wohin sie wollte, saß einfach nur da und starrte auf die Straße, es war Nacht, und sie hatte gehört, dass Danní tot war, und sie wusste nicht, was für Pillen der Mann ihr gegeben hatte, es ging ihr nicht gut, und sie würgte, aber es kam nichts, und sie saß da, ein Auto fuhr vorbei, Scheinwerferlicht fiel ihr in die Augen, und jemand machte Fotos mit seinem Handy.
Ein älteres Ehepaar blieb stehen und fragte auf Englisch, ob sie okay sei, sie halfen ihr auf und sie sagte okay, okay und stolperte los, und auf einmal hielt ein großer Wagen, und eine Polizistin stand vor ihr und leuchtete sie mit einer Taschenlampe an, sie schlug nach dem Licht und kratzte die Frau, die sie an eine Hauswand drückte, ihr Gesicht prallte dagegen, und ein Polizist warf sie zu Boden, drückte ihr das Knie ins Kreuz und riss ihre Hände nach hinten, brach ihr dabei fast die Arme, und legte ihr Handschellen an, und sie schrie die ganze Zeit wie am Spieß.
»Wir haben sie«, sagte die Polizistin ins Funkgerät, als man sie hinten im Polizeiauto fixiert hatte und sie losgefahren waren. »Ja, das ist sie. Wir müssen mit ihr in die Notaufnahme, sie hat eine schlimme Kopfverletzung.«
Es knackte im Funkgerät.
»Ja, … völlig neben der Spur«, sagte die Polizistin und drehte sich zu ihr um.
»Scheiß Bulle«, wollte sie rufen, doch sie bekam keinen Ton heraus.
Sie würgte. Blut tropfte auf den Boden, und sie hatte keine Ahnung, woher.
Am Nachmittag des folgenden Tages erfuhr Marta von der Festnahme. Bis dahin hatte man das Mädchen auf dem Dezernat in der Hverfisgata ihren Rausch ausschlafen lassen. Marta hatte die Suche nach ihr verstärkt, woraufhin die Polizisten sie in dieser üblen Verfassung auf dem Laugavegur aufgegriffen hatten. Da sie sich widersetzt und die Polizistin angegriffen hatte, waren ihr Handschellen angelegt worden.
Marta ließ sie in ihr Büro rufen, und kurz darauf erschien das Mädchen in Begleitung eines Polizisten. Sie setzte sich und guckte, als wäre sie immer noch nicht ganz zurück in dieser Welt. Sie hatte einen Verband um den Kopf und aufgeschürfte Hände von ihrem Sturz, die Wangen waren eingefallen, die Lippen rissig und ihr Blick matt. Sie war noch keine sechzehn und würde im Anschluss dem Sozialamt übergeben werden.
»Fanney? Bist du das?«, fragte Marta. Sie hatte Mitleid mit dem Mädchen. In den vergangenen zwei Jahren war dreimal nach ihr gesucht worden, alle drei Male hatte sie sich in ihrer Sucht verloren.
Das Mädchen nickte.
»Wie geht es dir denn?«
Fanney zuckte mit den Schultern. Bat um eine Zigarette.
Marta sagte dem Polizisten, dass sie allein zurechtkämen, er könne jetzt gehen.
»Ich kann dir leider nur billige Menthol-Zigaretten anbieten«, sagte sie und holte ihre Packung und ein Feuerzeug hervor. Sie öffnete das große Fenster zum Parkplatz hinter ihrem Schreibtisch, gab dem Mädchen zu verstehen, dass es zu ihr kommen sollte, und zündete zwei Zigaretten an. Sie rauchten aus dem Fenster.
»Hast du eine Freundin namens Danní?«, fragte Marta.
Fanney nickte.
»Weißt du, was mit ihr ist?«
Das Mädchen dachte kurz nach.
»Sie ist tot, oder?«, sagte sie. »Das hab ich gehört.«
Marta nickte. »Wir glauben, dass es ein Unfall war«, sagte sie. »Dass sie eine Überdosis genommen hat. Wart ihr gute Freundinnen?«
»Ja«, sagte Fanney zögerlich.
»Ich dachte, du kannst uns vielleicht helfen, herauszufinden, was genau passiert ist. Was meinst du? Willst du das nicht auch wissen?«
Fanney nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Bat um eine zweite.
»Hatte Danní einen Grund, sich etwas anzutun?«
»Ich weiß nicht. Ab und zu denkt man schon darüber nach.«
»Worüber?«
»Na … das zu beenden. Schluss zu machen.«
»Sie auch?«
»Klar. Irgendwann mal. Keine Ahnung. Sie hat es mir nicht gesagt.«
»Hatte jemand anders einen Grund, ihr etwas anzutun?«
»Weiß nicht. Wie meinst du das? Ist sie ermordet worden?«
»Wusstest du, dass sie Drogenkurierin war?«
»Ich weiß nur, dass sie überall Schulden hatte. Ihre Alten haben ihr nichts gegeben, und sie wollte nicht mehr bei ihnen sein. Ich weiß, dass sie nach Dänemark wollte, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Wie meintest du das? Was ist mit Danní passiert?«
»Wir wissen es noch nicht genau«, sagte Marta. »Weißt du, bei wem sie Schulden hatte?«
»Einer hieß Randver. Aber das hast du nicht von mir. Ich will keinen Stress.«
»Kennst du einen jungen Mann namens Lassi?«
»Das ist ihr Freund.«
»Sind sie ein festes Paar?«
»Ja, so was von.«
»Hatte Danní vor ihm auch schon mal einen Freund?«
»Klar, viele. Sie hatte immer irgendwen, hat die Jungs fallen gelassen und sofort wen Neues kennengelernt. Sie war ein cooles Mädchen. Lustig. Hatte immer einen schlauen Spruch parat. Hat alles Mögliche gelesen und einem davon erzählt. Hat immer geholfen, wenn es einem dreckig ging oder man geschlagen wurde oder …«
Fanney nahm den letzten Zug und schnipste die Kippe aus dem Fenster.
»Sie war echt toll. Stebbi hieß der Typ vor Lassi, aber … der war nicht so cool. Hast du schon mit dem alten Pack geredet?«
»Dem alten Pack?«
»Mit ihrer Oma? Und dem Opa?«
»Warum nennst du die beiden so? Das ist nicht besonders nett.«
»Sie hat sie selbst so genannt.«
»Danní?«
»Sie hat sie gehasst.«
»Warum sagst du das?«
»Weil es so war.«
»Weißt du, warum?«
»Sie war wütend. Irgendwann habe ich sie mal danach gefragt, aber sie wollte es mir nicht sagen, oder ich hab es vergessen. Warum willst du das wissen? Ich kann dazu nichts sagen. Weiß nichts. Nur, dass sie stinkwütend war und dass sie ihnen die Schuld an irgendetwas gab. Dass sie so war. Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.«
»Könntest du …?«
»Sprich mit Lassi. Der weiß das. Sprich einfach mit ihm. Dem hat sie alles gesagt.«