Grace

Als ich aufwache, läuft der Fernseher immer noch. Ich taste nach der Fernbedienung, die sich zwischen den Laken versteckt, und schalte ihn aus. Mit einem Gähnen setze ich mich auf und fröstle ein wenig, weil meine Decke verrutscht ist. Gestern Nacht habe ich noch zwei Stunden an meiner Hausarbeit gearbeitet, wobei das ohne Internet ziemlich mühselig war, und wollte nur kurz zum Runterkommen eine Soap gucken. Dabei muss ich wohl eingeschlafen sein.

Als ich aufstehe, schnappe ich mir meinen Pullover und streife ihn über mein Schlaftop, bevor ich auch noch in meine Socken schlüpfe und mich dann erst auf dem kalten Holzboden durch das urige Zimmer traue. Hinter den Vorhängen ist es hell, und als ich sie öffne, kann ich direkt auf die zugeschneite Straße blicken. Schnee schießt dicht am Fenster vorbei und hat bereits die Autos unter sich begraben. Der Wind pfeift zwischen den Häusern hindurch und spielt ein unheimliches Lied. Der Blizzard ist im vollen Gange.

Ich zittere und gehe ins Bad. Da ich wegen der Anreise nach Big Sky seit vorgestern nicht mehr geduscht habe, drehe ich das Wasser auf und ziehe mich aus, obwohl ich viel lieber noch mal unter die Bettdecke geschlüpft wäre. Auch mein Magen fleht so laut, dass ich ihn nicht ignorieren kann.

Nach einer schnellen Dusche föhne ich meine Haare und mummle mich so dick ein, dass ich die Kälte nicht mehr spüre. Dann schminke ich mich, bevor ich mir mein Handy und den Laptop schnappe. Ich habe weder Netz noch Internetempfang und muss unbedingt noch eine Runde arbeiten. Etwas, das ich während meines Aufenthalts sowieso erledigen wollte, auch wenn Hunter mich deshalb schon für völlig verrückt erklärt hat. Doch ohne das WLAN -Passwort komme ich nicht weiter. Ich muss Peyton dringend danach fragen.

Als ich auf den Flur trete, höre ich bereits Geräusche von unten, doch ich steuere zunächst Hunters Zimmer an. Ich habe gestern Nacht gehört, wie er offensichtlich betrunken in sein Zimmer gegangen ist. Sein Torkeln konnte ich beim besten Willen nicht überhören.

Es tut mir leid, wie das Aufeinandertreffen mit seinem Vater verlaufen ist. Nicht leid tut mir, dass wir hier festhängen. Es wird Hunter sicher guttun, wieder ein wenig Zeit mit Nolan zu verbringen. Und es bewahrt uns vor einem traurigen Weihnachten in unserer WG . Es wäre natürlich trotzdem cool. Mit Hunter, Serien und Essen vom Lieferdienst. Aber es wäre kein richtiges Weihnachten, wie Hunter es mir dieses Jahr versprochen hat.

Ich klopfe einmal an Hunters Tür. Von innen kommt ein lautes Brummen, dann ein Schnarchen, was mich lachen lässt. Okay. Der ist wohl für eine Weile nicht zu gebrauchen. Dann muss ich wohl alleine runter.

Die Stufen knarzen, als ich hinuntergehe, und ich entdecke Peyton sofort hinter der Theke im Frühstücksraum, die dort irgendwelche Notizen macht. »Guten Morgen.«

Als sie mich hört, hebt sie den Kopf und lächelt mich freundlich an. Sie scheint echt nett zu sein. Außerdem sieht sie in ihrer zerrissenen Jeans und dem Bandshirt ziemlich gut aus. Kein Wunder, dass Hunter sie gestern so angestarrt hat. »Guten Morgen. Beim Frühstück herrscht Selbstbedienung und freie Platzwahl. Warme Getränke bekommst du von mir.« Sie deutet auf den Tresen, auf dem allerhand Essen steht, und dann auf die im Raum verteilten Tische, an denen dunkelgrün gepolsterte Stühle stehen.

»Danke. Und hättest vielleicht noch das WLAN -Passwort für mich?« Ich hebe demonstrativ den Laptop, den ich unter meinen Arm geklemmt habe.

