Achtundvierzig
Konráð blickte Eymundur nach, als er zurück in seine Zelle geführt wurde. Entweder wusste Eymundur wirklich nicht mehr oder er hielt Informationen zurück, um sich damit später ein milderes Urteil wegen der Körperverletzung zu erkaufen. Abgesehen von der Verknüpfung zum alten Tuberkulose-Sanatorium waren seine Auskünfte wenig hilfreich gewesen.
Konráð hatte hin und wieder mit Sexualverbrechen zu tun gehabt, bevor innerhalb der Polizei eine eigene Abteilung für diesen Bereich eingerichtet worden war. Er konnte sich an keinen Täter erinnern, auf den Eymundurs Beschreibung gepasst hätte. Es wäre eine Sisyphusarbeit, die Krankenakten vom Sanatorium mit den im Polizeiarchiv erfassten Straftätern abzugleichen, falls der Mann überhaupt jemals angezeigt worden war. Ganz abgesehen davon, dass Marta sicher nicht dazu bereit war, die Einsicht ins Archiv des Sanatoriums zu beantragen, und sie auch kein Personal für die Recherchearbeit in einen so alten Fall entbehren würde, den außer Konráð niemand interessierte. Um sie von solchen Maßnahmen zu überzeugen, müsste er ihr schon etwas Handfesteres präsentieren.
Wenn Eymundur ihm nicht sowieso nur etwas vorgelogen hatte. Konráð sah keinen Grund, diesem Mann auch nur ein Wort zu glauben, ungeachtet der Tatsache, dass er ihm den Fund der Puppe zu verdanken hatte.
Konráð stand auf dem Flur und dachte über die nächsten Schritte nach, als sein Handy klingelte. Es war Eygló. Sie fragte, ob sie sich sehen könnten, und er versprach, auf dem Heimweg bei ihr vorbeizufahren.
»Es macht auch nichts, wenn es spät wird«, sagte sie, und nach einem kurzen Moment: »Also hatten sie wieder miteinander zu tun.«
»Danach sieht es aus«, sagte Konráð, der wusste, dass Eygló von ihren Vätern sprach.
»Und sie sind Nannas Mutter begegnet.«
»Ja, in ihrem schwächsten Moment«, sagte Konráð.
»Glaubst du, sie haben die Situation ausgenutzt?«
»Während der Kriegsjahre hätten sie nicht davor zurückgeschreckt.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, seufzte Eygló und erinnerte Konráð daran, später bei ihr vorbeizukommen.
Er wusste, dass sie das Bedürfnis hatte, über ihre neuste Erkenntnis zu sprechen, darüber, dass sich die Wege ihrer Väter und der von Nannas Mutter gekreuzt hatten. Unzählige Fragen gingen ihr durch den Kopf, und sie brauchte jemanden zum Reden.
Konráð steckte das Handy in die Tasche. Unschlüssig stand er auf dem Flur, dachte an das Gespräch mit Eymundur. Er überlegte hin und her, und kam doch immer zu demselben beklemmenden Ergebnis. Er suchte nach anderen Möglichkeiten, doch die wenigen Alternativen, die er fand, waren deutlich schwerer zu realisieren. Also setzte er sich ins Auto und fuhr in Richtung Vesturbær. Er wusste noch von früher, wo der Mann wohnte, und glaubte nicht, dass er seit ihrer letzten Begegnung Ende der Achtziger umgezogen war. Soweit er wusste, war er seitdem auch nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Das Haus war ein heruntergekommenes Holzhaus, das den Eltern des Mannes gehört hatte. Es hatte eine alte Wellblechverkleidung, kleine Fenster und eine schwarz gestrichene Tür. Auf die Hauswand hatte jemand etwas gesprayt, das Konráð nicht entziffern konnte, und es schien nicht das erste Mal gewesen zu sein, denn unter dem dünnen Farbanstrich schimmerten auch ältere Schmierereien durch. Wahrscheinlich hatte der Hauseigentümer den Kampf gegen den Vandalismus irgendwann aufgegeben.
