Einunddreißig
Im Krankenhaus war Ruhe eingekehrt, als Konráð aus dem Aufzug trat und zur Intensivstation lief. Auf dem Flur war kaum noch etwas los, eine einzige Krankenpflegerin oder Schwester ging still ihrer Arbeit nach und schenkte Konráð keine Beachtung. Er wollte sich als Freund der Familie ausgeben, wenn jemand fragte, doch dazu kam es nicht. Es stand auch kein Polizist vor Lassis Zimmer, obwohl er mit Drogenschmuggel und gewalttätigen Dealern zu tun hatte. Offenbar ging man nicht davon aus, dass Lassi im Krankenhaus gefährdet war, zumal angesichts der ständigen Kürzungen bei der Polizei ein solcher Luxus wie die Rund-um-die-Uhr-Bewachung eines Kleinkriminellen nicht mehr drin war.
Lassis Zustand besserte sich langsam, bald würden die Ärzte versuchen, ihn aus dem künstlichen Koma zu holen, wie Marta ihm gesagt hatte. Sie hatte wie gewohnt zum Abend hin angerufen und ihm lang und breit von Danní und Lassi berichtet und von der Freundin, die gesagt hatte, Danní habe ihre Großeltern gehasst.
»Diese netten Leute?«, sagte Konráð erstaunt.
»Die Freundin heißt Fanney, ein nettes Mädchen, aber vielleicht nicht die verlässlichste Zeugin. Völlig zugedröhnt.«
»Musst du die Großeltern nicht darauf ansprechen?«
»Wahrscheinlich sind sie mit Danní aneinandergeraten, als sie versucht haben, sie aus dem Sumpf zu ziehen. Die alte Geschichte. Wer helfen will, ist immer der Böse.«
Marta erzählte ihm von den Verhören von Randver und dessen Kumpan und dass Danní oder Lassi gedroht hatten, brisante Informationen bezüglich Randvers Tätigkeiten ins Netz zu stellen. Daraufhin sei er ausgerastet.
Lassi lag allein in einem kühlen Zimmer, hatte eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht und war an diverse Geräte angeschlossen. Medikamente tropften in seine Adern, und er trug zahllose Verbände an den Stellen, wo die Ärzte klaffende Wunden genäht hatten. Ein Pfleger verließ gerade den Raum, als Konráð hereinkam. Konráð erkundigte sich, ob der Patient irgendwelchen Besuch bekommen habe. Der Pfleger wusste es nicht, hatte gerade erst seine Schicht begonnen. Was Konráð bei Lassi wollte, dem Kronzeugen in einem Kriminalfall, interessierte den Pfleger nicht.
Konráð wusste es selbst nicht, abgesehen davon, dass er diesen Lassi wenigstens einmal sehen wollte. Der Anblick im Keller saß ihm immer noch in den Knochen, von dem Mädchen inmitten des Mülls mit der Spritze im Arm. Er dachte an ihre Schulden und den Schmuggel und an Lassi in der Gewalt dieser skrupellosen Schlägertypen und hatte unweigerlich Mitleid mit diesem Greenhorn in der Verbrecherwelt. Er sah vor sich, wie sie in die Gosse abgerutscht waren, so typisch für junge Leute, die in die Alkohol- und Drogenabhängigkeit gerieten und nicht mehr davon loskamen, die überall aneckten und sich komplett isolierten. Aus seiner Erfahrung als Polizist wusste er, dass in manchen Fällen tiefer Schmerz oder Wut hinter der Sucht steckten, Gefühle, die sich mit Drogen für eine Weile betäuben ließen. Doch diese Momente waren oft teuer erkauft durch Gewalt, Missbrauch und Prostitution.
Konráð betrachtete das malträtierte Gesicht und dachte über das Leben nach, als er es hinter sich rascheln hörte. Ein junger Mann kam zögernd herein, fragte, ob in dem Bett Lárus liege. Konráð nickte.