Sie lacht und nickt. »MountainHideawaywifi. Zusammengeschrieben und das M und H groß.«

»Super. Danke.«

Dunkle Balken ziehen sich quer über die Decke und die Wände sind in frischem Grün gestrichen. Links von mir ist eine Fensterfront, durch die man auf den Parkplatz schauen kann, und rechts befindet sich die Theke. Holztische stehen im Raum verteilt, auf denen bereits Geschirr und Besteck über rot-grünen Läufern platziert wurden. In der Mitte der Tische befinden sich halb heruntergebrannte Stabkerzen und kleine Weihnachtssterne in glitzernden Töpfen. Es riecht nach gebratenem Speck und Eiern. Doch auch der süße Geruch von Sirup hängt in der Luft und ich bin überwältigt von dem reichhaltigen Angebot, das ich in einem B&B nicht erwartet habe. Selbst die Bagels und die Waffeln dampfen noch leicht und die Auswahl an Marmeladen ist ein wenig überwältigend.

Mein Magen knurrt noch etwas mehr.

Da ich die Erste bin, stelle ich meinen Laptop an einem Tisch am Fenster ab, hinter dem der Blizzard eine Spur aus Schnee hinterlassen hat.

Ich nehme mir von allem etwas und trage meinen etwas überladenen Teller zu meinem Tisch. Als ich mir gerade einen Saft aus einem Getränkespender ziehe, kommt das Pärchen von gestern herein. Ava und Mason. Ich versuche Mason nicht anzustarren, obwohl er in seinem schlichten Outfit aus Jeans und hellem Pullover viel zu attraktiv aussieht, auch wenn er ein wenig müde wirkt. Sein blondes Haar ist aufwendig zur Seite gegelt.

Er entdeckt mich sofort und lächelt. Kleine Fältchen bilden sich um seine grauen Augen herum. »Guten Morgen.«

»Morgen«, bringe ich heraus, schiebe meine Brille zurecht und konzentriere mich bewusst auf Ava, die ihn umrundet und auf mich zukommt. Sie lächelt und Sommersprossen tanzen auf ihrer Nase. Ihr braunes Haar fällt über ihre Schultern und sie trägt eine dunkelblaue Base-Layer-Hose mit türkisfarbenen Streifen, in denen sie endlos lange Beine hat, sowie einen hellen Norwegerpullover. Es wirkt, als würde sie jeden Moment wieder in Skikleidung steigen wollen, obwohl sie total übermüdet scheint. Dennoch komme ich mir in meiner Sweathose fast ein wenig underdressed vor. Ava stellt sich neben mich an den Getränkespender und zieht sich einen Saft. »Hi. Ich weiß, wir haben uns gestern schon gesehen, aber nach der Lawinensache war ich ziemlich neben mir. Du heißt Grace, oder? Ich bin Ava.«

»Ja, genau. Hi, Ava.« Ich bleibe kurz stehen, doch sie nimmt glücklicherweise kein Gespräch auf, nachdem sie mir ein freundliches Lächeln zugeworfen hat, und deshalb gehe ich zu meinem Tisch.

Während ich einen Bagel mit Frischkäse bestreiche, versuche ich die beiden nicht zu beobachten. Dennoch bemerke ich, dass Mason in meine Richtung läuft und sich an den Nebentisch setzt. So, dass ich nur aufsehen müsste, um in sein Gesicht zu blicken.

Nicht hilfreich.

Ava sagt nichts, als sie sich zu ihm setzt, und die Stille im Frühstücksraum ist erdrückend. Ich wünschte, irgendwo würde Musik laufen, und klappe kurzerhand meinen Laptop auf. Der Begrüßungston ist viel zu laut und ich beiße in den Bagel, während ich darauf warte, dass er hochfährt.

Im selben Moment sehe ich, wie Mason sein Handy in die Hand nimmt und darauf herumtippt. Ava seufzt leise und ich kann nicht anders, als zu ihr hinüberzuschauen. Sie presst die Lippen zusammen und wirkt eindeutig genervt.

Da kommt Peyton in den Raum. »Kann ich euch Kaffee bringen? Oder Tee?« Die letzte Frage richtet sie an Ava, die aussieht, als würde sie ein wenig grün im Gesicht werden, und den Kopf schüttelt. »Nein, ich glaube, ich hatte gestern eine Überdosis.«

Peyton lacht und wendet sich uns zu.

