Neunundfünfzig
Irgendwie strahlte das Haus der Großeltern nicht mehr dieselbe Würde aus wie bei Konráðs erstem Besuch. Mit den strengen Flächen, den großen Fenstern und dem Kupfer-Schrägdach war es ihm elegant vorgekommen, es passte zu diesem Viertel, in dem nur die Wohlhabenden leben konnten. Man sah dem Haus an, dass es Leuten gehörte, die Geld hatten und das auch genossen. Doch auf einmal war all dieser Glanz verflogen, und er fand das Haus nur noch hässlich, geschmacklos und sündhaft groß.
Von Erna wusste er, dass der Mann ein erfolgreicher Steuerberater und Miteigentümer einer großen Steuerkanzlei war. Vor vielen Jahren war Erna zwei- oder dreimal mit ihrer Steuererklärung zu ihm gegangen, und er hatte sich um alles gekümmert, ohne eine Krone dafür zu verlangen. »Er ist so nett«, hatte Erna gesagt. Die Frau hatte sich aus der Politik zurückgezogen, und noch im besten Alter hörte auch er auf zu arbeiten. Während der wenigen Male, die sie über die beiden gesprochen hatten, sagte Erna, sie genössen ihre finanziellen Möglichkeiten, ohne es raushängen zu lassen. Konráð merkte, dass sie ihnen Respekt entgegenbrachte. Er selbst hatte die Leute immer nur vom Hörensagen gekannt.
Inzwischen glaubte er, sie etwas besser zu kennen. Marta hatte ihn gebeten, sie zur Fortsetzung des Verhörs zu begleiten, das sie früher an diesem Tag begonnen und unerwartet abgebrochen hatte. Sie parkte ein Stück vom Haus entfernt und hoffte, dass Konráð als eine Art Freund der Familie die Frau durch seine Anwesenheit endlich zum Reden bringen würde, falls sie etwas zu verbergen hatte. Zumal sich das Ehepaar ja anfangs selbst an Konráð gewandt hatte und wenige den Fall besser kannten als er. Er war eine Art Vertrauter der beiden geworden. Konráð hatte Marta darauf hingewiesen, dass sich das gegen seinen Willen so entwickelt hatte, doch diesen Einwand ignorierte sie einfach.
Die Haustür stand einen Spalt offen, und nach kurzem Zögern betraten sie das Haus. Marta rief nach der Frau, bekam jedoch keine Antwort. Langsam gingen sie erst zur Küche, dann ins Wohnzimmer. Sie hatten schwaches Licht in den Fenstern gesehen, doch es war niemand da. Unschlüssig standen sie im Wohnzimmer und sahen sich an. Es wirkte fast, als wären die beiden Hals über Kopf aus dem Haus gestürmt. Bei seinen vorherigen Besuchen hatten meist zwei Wagen vor dem Haus gestanden, ein großer Jeep und ein PKW, doch diesmal war keiner von beiden da.
Sie verließen das Haus genau so, wie sie es vorgefunden hatten, nur dass Marta die Tür anlehnte. Sie waren schon auf dem Weg zurück zu Martas Wagen, als ein dicker Mann, offenbar der nächste Nachbar des Ehepaars, nach ihnen rief. Er dehnte sich nach einer Joggingrunde vor seinem Haus und fragte, ob sie seine Nachbarn suchten. Marta bestätigte dies, sie seien von der Polizei. Der Mann unterbrach seine Dehnübungen und kam zu ihnen herüber. Er habe die Frau gesehen, als er losgejoggt sei. Sie sei in ihr Auto gestiegen und ziemlich aufgeregt gewesen, habe geradezu auf ihn eingeredet. Sie wisse nicht, wo ihr Mann sei, und mache sich große Sorgen. Falls er in ihrer Abwesenheit nach Hause käme, solle er ihm ausrichten, sie sei nach Fossvogur gefahren, zu seinem Bruder in die Uniklinik.
»Die arme Frau«, sagte der Mann in Jogginghose. »Ich habe tiefes Mitleid mit ihr, mit beiden natürlich. Das alles hat ihnen sehr zugesetzt. Verständlicherweise. Das mit dem Mädchen … Tja, aber man weiß ja nie. Ich konnte mir keine besseren Nachbarn vorstellen, und dann erfährt man in den Nachrichten, dass die Kleine Drogen ins Land geschmuggelt hat. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Niemals. Nicht bei diesen Leuten. Das habe ich auch zu Tommi aus der Fünfzehn gesagt …«
Der Mann hatte wieder mit seinen Übungen begonnen und redete in einer Tour, bis Konráð ihn unterbrach und ihm für die Hilfe dankte. Dann stiegen Marta und er ins Auto und fuhren los. Sie beschlossen, nach Fossvogur zu fahren, um mit der Frau zu sprechen. Marta stand kurz davor, die Fahndung nach dem Mann einzuleiten. Sie fand es nicht normal, dass er in dieser Situation einfach verschwand und seine Frau mit allem alleinließ. Die Medien übten zunehmend Druck aus. Die wichtigsten Details waren mittlerweile durchgesickert, die Fragen an die Polizei würden immer gezielter und der Ruf nach klaren Antworten immer lauter werden.
»Warum ist Dannís Opa wohl nicht zu erreichen?«, fragte sie nach einem langen Schweigen, während sie im Nieselregen Fossvogur erreichten. »Wo könnte er sein? Ist er abgehauen?«
»Das war auch mein Gedanke«, sagte Konráð. »Ist es nicht ziemlich gefühllos, seine Frau in dieser Situation alleinzulassen?«
»Lassi sagte, die Oma wüsste, was Danní ins Netz stellen wollte. Könnte das mit ihm zu tun haben? Mit Dannís Opa? Vielleicht hat er ihr etwas angetan? Etwas, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen darf?«
»Schon, aber er hätte seine Enkeltochter doch nicht umgebracht, um sie zum Schweigen zu bringen. Oder?«
»Mist«, schnaubte Marta. »Wegen eines Geheimnisses, von dem die Oma angeblich weiß?«
»Keine Ahnung«, seufzte Konráð und sprach dann ein Thema an, das ihm nicht mehr aus dem Sinn ging, seit er den Mann mit der Sauerstoffmaske besucht hatte.
»Ich habe dem Kerl angemerkt, dass er mehr wusste, als er sagen wollte, und er hat mir merkwürdige Fragen gestellt. Er wollte wissen, ob die Mutter Nanna manchmal mit zur Arbeit ins Krankenhaus genommen hat.«
»Und?«
»Das hat sie bestimmt, aber warum fragt er danach? Warum will er das wissen? Das ergibt doch nur Sinn, wenn er von jemandem im Krankenhaus weiß, der dem Mädchen etwas angetan haben könnte.«
»Der Arzt?«
»Anton Heilman. Der Vater des Mannes, der jetzt untergetaucht ist, nachdem seine Enkelin vor die Hunde gegangen ist und irgendetwas Heikles publik machen wollte.«
»Willst du damit sagen, dass das erblich ist?«, fragte Marta nach einem langen Schweigen.
»Was?«
»Das Perverse?«