»Schlimm, wie er aussieht«, sagte der Mann, als er an das Bett trat.
»Und du bist …?«
»Sein Bruder«, sagte der Mann. »Glaubt ihr, er erholt sich wieder?«
»Ich bin kein Arzt«, sagte Konráð. »Ich kannte nur seine Freundin. Danní.«
»Das Mädchen, das gestorben ist?«
»Ich habe sie im Zimmer deines Bruders gefunden.«
»Aha, okay. Ich kannte sie nicht«, sagte der Mann. »Die Polizei sagt, sie waren eng befreundet.«
»Ja, das stimmt wohl.«
»Das hat er nicht verdient«, sagte der Mann und starrte Lassi an. »So schlimm er auch war – hat uns belogen und betrogen. Aber so etwas hat keiner verdient. Sieh ihn dir an. Nur weil irgendwelche Brutalos über ihn hergefallen sind.«
»Sie sagen, er hat sie um ihren Stoff betrogen.«
»Ist mir völlig egal. Das sind Tiere.«
»Das stimmt.«
»Wir hatten noch darüber gesprochen, mein Bruder und ich, dass wir sie in die Werkstatt locken und ver… Sorry, wer bist du noch mal?«
»Ein Freund von Dannís Familie«, sagte Konráð.
»Die war auch völlig neben der Spur, oder?«
»Ich denke, die beiden waren in derselben Situation.«
»Vielleicht hat auch sie das Medikament auf mich geordert.«
»Das Medikament?«
»Lassi meinte, er wäre es gewesen, aber ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, es war etwas für Epileptiker. Keine Ahnung, wie es hieß. Lyrsika? Kann das sein?«
»Lyrica wird bei Epilepsie verschrieben. Meinst du das?«
»Ja. Ich war in der Werkstatt, und es rief eine Apothekerin aus Hafnarfjörður an, dieses Epilepsie-Zeug …«
»Lyrica.«
»… genau, dieses Lyrica sei nicht da, aber sie hätte etwas Ähnliches, ob ich das nehmen oder lieber auf das andere warten wolle. Ich wusste überhaupt nicht, worum es ging, und da kam raus, dass mir ein Medikament verschrieben wurde, das ich nie bestellt oder gebraucht habe.«
»Lyrica ist bei Süchtigen beliebt«, sagte Konráð. »Hat wohl eine rauschähnliche Wirkung.«
»Das waren natürlich Lassi oder das Mädchen, haben einfach meinen Namen auf ein Rezept geschrieben. Und sicher nicht nur meinen. Lassi hat es zugegeben, als ich ihn mir vorgeknöpft habe. Sie hatten irgendeinem Arzt den Rezeptblock geklaut und seine Unterschrift gefälscht. Die kann man ja sowieso nie lesen. Er bat mich, es niemandem zu verraten.«
»Für ihren Rausch lassen sich diese Leute einiges einfallen«, sagte Konráð. »Wie ich gehört habe, waren Danní und Lassi sehr enge Freunde.«
»Ja, klar. Ich habe sie nie gesehen. In letzter Zeit hatten wir kaum noch Kontakt zu Lassi, nur als ich ihn wegen dem Medikament anrief. So ist das. All die Lügen und Tricksereien … Weißt du, was mit dem Mädchen passiert ist? Mit dieser Danní?«
»Sie glauben, sie ist an einer Überdosis gestorben. Möglicherweise versehentlich. Möglicherweise aber auch absichtlich.«
»Selbstmord?«
»Niemand weiß, was sie gedacht hat«, sagte Konráð und starrte auf die vielen Kabel und Geräte. »Bis auf Lassi, vielleicht. Wahrscheinlich ist er der Einzige, der uns das sagen kann.«
»Wenn er wieder aufwacht.«
»Ja, wenn er das hier überlebt.«
Marta hatte die Großeltern dermaßen in Aufruhr versetzt, dass sie lieber ging, bis die beiden sich etwas beruhigt hatten. Sie war auf dem Heimweg von der Arbeit bei ihnen vorbeigefahren, um ihnen mitzuteilen, was bei den Verhören herausgekommen war. Marta gab sich große Mühe, sie nicht zu verletzen, was sie mit ihrer plumpen Art dann natürlich doch tat. Sie hatte nicht vorgehabt, Fanney direkt zu zitieren, das mit dem »alten Pack« zu wiederholen und zu sagen, dass Danní sie gehasst und ihnen die Schuld an allem gegeben habe, doch die Großeltern ließen nicht locker. Vor allem die Frau wollte wissen, worauf Marta aus war, warum sie so um den heißen Brei herumschlich. Marta erklärte, sie habe mit Dannís Freundinnen gesprochen, ohne jedoch Namen zu nennen, und es habe sich herausgestellt, dass Danní gewisse Antipathien gegen ihre Großeltern gehegt habe, sie gar gehasst habe, und nun wolle sie wissen, woher das rührte, ob sie ihr Verhältnis zu dem Mädchen näher beschreiben und erklären könnten, warum sie so schlecht von ihnen sprach.