An der Tür stand kein Name, und es war kein Läuten zu hören, als Konráð auf die Klingel drückte. Also klopfte er, zuerst zart, dann lauter, doch es tat sich nichts. Er machte ein paar Schritte zurück auf die Straße und sah, dass drinnen irgendwo Licht brannte. Er lief um das Haus herum und sah auf der Rückseite ein erleuchtetes Fenster. Er nahm ein Steinchen und warf es an die Scheibe, doch wieder passierte nichts. Er warf noch eins, und plötzlich trat ein Schatten ins Licht und am Fenster tauchte ein Gesicht auf, kränklich und von zerzaustem Haar umrahmt. Konráð blieb regungslos stehen, und der Mann starrte ihn an, dann verschwand er vom Fenster. Konráð glaubte, dass er ihn erkannt hatte.
Er lief zurück zur Straße. Jetzt stand die Eingangstür einen Spalt offen. Er zögerte kurz, dann drückte er die Tür auf und ging hinein.
»Mach die Tür hinter dir zu«, wurde er im Befehlston angewiesen.
Konráð schloss die Tür und wartete darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er war schon einmal hier gewesen. Um den Mann zu verhaften und in Handschellen ins Dezernat an der Hverfisgata zu bringen. Weil er sich in Selfoss an zwei Jungen vergangen hatte. Lange Zeit war man mit Sexualdelikten grotesk nachlässig umgegangen, hatte diese Dinge totgeschwiegen. So hatte sich der Mann jahrelang ungestört in der Kinder- und Jugendarbeit tummeln können, bis endlich reagiert wurde. Doch das Urteil fiel milde aus, und damit war die Sache vonseiten der Behörden erledigt.
»Ich habe gehört, du hast bei der Polizei aufgehört.«
Die dünne, kraftlose Stimme kam aus dem Wohnzimmer. Im schwachen Licht zeichneten sich die Umrisse des Mannes ab. Er stand vor einem hohen Bücherschrank mit Glastüren, war ein schwächlicher alter Mann geworden, mit hängenden Schultern und fusseligem, unrasiertem Bart, wässrigem Blick und zotteligem Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte. Er trug einen fleckigen Bademantel und atmete schwer. Er wirkte krank, würde sicher nicht mehr lange leben.
»Das stimmt«, sagte Konráð. »Und du? Hast du aufgehört?«
»Was willst du von mir?«, fragte der Mann.
»Ich wollte dich nicht aus dem Bett scheuchen«, sagte Konráð. »Ist alles in Ordnung bei dir? Soll ich einen Arzt rufen? Du siehst nicht gut aus.«
»Nein. Da mach dir mal keine Sorgen. Was willst du?«
Darauf bekam der Mann einen heftigen, langen Hustenanfall, und als er vorüber war, bekam er immer noch kaum Luft. Nach einer gefühlten Ewigkeit fing er sich wieder und ließ sich schnaufend in einen Sessel fallen.
»Was willst du von mir?«, wiederholte er.
»Ich versuche, es kurz zu machen«, sagte Konráð, der nicht länger als unbedingt nötig in diesem Haus bleiben wollte. »Ich möchte dich etwas fragen.«
»Mich?«
»Es geht um einen Mann, mit dem ich mich befasse, der möglicherweise dieselben … wie soll ich es sagen … dieselben Neigungen hat wie du. Der genauso ein Kinderschänder gewesen ist wie du«, sagte Konráð, der keine Lust hatte, um den heißen Brei herumzureden.
Der Mann saß schweigend in seinem Sessel, in einer so dunklen Ecke, dass nur die Umrisse seines Kopfs zu sehen waren. Er atmete schwer, und Konráð vermutete, dass er auch etwas am Herzen hatte. Er hatte ernste Atemnot.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte der Mann schließlich. »Ich habe nichts mit dir zu bereden. Also … verzieh dich besser!«
»Er war krank, dieser Mann«, sagte Konráð. »Tuberkulose. Das eine Bein war befallen, deswegen hinkte er. Sagt dir das was?«
Das Atmen fiel ihm immer schwerer, und der Mann griff nach etwas, das sich als Sauerstoffgerät entpuppte. Er zupfte an einer Maske, die daran befestigt war, kriegte sie aber nicht ab. Inzwischen bekam er überhaupt keine Luft mehr. Einen Moment lang beobachtete Konráð seinen Kampf, dann ging er hin und gab ihm die Maske. Erleichtert hielt der Mann sie sich vors Gesicht und atmete tief ein und aus, bis sein Atem sich beruhigt hatte.