»Kaffee wäre super«, sagen Mason und ich gleichzeitig und ich lächle ihn automatisch an, bevor ich schnell wieder wegsehe.

»Super, kommt sofort.« Peyton geht beschwingt zum Buffet und verschwindet durch die dahinterliegenden Tür.

Währenddessen gebe ich das WLAN -Passwort ein und warte, bis ich verbunden bin, bevor ich versuche meine Cloud zu öffnen. Die Seite lädt. Und lädt. Und lädt.

Ich gebe einen frustrierten Laut von mir.

»Dort kann man nicht so gut arbeiten.« Masons Stimme lässt mich überrascht aufblicken. Er lächelt charmant und deutet auf den Laptop. »Das WLAN reicht tatsächlich nicht bis zu den anderen Tischen. Der beste Platz ist hier.« Er zeigt unter den Tisch, an dem er sitzt, wo ich einen Router entdecke.

»Oh«, sage ich wenig einfallsreich und merke, wie ich ein bisschen rot werde. »Danke. Das ist gut zu wissen.«

In diesem Moment kommt glücklicherweise Peyton aus der Küche und trägt zwei Kaffeetassen sowie ein Milchkännchen. Sie stellt die Tassen vor uns ab, auf dessen Untertellern Zimtsterne und Zuckertütchen liegen.

Wieder bedanke ich mich und reiße zwei Zuckertüten auf, um sie in den Kaffee rieseln zu lassen.

»Ist Hunter noch gar nicht wach?« Peytons Tonfall klingt ein wenig seltsam, zu beiläufig, um es wirklich zu sein.

»Nein. Er scheint sich gestern betrunken zu haben, weil ihm die Nachricht, dass wir hier noch einige Tage feststecken werden, wohl nicht so gut bekommen ist.«

Peytons Mundwinkel zuckt und sie nickt. »Okay. Falls ihr noch irgendwas braucht, ich bin in der Küche.« Dann verschwindet sie wieder und ich frage mich so langsam wirklich, was da zwischen den beiden läuft.

»Ein paar Tage? Ich dachte, wir sitzen hier nur einen Tag länger fest und können dann weg?«

Ich sehe Mason an und bemerke, dass er mich fragt. »Oh, die Räumarbeiten beginnen erst, wenn der Blizzard vorbei ist, und dann sind wir wohl die Letzten, die berücksichtigt werden. Das kann ein paar Tage dauern. Vermutlich sogar bis nach Weihnachten.«

Er flucht leise und lehnt sich auf seinem Platz zurück, während er nach seinem Handy greift. »Dann werde ich meiner Familie wohl besser mitteilen, dass ich doch nicht zu Weihnachten komme.«

Das tut mir leid für ihn. Für die beiden. Doch das sage ich nicht laut, weil es mich nichts angeht.

Plötzlich fliegt die Eingangstür auf und wir alle wenden den Kopf. Im selben Moment, als ich Nolan entdecke, flucht Ava leise und rutscht von ihrem Stuhl unter den Tisch.

Erstaunt schaue ich zu Mason, der jedoch nur genervt die Augen verdreht und sich auf sein Handy konzentriert, um eine Nachricht zu schreiben.

»Guten Morgen.« Nolan lächelt uns an und sieht in seinen Überlebensklamotten aus, als wäre er gerade frisch aus Alaska gekommen. Schnee liegt auf seinen Schultern und bedeckt selbst seine Hose, auch wenn es so wirkt, als hätte er bereits versucht, sich notdürftig davon zu befreien. »Ist Peyton da?« Er schaut sich um, als würde er sie suchen, obwohl es offensichtlich ist, dass sie nicht da ist. Sein Blick fällt auf den zweiten Teller gegenüber von Mason, doch die unter dem Tisch hockende Ava scheint ihm nicht aufzufallen.

»Klar. Sie ist in der Küche«, antworte ich etwas verzögert und total verwirrt von dieser skurrilen Situation. Versteckt sich Ava etwa vor Nolan? Wieso denn? Immerhin hat er sie gestern vor einer Lawine gerettet. Oder ist ihr das etwa peinlich?

»Danke, bis später.« Er stampft in seinen Schneestiefeln durch den Raum und verschwindet hinter der Theke und dann in der Küche.

