Dreiunddreißig
Konráð sah dem Regen vor den Fenstern zu und hörte sich schweigend und aufmerksam an, was Eygló erzählte und was niemand je beweisen oder erklären konnte und die allerwenigsten wirklich glaubten, sondern als Aberglaube oder Zufall abtaten, oder gar als Wahnsinn und Geldmacherei. Eygló hatte nicht die Absicht, ihn von irgendetwas zu überzeugen. Sie erzählte einfach nur von Ebbis Tod, so wie sie auch von anderen traurigen Ereignissen in ihrem Leben berichten würde. Obwohl es Jahrzehnte her war und eine Jahrhundertwende dazwischenlag, ging ihr dieses Ereignis immer noch sehr nahe, und es fiel ihr sichtlich schwer, davon zu erzählen. Sie spürte, dass Konráð zweifelte, aber es schien ihr wichtig zu sein, dass er ihre Gefühle dennoch als aufrichtig und authentisch wahrnahm.
Sie saßen im Rathaus. Dunkle Wolken hingen über Reykjavík, kurz vor ihrem Treffen hatte es zu schütten begonnen. Eygló hatte das Rathaus vorgeschlagen, da es dort gerade eine Ausstellung mit Luftaufnahmen vom alten Reykjavík gab, die die Entwicklung der Stadt nach dem Krieg zeigte, und sie dachte, dass Konráð das vielleicht interessierte. Es gab Aufnahmen aus der Vogelperspektive von den Gehöften, auf deren Land später die Viertel Háaleiti und Breiðholt entstanden, und von den Barackensiedlungen der Briten und Amerikaner, die während des Zweiten Weltkriegs überall im Stadtgebiet entstanden waren, vom Hafen Grandi im Westen bis zum Elliðaár-Flusstal im Osten. Sie hatten sich erst die Ausstellung angesehen und dann hingesetzt, und Eygló hatte ihm von der Frau im schwarzen Kleid erzählt.
Konráð hatte vorher kurz berichtet, was seine weiteren Nachforschungen zu dem Mädchen an der Brücke ergeben hatten, und auch den Polizisten Nikulás erwähnt, der nicht gerade der sorgfältigste Ermittler gewesen und laut ehemaligen Kollegen Frauen zu nahe gekommen war, die sich daraufhin Hilfe suchend an die Polizei gewandt hatten. Als Nächstes wolle er Kontakt zu Nannas Stiefbruder aufnehmen und ihn zum Leben in der Siedlung befragen. Und nachforschen, ob er sich noch an Nannas Puppe erinnerte.
»Nanna soll eine gute Zeichnerin gewesen sein«, sagte Konráð.
»Diese Puppe geht mir nicht aus dem Sinn. Da ist irgendetwas, das ich nicht ganz verstehe, etwas …«
Eygló beendete ihren Satz nicht.
»Aber sie existiert natürlich längst nicht mehr«, sagte sie schließlich.
»Hast du noch Kontakt zu deiner Freundin?«, fragte Konráð. »Zu der Schwester des verunglückten Jungen?«
»Nein«, sagte Eygló. »Ich war nie wieder in ihrer Wohnung. Habe es mir nicht zugetraut. Das alles war so überwältigend für mich als Kind. Vielleicht hätte ich etwas sagen sollen, aber ich wusste nicht wie, und auf ein Mädchen wie mich hätte sowieso niemand gehört.«
»Dieses Ereignis hat dich ganz schön geprägt, oder?«
»Das war ein Jahr, bevor ich bei der Geburtstagsfeier das Mädchen sah, das ein ähnliches Gefühl in mir auslöste: Was ich da sah, konnte nichts Gutes verheißen. Diese Visionen gefielen mir nicht, woher auch immer sie kamen, ob es tatsächlich Wiedergänger aus einer anderen Welt waren oder nur durch Nervenimpulse hervorgerufene Einbildung, oder etwas ganz anderes … Ich wollte damit nichts zu tun haben. Das sagte ich meinem Vater. Sagte ihm, dass ich das nicht wolle. Er wollte mir helfen, damit umzugehen, doch ich sträubte mich und wurde sehr wütend, auf ihn und auch auf meine Mutter, die mich nicht verstand. Ich war so wütend wegen alldem. Das ist kein schönes Gefühl, so jung und hilflos. Generell kein schönes Gefühl.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Konráð.
»Ich habe dagegen angekämpft, ohne zu verstehen, was genau es überhaupt war.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.«
»Wut bringt niemanden weiter.«
»Und die Frau in der Wohnung?«
Er merkte, dass Eygló zögerte.
»Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass du mir hier im Rathaus davon erzählt hast?«, fragte Konráð. Er sah zu den Leuten hinüber, die sich die Fotoausstellung ansahen. Draußen prasselte der Regen auf den Tjörnin, in der Ferne waren der Skothúsvegur und die Brücke zu sehen. »Warum wolltest du, dass wir uns hier treffen? Nur um uns das alte Reykjavík anzusehen?«
Eygló lächelte matt, wusste immer noch nicht, ob sie die Kraft hatte, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, auf die niemand eine Antwort wusste.
»Weißt du, wer sie war? Die Frau im schwarzen Kleid?«
»Komm«, sagte Eygló. »Ich zeige dir etwas.«
Sie stand auf, und Konráð folgte ihr zu einem Foto, das einen Militärstützpunkt im Westen der Stadt zeigte. Die Baracken standen in ordentlichen Reihen, dazwischen schnurgerade Straßen und Kreuzungen, und wenn man ganz genau hinsah, erkannte man Autos auf den namenlosen Straßen. Eygló zeigte auf eine große Kreuzung.
»Hier ist es passiert«, sagte sie.
»Was meinst du?«
»Etwa dreißig Jahre nachdem ich die Frau in Ebbis Zimmer gesehen hatte, bin ich zum Stadtplanungsamt gegangen. Die ganze Zeit über habe ich immer wieder überlegt, wer diese Frau sein könnte, um es dann wieder weit von mir zu schieben, weil die Erinnerung so schmerzhaft war und ich das Ganze am liebsten vergessen hätte, und auch weil ich wusste, dass es nichts ändern würde, wenn ich etwas über die Frau herausfand. Es brauchte all die Jahre, bis ich mich auf den Weg machte und mit Leuten sprach, die sich mit der Stadtgeschichte auskennen, mit Abrissen und Neubauten und längst verschwundenen Orten, an die sich niemand mehr erinnert. Zum Beispiel an alte Straßenkreuzungen, wo schlimme Autounfälle passiert waren. Ich habe in alten Zeitungen gelesen und bekam Zugang zu Unfallberichten der Polizei. Dort tauchten gewisse Namen auf. Schließlich machte ich die Schwester der Frau ausfindig, die ich in dem Zimmer gesehen hatte.«
Konráð betrachtete das Foto. Es war aus einiger Höhe an einem schönen Sommertag aufgenommen worden. Häuser und Gebäude warfen dunkle Schatten auf die Straßen.
»Die Frau im schwarzen Kleid war mit einem amerikanischen Soldaten zusammen«, erzählte Eygló weiter. »Sie waren seit einigen Monaten ein Paar, über beide Ohren verliebt. Die Schwester erzählte, wie glücklich die beiden gewesen waren, dass es tiefe, aufrichtige Liebe war. An jenem Abend kamen sie von einem Soldatenball, setzten sich in einen offenen Militärjeep, und aus irgendeinem Grund fuhren sie an dieser Kreuzung zu schnell in die Kurve und der Jeep überschlug sich. Die Frau brach sich das Genick und war sofort tot. Der Soldat bekam kaum einen Kratzer ab.«
Eygló wischte einen Fussel von dem Bild.
»Ich habe mit einem alten Soldaten gesprochen, der sich noch gut an den Unfall erinnerte. Ein West-Isländer, der im Krieg herkam und bei der Militärpolizei war. Er hieß Thorson und zog nach dem Krieg ganz hierher.«
»Thorson? Ich weiß, wer das war«, sagte Konráð. »Er ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben …«
»Ja, das stimmt, davon habe ich gelesen. Ein liebenswerter Mann, und so hilfsbereit. Er wollte alles für mich tun. Er wusste das alles noch bis ins Detail. Er war am Unfallort gewesen und sagte mir, der Soldat habe es nicht überwunden, dass er seine Liebste auf diese Weise verloren hatte. Drei Wochen nach dem Unfall erschoss er sich in einer der Baracken.«
Konráð begann zu ahnen, worauf die Geschichte hinauslief.
»Viele Jahre später wurde die Siedlung abgerissen«, sagte Eygló. »Nachdem sich zehn Jahre lang arme Leute in den alten Baracken eingenistet hatten. Aber sie galten als nicht mehr bewohnbar, und da wurden sie abgerissen, und man baute Wohnblocks auf das Gelände. Ein Haus stand auf der alten Kreuzung. In die Erdgeschosswohnung zog ein junges Paar aus Reykjavík. Sie bekamen zwei Kinder. Das eine verloren sie bei einem Autounfall vor dem Haus.«
Konráð sah die sichtlich aufgewühlte Eygló an.
»Kannst du mir das erklären, Konráð?«, fragte sie. »Wenn du dafür eine Erklärung hast, würde ich sie gerne hören.«