Zweiundvierzig
Vom Friedhof aus sah man die Uniklinik Fossvogur, und Konráð beschloss, dort vorbeizufahren und sich ein Bild von Leifurs Zustand zu machen. Von Marta wusste er, dass der Lehrer auf der Intensivstation versorgt wurde und die nächsten Tage dortbleiben musste. Leifur war mehr als überrascht gewesen, als er erfuhr, wem er seine Rettung zu verdanken hatte, und wollte Konráð gern sehen. Er hatte schwere Verbrennungen an Armen und Beinen erlitten, doch er konnte von Glück sagen, dass er das Feuer an seiner Hose hatte löschen können, bevor die Rauchvergiftung ihm das Bewusstsein raubte.
Es war nur ein Katzensprung vom Friedhof zum Krankenhaus. Gar nicht so unpraktisch, dachte Konráð, und schob diesen zynischen Gedanken schnell beiseite. Dachte vielmehr an die Ironie des Schicksals, dass zwei ihm völlig unbekannte Menschen durch zwei Fälle, die nichts miteinander zu tun hatten, in sein Leben geraten waren und jetzt im selben Krankenhaus lagen, beide schwer verletzt.
Leifur war bei Bewusstsein, stand jedoch unter dem Einfluss starker Medikamente, die ihm die Schmerzen erträglicher machten. Arme und Beine waren in dicke Verbände gewickelt, und am Bett stand ein Sauerstoffgerät, das ihm das Atmen erleichterte. Es war nicht nötig gewesen, ihn länger auf der Intensivstation zu behalten, und da die Plätze dort immer knapp waren, hatte man ihn in ein normales Dreibettzimmer verlegt.
»Da bist du ja. Danke fürs Vorbeischauen«, sagte er mit schwerer Zunge, als er Konráð in der Tür stehen sah. »Die Polizei sagt, du hast mich aus dem Feuer gezogen.«
»Du scheinst glimpflicher davongekommen zu sein, als ich zu hoffen gewagt habe«, sagte Konráð.
»Das habe ich allein dir zu verdanken.«
»Du wirkst recht munter.«
»Eher aufgeputscht«, sagte Leifur mit Blick auf seine Verbände. »Um ein Haar hätte ich mich umgebracht. Bist du aus einem bestimmten Grund gekommen? Als du mich aus dem Feuer gerettet hast?«
»Es war wegen der Puppe«, sagte Konráð. »Ich habe herausgefunden, dass man sie damals dir gegeben hat.«
Leifur sah ihn fragend an, und Konráð erzählte ihm von seinem Besuch bei Eymundur.
»Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist«, sagte Leifur und blickte Konráð wie ein reuiger Sünder an. »Das hätte ich dir natürlich sagen sollen. Ich war nicht … war nicht ganz ich selbst in der letzten Zeit.«
»Jeder hat sein Kreuz zu tragen.«
»Wo ist die Puppe?«, fragte Leifur. »Sie ist zerstört, oder?«
»Nein, ist sie nicht. Ich versuche gerade, sie zu einem Beweismittel im Fall des Mädchens zu machen, aber es geht schleppend voran. Die Puppe ist bei der Polizei, aber die interessiert sich nicht wirklich dafür.«
»Als Beweismittel?«
Konráð erzählte ihm, was Eymundur über Nannas zeichnerisches Talent gesagt und dass er beobachtet hatte, wie sie Zeichnungen in die Puppe gesteckt hatte. Und tatsächlich hätten sie im Rumpf und Kopf der Puppe zwei zusammengefaltete Zettel gefunden, die nun von der Polizei untersucht würden. Mehr verriet er nicht, obwohl Leifur neugierig war und Konráð mit Fragen löcherte. Konráð antwortete ausweichend, die Polizei untersuche die Sache noch, es sei zu früh, um einzuschätzen, wie es sich weiterentwickele.
»Aber die Polizei, warum sollte sie … War es nicht einfach nur ein Unfall?«
»Ich habe mich jetzt eine Weile mit dem Fall beschäftigt, und da ist eine Sache, die ich dich eigentlich gestern Abend fragen wollte: Warum hast du die Puppe all die Jahre aufgehoben? Das wirkt fast wie eine Obsession.«
»Obsession? Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann. Sonderbarerweise ist sie in meinen Händen gelandet, und ich habe es schlicht nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen.«
»Ich sollte dich wohl besser damit in Ruhe lassen, in deinem Zustand.«
»Womit? Womit in Ruhe lassen?«
»Warum hast du mir nichts von der Puppe gesagt?«
»Ich fand … Wenn ich ehrlich bin, fand ich, das ging dich nichts an. Ich kannte dich ja gar nicht. Das war meine Privatsache.«
»Aber es wirkt, als hättest du etwas zu verbergen.«
»Bitte? Weil ich ein Privatleben habe?«
»Du bist der einzige Zeuge«, sagte Konráð. »Niemand sonst war vor Ort. Du warst ganz allein.«
»Und der Mann im Mantel.«
»Das hast du erzählt. Aber außer dir hat ihn niemand gesehen. Verstehst du? Wir müssen alles glauben, was du sagst.«
»Was willst du damit sagen? Dass ich etwas mit dem Schicksal des Mädchens zu tun habe? Was …? Glaubst du, ich habe mir das alles nur ausgedacht? Ich kannte sie nicht. Hatte sie nie zuvor gesehen.«
Leifur war ziemlich aufgeregt, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, als er versuchte, sich im Bett aufzurichten. Verärgert sah er Konráð an.
»Wo hast du die Puppe aufbewahrt?«
»Im Keller. Ich hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr hervorgeholt.«
»Und warum lag sie im Wohnzimmer, als ich dich gestern gefunden habe?«
Leifur zögerte.
»Ich hatte sie raufgeholt.«
»Wozu?«
»Ich wollte sie mir ansehen«, sagte Leifur.
»Hast du deshalb Feuer gemacht? Wolltest du sie verbrennen? War das dein Plan?«
Immer noch zögerte Leifur. Die Sache mit der Puppe war ihm sichtlich unangenehm.
»Ich habe Papierkram verbrannt«, sagte er schließlich. »Alte Sachen, die ich nicht mehr haben wollte. Ich wollte … wollte verschiedene Dinge loswerden, die ich aus der Vergangenheit mitgeschleppt hatte, und ja, ich wollte auch sie loswerden. Ich wollte die Puppe verbrennen. Bist du jetzt zufrieden?«
»Nichts von alldem macht mich zufrieden«, sagte Konráð. »Es ist ein Irrtum, das zu glauben.«
»Ich glaube, genau aus diesem Grund habe ich dir nichts von der Puppe gesagt. Du hättest mir irgendeinen Unsinn angedichtet. Warum habe ich sie so lange aufbewahrt? Aus welcher Obsession heraus?«
»Ich wollte dich nicht aufregen«, sagte Konráð. »Aber das sind eben die Fakten. Es gibt nicht viele Zeugen in diesem Fall.«
»Was ist mit … mit diesem Stiefsohn?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Eine Sache ist mir noch eingefallen. Am Tag nach dem Tod des Mädchens ist er nicht bei seiner Arbeit erschienen. Wusstest du das? Sein Vater hat sich darüber aufgeregt. Er wollte ihn dort treffen oder so, und da stellte sich heraus, dass er nicht zur Arbeit gegangen war.«
»Eymundur?!«
»Heißt er so?«