Gerade als die Tür sich hinter ihm schließt, klettert Ava unter dem Tisch hervor. Ihr Kopf ist hochrot und sie sagt gar nichts, sondern läuft fluchtartig zur Treppe und dann hoch.

Verwirrt schaue ich erst ihr hinterher, bevor ich Mason ansehe. »Willst du ihr nicht nachlaufen?«

»Nein«, antwortet er knapp und beißt seelenruhig in seinen Bagel.

Ernsthaft? Ist dieses Verhalten etwa normal für sie? »Okay.« Ich versuche weiterzuessen, schaffe es aber nicht. »Geht es ihr denn gut? Also wegen der Lawine. Sie scheint doch etwas durch den Wind zu sein.«

»Sie kommt klar.« Seine grauen Augen bohren sich in meine und ich sehe darin, dass er derjenige ist, der nicht klarkommt, und irgendwas zwischen ihnen steht. Doch dann blinzelt er und eine Mauer baut sich zwischen uns auf, die beinahe greifbar ist. »Glaub mir.«

Schnell nicke ich und konzentriere mich auf mein Essen, während ich mit meiner freien Hand den Laptop zuklappe. Ich hätte nicht so viel nachfragen sollen. Sicher hält er mich für neugierig. Nicht, dass seine Meinung über mich wichtig wäre.

Wir beenden das Essen schweigend und ich staple die Teller aufeinander und bringe sie zur Theke. In diesem Moment kommt Ava in Skiklamotten die Treppe runter, wobei sie so leise ist, dass ich sie fast überhört hätte. Ihr Blick fliegt suchend durch den Raum, bevor sie eilig das B&B verlässt.

Ich runzle die Stirn und nehme meinen Laptop, während ich etwas verloren im Raum herumstehe. Wenn man nur an dem von Mason besetzten Tisch Internetempfang hat, bin ich ziemlich aufgeschmissen.

Ich schaue zu dem prasselnden Kamin, an dem ein Sofa steht. Daneben befindet sich ein bodentiefes Fenster, das den Blick auf den schneebedeckten Garten freigibt. Den Laptop stelle ich auf den Tisch davor, bevor ich hinter die Theke trete und zaghaft an die offen stehende Küchentür klopfe. »Hallo?« Auf dem Boden sind kleine Wasserspuren von Nolans Stiefeln, der mich mit einem Bagel im Mund angrinst und dann an mir vorbei nach draußen geht.

»Ich bin hier«, ruft Peyton und ich trete in die geräumige Küche, in der es herrlich nach Kaffee und frischen Waffeln duftet. Die Möbel und Geräte sind alt, doch alles ist sauber. Peyton ist gerade dabei, Rührei zu braten, und ich frage mich, wen sie mit all dem Essen mästen möchte.

»Könnte ich noch einen Kaffee haben?«

»Sicher.« Sie lächelt und sofort habe ich das Gefühl, ihr nicht zur Last zu fallen. »Ich bringe ihn dir gleich. Es gibt auch Cappuccino, falls du möchtest. Die Kaffeemaschine ist neu und ich könnte ein wenig Übung vertragen.« Sie nickt in Richtung eines schwarz blitzenden Kaffeevollautomaten, der in der Ecke steht.

»Einen Cappuccino nehme ich gerne.«

»Perfekt, gib mir drei Minuten.«

»Ich habe Zeit. Danke.« Als ich die Küche verlasse, sehe ich zu Mason, der sein und Avas Geschirr ebenfalls zur Theke gebracht hat und nun einen finsteren Blick in Richtung Tür wirft, durch die Nolan gerade verschwindet.

Er schaut auf, als ich hinter der Theke hervorkomme, und wirkt ein wenig verlegen, während er auf den Platz ihm gegenüber deutet. »Du kannst dich gerne zu mir setzen, falls du noch was zu tun hast.«

Ich zögere. Aber habe ich überhaupt eine Wahl? Ich muss dringend arbeiten und falscher Stolz ist dann fehl am Platz. »Danke. Ich habe wirklich noch was zu tun«, füge ich hinzu und setze mich kurzerhand ihm gegenüber. Es ist genug Platz, dass wir uns nicht berühren, und während mein Laptop hochfährt, entspanne ich mich ein wenig.