»Der Anblick hat dir wohl gefallen«, sagte der Mann.
»Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wer dieser Mann ist?«, fragte Konráð.
»Warum willst du das wissen?«
»Wegen eines alten Falls. Sagt dir die Beschreibung etwas?«
»Welcher Fall?«
»Weißt du, wer das ist? Kannst du mir seinen Namen nennen?«
»Welcher Fall?«
»Vor langer Zeit ist ein zwölfjähriges Mädchen im Tjörnin ertrunken. Möglicherweise hat sie ihn gekannt.«
Der Mann hatte die Maske abgenommen, doch jetzt setzte er sie wieder auf und atmete tief ein und aus. So vergingen zwei Minuten, und sie schwiegen beide. Der Mann ließ Konráð nicht aus den Augen, die Stille im Haus wurde nur von seinem angestrengten Atmen unterbrochen. Schließlich nahm er die Maske ab. Konráð sah die Erwartung in seinem Blick und wusste, was er als Nächstes fragen würde.
»Was hat er ihr angetan?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Konráð. »Vielleicht gar nichts. Warum glaubst du, dass er ihr etwas angetan hat?«
»Warum solltest du mich sonst danach fragen? Ist sie ermordet worden?«
Konráð antwortete nicht. Er bereute es, dass er hergekommen war, fühlte sich nicht wohl. Es hing ein unangenehmer Geruch in der Luft, dessen Ursprung nicht genau auszumachen war. Der Mann beugte sich vor, in seinen Blick war Leben gekommen.
»Ist sie vorher vergewaltigt worden?«
»Ich sagte, das spielt keine Rolle.«
»Hat er es getan?«
»Du willst es nicht verstehen, oder?«
»Wie?«
»Was wie?«
»Wie wurde sie misshandelt?«
Konráð verzog das Gesicht.
»Ich habe nie behauptet, dass sie vergewaltigt wurde«, sagte er und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Weißt du, wer dieser Mann ist? Wenn nicht, haue ich jetzt ab, dann kannst du hier verrecken.«
Der Mann starrte Konráð lange an, dann lehnte er sich zurück.
»Okay«, stöhnte er. »Dann eben auf deine Art. Sorry. Ich hatte lange nicht mehr solchen … Besuch.«
»Was? Wie auf meine Art?«
»Erzähl mir von ihrer Mutter«, sagte der Mann. Jetzt atmete er ruhig, die Maske lag in seinem Schoß. Die Lider sanken vor die farblosen Augen. Es sah aus, als schliefe er ein.
»Von der Mutter des Mädchens?«
»Was hat sie gemacht?«
»Sie wohnte in der Baracke Nummer 9 auf dem Skólavörðuholt und arbeitete an der Uniklinik.«
»Was hat sie dort gemacht?«
»Sie hat in der Kantine gearbeitet.«
»In der Kantine …«, wiederholte der Mann. »War sie verheiratet?«
»Sie war mit einem Mann zusammen, über den ich nur wenig weiß. Er hatte einen Sohn, der noch lebt. Er heißt Eymundur.«
»Hatte die Frau schon länger am Krankenhaus gearbeitet?«
»Das weiß ich nicht. Sicher schon eine ganze Weile.«
»Kam der Mann mit dem Tuberkulosebein irgendwann mal zu dem Mädchen nach Hause?«
»Ja. Mindestens einmal. Wer war das? Wie hieß er? Kannst du mir das sagen?«
»Was weißt du über diesen Eymundur?«
»Er hat auf Hochseeschiffen gearbeitet. Ist ein Einzelgänger. Ein brutaler Kerl.«
»Wie meinst du das? Warum brutal?«
»Im Moment sitzt er wegen Körperverletzung.«
»Greift er Frauen an?«
»Ja.«
»Wehrlose Frauen?«
»Ja.«
»Hat er auch welche vergewaltigt?«
»Nein. Nicht dass ich wüsste.«
»Wie war seine Beziehung zu dem Mädchen?«
»Er sagt, sie hatten wenig Kontakt. Fast keinen. Er hat sie wohl kaum gekannt.«
»War er älter als sie?«
»Er war sechzehn.«
»Glaubst du ihm?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
»Und der Stiefvater?«
»Über den weiß ich noch weniger«, sagte Konráð.
