Sechsundvierzig
Marta hielt vor dem Haus und dachte an ihren ersten Besuch dort, als sie die Nachricht vom Tod der jungen Frau überbringen musste. Erinnerte sich an den Blick der Großmutter, an den Moment, als der letzte Hoffnungsfunke starb und sich Trauer über das Gesicht legte, die Augen matt und leblos wurden. Sie hatte tiefes Mitleid mit ihr empfunden und sich bemüht, den Schock abzumildern, obwohl sie wusste, dass es nichts nützte. Solche Besuche blieben den Menschen auf ewig in Erinnerung.
»Und dieser vielleicht auch …«, sagte sie zu sich selbst, als sie auf die Klingel drückte. Nach einer Weile klingelte sie noch einmal, und da endlich tat sich etwas, sah sie einen Schatten hinter dem getönten Glas. Kurz darauf stand die Frau in der Tür. Sie wirkte verschlafen.
»Entschuldige die Störung«, sagte Marta und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es ging auf acht Uhr zu.
»Nein, kein Problem«, sagte die Frau und bat sie herein. »Wie spät ist es denn?«
Marta nannte ihr die Uhrzeit und entschuldigte sich noch einmal. Sie habe sich einige Dinge zu Danní notiert, die sie gern mit ihr besprechen wolle. Die Frau fragte nach, wann sie die Beerdigung vorbereiten könnten. Marta wusste es nicht, aber sie ging davon aus, dass die Untersuchung der Leiche innerhalb der nächsten Tage abgeschlossen sein würde.
Die Frau ging voran ins Wohnzimmer. Sie kam Marta um mehrere Jahre gealtert vor, als wäre sie seit ihrer ersten Begegnung ein ganzes Stück geschrumpft, ihr Rücken war krumm, und die Würde, die sie ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Sie wirkte matt und kümmerte sich nicht mehr groß um ihr Aussehen, war schlicht gekleidet und ungekämmt, als stünde ihr weniger Raum in der Welt zu als früher.
Marta hatte das Gefühl, sie hätte am liebsten weitergeschlafen, nachdem sie endlich in den Schlaf gefunden hatte. Wahrscheinlich stand sie unter dem Einfluss von ärztlich verordneten Beruhigungsmitteln.
»Ich kann dir leider nichts anbieten«, sagte die Frau leise und entschuldigend. »Ich hatte nicht mit dir gerechnet …«
»Kein Problem. Ist dein Mann zu Hause?«
»Nein, der ist unterwegs. Es geht ihm nicht gut. Er fährt viel mit dem Auto rum. Hier geht es niemandem gut. Wie sollte es auch.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Marta. Sie bemühte sich, behutsam vorzugehen. »Ich habe noch mal über Fanneys Aussage nachgedacht, die eure Enkelin ja gut kannte. Ich erlaube mir, ihre Worte ernst zu nehmen. Es ist eure Sache, wie ihr sie interpretiert, aber über zwei Dinge müssen wir reden. Warum sagt sie, Danní habe euch gehasst, und warum soll sie euch die Schuld an ihrer Situation gegeben haben?«
»Ich kenne diese Fanney nicht und weiß nicht, warum sie solche Behauptungen in die Welt setzt. Danní ging es gut bei uns.«
»Eine Entwicklung wie die, die Danní durchgemacht hat, ist kein Einzelfall«, sagte Marta. »Leider kennen wir viele solcher Geschichten, die aber zum Glück nicht alle mit einem frühzeitigen Tod enden. Mädchen, die ins Straucheln geraten. Natürlich auch Jungs. Was diese jungen Leute gemeinsam haben, ist, dass sie in Schwierigkeiten geraten sind.«
»Warum erzählst du mir das? Danní hat es bei uns an nichts gefehlt.«
»Einige dieser Kinder kommen aus sehr guten Elternhäusern. Andere aus sehr schlechten. Sie konsumieren immer mehr Alkohol und Drogen, verlieren die Kontrolle darüber und rutschen langsam ab. Andere nutzen die Drogen als eine Art Betäubungsmittel. Um der Realität zu entkommen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Das sind oft Kinder mit schwieriger Vorgeschichte.«
»Ja, aber ich verstehe nicht, warum du mir das erzählst. Vielleicht sollten wir auf meinen Mann warten. Er wird dir bestätigen, dass Danní hier behütet aufgewachsen ist und es ihr an nichts gefehlt hat.«
»Viele dieser Kinder haben schwierige Erfahrungen durchgemacht«, fuhr Marta fort. »Die Trennung der Eltern. Mobbing. Todesfälle in der Familie. Oder sie geraten in schlechte Gesellschaft. Dinge, die einen Prozess in Gang setzen, den sie kaum noch stoppen oder verlassen können.«
Die Frau hörte sich schweigend Martas Vortrag an.
