Einundsechzig
Die junge Frau in der Pension am Borgarfjörður hatte schon zweimal an die Tür des Mannes geklopft und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er längst hätte auschecken müssen. Am Türknauf hing das Bitte-nicht-stören-Schild. Zunächst hatte die junge Frau das respektiert und sich nicht getraut, den Gast durch Reinigungsarbeiten im Zimmer zu stören. Sie war an der Rezeption gewesen, als er um ein Zimmer mit Badewanne gebeten und eingecheckt hatte. Und jetzt reagierte der Mann nicht, wenn sie an die Tür klopfte. Fast wirkte es, als sei niemand mehr im Zimmer. Doch der Jeep stand noch auf dem Parkplatz vor der Pension. Er war also noch nicht gefahren. Ließ sie nicht auf der offenen Rechnung sitzen, was manchmal tatsächlich vorkam. Es sei denn, er war zu Fuß aufgebrochen oder hatte sich abholen lassen. So etwas hatte es zweifellos auch schon gegeben, auch wenn sie es selbst noch nicht erlebt hatte.
Das Zimmer war bereits auf die nächsten Gäste gebucht, ein französisches Ehepaar, das per Auto die Insel umrundete. Zum Glück hatten sie sich gemeldet und angekündigt, dass sie erst am Abend kommen würden. Doch langsam ging der jungen Frau die Geduld aus, und sie nahm den Zimmerschlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss. Sie kündigte an, dass sie jetzt ins Zimmer komme, und öffnete die Tür.
Das Erste, was sie wahrnahm, war, dass in dem Doppelbett niemand geschlafen hatte. Kissen und Decke waren unberührt. Die Vorhänge waren zugezogen und es war dementsprechend dunkel im Zimmer. Eine schwarze Hose lag gefaltet auf der Tagesdecke, schwarze Socken auf dem Boden und ein weißes Hemd hing ordentlich über der Stuhllehne.
»Hallo!«, rief die Frau, doch sie bekam keine Antwort.
Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und betrat das Zimmer, sah Licht im Bad. Hinter ihr fiel die Tür zu.
»Hallo? Ist da wer?« Sie zögerte, die Badezimmertür zu öffnen, doch dann gab sie sich einen Ruck und warf einen Blick hinein. Sie erschrak fürchterlich, als sie sah, warum der Mann nicht reagiert hatte.
Er lag in der Badewanne, die bis zum Rand voll mit seltsam rötlichem Wasser war. Einiges war auf den gefliesten Boden geschwappt und zum Abfluss unter dem Waschbecken gelaufen. Neben der Wanne lag ein aufgeklapptes Taschenmesser. Der Kopf des Mannes ruhte auf einem Handtuch und ein Arm lag auf dem Badewannenrand, mit einem tiefen Schnitt durch die Pulsader am Handgelenk.
Das Gesicht des Mannes wirkte friedlich, doch es war alle Farbe daraus entwichen und alles Blut aus seinem Körper, und sie wusste sofort, dass er tot war.