»Na ja, Danní war doch immer zugedröhnt«, sagte die Frau. »Auf so ein Gerede darf man nichts geben. Es ist doch klar, dass sie es auf uns abgesehen hatte, nachdem wir immer wieder versucht haben, ihr begreiflich zu machen, dass …«
Die Frau beendete den Satz nicht. Marta sah sich im Wohnzimmer um. Die beiden hatten zahllose Blumengrüße und Beileidskarten erhalten, die an jedem freien Fleckchen aufgestellt waren, auch von vielen bekannten isländischen Persönlichkeiten.
»Was hat sie denn genau gesagt?«, fragte der Mann mit hochgezogenen Brauen.
»Ich möchte das ungern …«
»Was? Was hat sie gesagt?«
»Na schön. Sie sagte, sie hasst euch.«
»Gott …«, seufzte die Frau.
»Und in irgendeiner Weise gab sie euch die Schuld an ihrer Situation.«
»Unsinn!«, sagte der Mann.
»Ich möchte wissen, ob ihr diese Vorwürfe erklären könnt«, entgegnete Marta. »Warum sie diese Dinge gesagt hat.«
»Das ist doch alles Unsinn!«, schnaubte der Mann mit besorgtem Blick auf seine Frau.
»Ihr müsstet doch gemerkt haben, dass …«, begann Marta, doch der Mann fiel ihr ins Wort.
»Unglaublich, dass sie so etwas gesagt haben soll. Das zeigt doch nur, wie weit es mit ihr gekommen war. Nichts weiter. Das zeigt nur, wie tief sie gesunken war.«
»Das arme Kind«, seufzte die Frau.
»Diese Freundinnen«, sagte der Mann. »Sind die auch in der Gosse? Dann sind das wohl nicht die besten Zeugen.«
»Vielleicht sollten wir lieber später weiterreden«, sagte Marta. »Wir untersuchen Dannís Tod im Zusammenhang mit dem Drogenschmuggel und ihren Kontakten zu Kriminellen, und ich brauche alle Informationen, die ich kriegen kann.«
»Wie, sind das auf einmal Mordermittlungen?!«, fragte der Mann, der Marta zur Tür begleitete.
»Noch haben wir kein Gesamtbild«, antwortete Marta ausweichend. »Durch ihre Sucht hat Danní sich Feinde gemacht.«
»Haben die in irgendeiner Weise mit ihrem Tod zu tun?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht war es auch etwas anderes. Auch ihr wollt doch sicher wissen, wie es zu ihrem Tod kam, ob es mit dem Drogenschmuggel zu tun hatte oder ob es andere Gründe dafür gab.«
»Wir wollen nur noch, dass es vorbei ist«, sagte der Mann. »Dass diese Tragödie ein Ende hat und ihr uns nicht ständig wieder aufwühlt und mit Fragen überfallt, auf die wir keine Antworten haben.«