»Wurde der Tod des Mädchens untersucht?«
»Ja.«
»Wer hat die Ermittlungen geleitet?«
»Der Polizist hieß Nikulás.«
»Der heilige Nikolaus«, zischte der Mann. »Die Mutter arbeitete im Krankenhaus – hat sie das Mädchen dahin mitgenommen?«
»Das weiß ich nicht. Bestimmt ist das vorgekommen. Warum fragst du?«
»War sie zufrieden mit ihrer Arbeit?«
»Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.«
»Hat sie auch abends gearbeitet?«
»Das weiß ich nicht.«
»War das Mädchen gesund?«
»Ich denke schon.«
»War sie … schon geschlechtsreif?«
»Möglicherweise.«
»So jung?«
»Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Was sollte deine Bemerkung über Nikulás?«
»Das war ein absolut widerwärtiger Mensch. Korrupt. Man musste ihm nur ein paar Taler zustecken, schon hat er einen in Ruhe gelassen. Wenn das Mädchen mit der Mutter ins Krankenhaus ging … hat sie sich gesträubt? Wollte sie nicht dorthin? War es ihr egal? Wie hat sie sich verhalten?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Konráð. Dieses Verhör gefiel ihm nicht, doch er fühlte sich gezwungen, die Fragen zu beantworten. »Ich weiß nicht, ob die Mutter sie mitgenommen hat.«
»Was weißt du überhaupt?«
»Was glaubst du, warum ich gekommen bin?«, fuhr Konráð ihn an. »Ich brauche Informationen. Denkst du, ich besuche dich freiwillig in diesem Loch?«
Konráðs Worte schienen den Mann zu treffen.
»Ich erinnere mich an deinen Vater, Konráð«, sagte er und hob die halb geschlossenen Lider. »Kein angenehmer Mensch. Genauso wenig wie du. Hattet ihr eine gute Beziehung?«
»Sag mir, wie dieser Mann heißt, der …«
»War er ein guter Papa?«
Konráð antwortete nicht.
»War er lieb zu seinem kleinen Jungen?«
»Weißt du, wie der Mann heißt, den ich beschrieben habe?«
»Du hast doch eine kleine Schwester, oder?«
Konráð war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte.
»Das kleine Püppchen, das manchmal mit dem Papa allein war.«
Konráð stand auf.
»Ich höre mir diesen Schwachsinn nicht länger an.«
»Habe ich etwa einen wunden Punkt getroffen?«, fragte der Mann und atmete mühsam ein. Er hob die Maske an. »Ich bin einmal da gewesen. In eurem Keller. Hab ich dir das schon erzählt, Konráð?«
»Halt die Klappe!«
»Hieß sie Beta? Das hübsche Ding. Kann es sein, dass dein Vater sie Beta genannt hat?«
»Halt’s Maul!«
Konráð wollte nur noch weg von hier, bevor er die Kontrolle verlor. Dann konnte er für nichts mehr garantieren. Ihm war danach, dem Kerl die Sauerstoffmaske in den Rachen zu stopfen und ihm beim Ersticken zuzusehen. Selbst die wichtigste Recherche rechtfertigte es nicht, sich den vergifteten Unsinn anzuhören, der diesem Mann aus dem Mund quoll.
»War das Mädchen schwanger oder was? Ist sie deswegen mit ihrer Mutter in die Klinik gegangen? Weil sie jemand geschwängert hatte?«
Konráð ging in Richtung Tür.
»Konráð!«, rief der Mann. »Hab ich recht? War das Mädchen schwanger?!«
Konráð öffnete die Haustür.
»Konráð! Antworte mir!«
Mühsam wuchtete er sich aus dem Sessel.
»Tut mir leid, Konráð! Das war nicht nett von mir! Ich wollte deinen Vater nicht ins Spiel bringen.«
Der Mann war aufgestanden. Er war groß und dürr, der Bademantel hatte sich geöffnet und gab den Blick auf den schneeweißen, knochigen Oberkörper frei.
»Such nach Luther! Geh die Krankenakten durch!«, rief er, doch seine Stimme brach und er gab nur noch ein schrilles Fiepsen von sich.
Die Haustür knallte zu, und der Mann ließ sich murmelnd in den Sessel fallen, hielt sich die Maske ans Gesicht und saugte gierig den Sauerstoff ein, als könnte jeder Atemzug sein letzter sein.