»Danní hat doch ihre Mutter verloren …«, sagte Marta.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Wir sollten auf meinen Mann warten«, wiederholte sie.
»War sie zu jung, um sich an den Tod ihrer Mutter zu erinnern?«, fragte Marta.
»Ja, sie war zu jung dafür, aber natürlich wusste sie immer von ihrer Mutter und … und dass sie ein wichtiger Teil unseres Lebens ist. Wir haben die Erinnerung an sie so lebendig wie möglich gehalten.«
»Fällt dir zum Stichwort Mobbing etwas ein? In der Schule oder …?«
»Nein, nichts. Danní hat sich in der Schule immer wohlgefühlt. Aber als sie älter wurde, hat sie ihren alten Freunden den Rücken gekehrt und ihre Zeit mit Leuten verbracht, die wir nicht kennen. Sie hat sie nie mit nach Hause gebracht. Wie diese Fanney.«
Marta fand es an der Zeit, zum Punkt zu kommen. »Wir haben einen Hinweis von ihrem Freund Lassi bekommen, dass sie irgendetwas wusste und es ins Netz stellen wollte. Sagt dir das was?«
Die Frau schüttelte den Kopf, und Marta wiederholte ihre Frage so klar und deutlich wie möglich.
»Wir dachten – und das glauben wir immer noch –, dass sie die Leute verraten wollte, die hinter dem Drogenschmuggel stehen. Die sie losgeschickt und als Kurierin benutzt haben.«
Die Frau sah Marta verständnislos an.
»Doch als ich Lassi, der immer noch in kritischem Zustand im Krankenhaus liegt, danach gefragt habe, hat er deutlich gemacht, dass es nichts mit der Drogenwelt zu tun hatte, sondern dass Danní irgendetwas anderes wusste. Hast du eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?«
»Nein«, antwortete die Frau zögernd, als käme sie nicht ganz mit.
»Lassi sagte, du wüsstest, was es ist.«
»Was soll ich wissen?«
»Das Geheimnis, das sie ins Netz stellen wollte.«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte die Frau. »Ich habe keine Ahnung, was das sein sollte.«
»Falls dir doch noch etwas dazu einfällt, meldest du dich, ja? Du hast meine Nummer.«
»Natürlich.«
Marta lächelte aufmunternd und stand auf, verabschiedete sich und ging zur Tür. Sie hatte platziert, was sie loswerden wollte, und würde hier später wieder anknüpfen.
»Fräulein«, hörte sie hinter sich, als riefe die Frau in einem besseren Restaurant nach der Bedienung.
Marta drehte sich um.
»Ich möchte noch einmal sagen, dass Danní ein so … liebenswürdiges und fröhliches Mädchen war, sie konnte so aufgeweckt und munter sein. So klug und einfallsreich und … Sie war ein Traum von einem Kind. Genau wie ihre Mutter. Sie war unser Juwel, das wird sie immer bleiben. Sie war unser Traumkind, und ich wünschte, ich hätte mehr für sie tun können, ehe es … ehe das passiert ist.«
Marta nickte und setzte ihren Weg fort. Sie ahnte, dass ihr Besuch nicht vergeblich gewesen war.
Nachdem die Polizistin gegangen war, saß sie lange vor dem Telefon, bis sie sich einen Ruck gab und die Nummer wählte. Das Freizeichen kam ihr ohrenbetäubend laut vor.
»Die Polizei kommt laufend mit neuen Informationen.« Ihre Stimme überschlug sich beinahe, als der Anruf endlich entgegengenommen wurde. »Jetzt glauben sie, Danní wollte irgendetwas ins Internet stellen. Wusstest du davon?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung war ruhig und bedächtig, sie solle sich nicht so aufregen, was denn eigentlich los sei.
»Ihr Freund, dieser Lassi. Er weiß es. Sie hat es ihm erzählt. Er kommt langsam wieder zu Bewusstsein und sagt der Polizei, was er weiß. Da kannst du dir sicher sein. Was wir wissen. Was ich weiß.«
»Ich lege jetzt auf«, sagte die Stimme am Telefon, »wir reden später miteinander, wenn du dich gefangen hast.«
»Aber das meint er doch, oder? Wie es gewesen, wie es dazu gekommen ist. Meinst du nicht, das war, was sie ins Internet stellen wollte?«
Die Stimme am Telefon befahl ihr noch einmal, sich zu beruhigen, das werde schon in Ordnung kommen.
»Wusstest du das? Wusstest du das mit dem Internet?«
Sie bekam keine Antwort.
»Sag mir, dass du es nicht gewusst hast. Sag es mir!«
Jetzt wurde ihr Gesprächspartner wütend und erhob die Stimme.
»Du drohst mir nicht«, sagte die Großmutter. »Lass das … hör auf, hör auf damit … in Gottes Namen, hör auf, hör auf damit …«, weinte sie und knallte energisch den Hörer auf.