Mason tippt bereits und konzentriert sich auf seinen Bildschirm, als ich endlich meine Hausarbeit öffnen kann.

Das Thema lautet Die physiotherapeutische Behandlung bei Inkontinenz und ihr Einfluss auf die neuromuskuläre Aktivität des Beckenbodens und wird den Großteil meiner Note ausmachen. Gemeinsam mit einer Physiotherapeutin, die auf den Beckenboden spezialisiert ist, führe ich eine Studie durch, der die Probandinnen alle zugestimmt haben. Die letzten Monate habe ich damit verbracht, Abläufe, Ultraschallbilder, Befragungen und ärztliche Berichte, die mir von den Studienteilnehmerinnen zur Verfügung gestellt wurden, auszuwerten. Nun muss ich die Ergebnisse zusammentragen, was viel aufwendiger ist, als ich zunächst angenommen habe.

Letzten Monat habe ich gemeinsam mit meinem Professor meine Hausarbeit in unterschiedliche Kategorien gegliedert und habe jetzt noch bis Ende Januar Zeit, um die Arbeit abzugeben. So langsam geht mir deshalb der Arsch auf Grundeis und ich nutze jede einzelne Minute, um weiterzuarbeiten.

Wenn alles gut läuft, habe ich im Sommer meinen Bachelor und kann anschließend ein Masterstudium beginnen. Und in wenigen Jahren bin ich Physiotherapeutin. Genau das, was ich immer werden wollte, seit ich mir mit fünf Jahren den Fuß gebrochen habe und wöchentlich zum Physiotherapeuten gehen musste. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, ich würde übertreiben, und wusste genau, welche Übungen ich machen musste, damit ich meinen Fuß wieder genauso belasten konnte wie zuvor. Er war mein erstes Vorbild, und das ist bis heute so geblieben.

Ich schaue auf, als Peyton an den Tisch kommt und mir den Cappuccino bringt. Sie nimmt auch Masons Bestellung auf und verschwindet dann wieder in der Küche.

»Sorry«, sagt Mason auf einmal und ich bemerke, dass er mich beobachtet.

Fragend runzle ich die Stirn, weil ich nicht weiß, was er meint. »Wieso?«

Er deutet unter den Tisch, wo er gerade seine Beine zurückzieht. Offenbar hat er mich beim Ausstrecken erwischt und ich habe es nicht einmal bemerkt. »Oh. Kein Problem. Ich war gerade sowieso in Gedanken.«

»Was genau musst du überhaupt über die Feiertage erarbeiten?«, fragt er und hält beim Tippen inne.

»Ich schreibe eine Hausarbeit, die ich bis Ende Januar abgeben muss. Eigentlich bin ich schon recht weit, aber es macht mich nervös, wenn die Deadline näher rückt.« Schnell schließe ich den Mund, weil ich mal wieder dabei bin, zu viel zu sagen. Dabei sollte es mir egal sein, ob er mich für einen Streber hält. »Und du?«

»Ich arbeite neben dem Studium im Unternehmen meiner Eltern.«

»Was genau machst du denn? Also, falls ich fragen darf.« Ich schiebe meine Brille hoch, obwohl sie nicht verrutscht ist.

Er lächelt, als würde mein Interesse ihn freuen. Vielleicht tut es das auch. »Sie haben ein IT -Unternehmen, in das ich nach meinem Abschluss einsteigen will. Aktuell arbeite ich im Servicebereich. Man sollte meinen, dass über Weihnachten nicht viel in den Unternehmen los ist, die unsere Software gekauft haben, aber ich bin wegen der Feiertage der Einzige, also …« Er verstummt, zuckt mit den Schultern und presst die Lippen zusammen. Dabei sieht er so aus, als würde er auch fürchten, zu viel zu reden.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und lasse es sofort wieder sein. »Klingt total spannend. Ihr verkauft also Unternehmenssoftware?«

»Genau. Warenwirtschaftssysteme, Buchhaltungsprogramme und all das, was man braucht.«

»Und was genau machst du dann im Softwarebereich?«, frage ich neugierig nach, weil ich mir darunter überhaupt nichts vorstellen kann.

»Ich programmiere, drücke manchmal nur einen Knopf und starte das System neu oder merze Fehler aus.« Sein Mundwinkel hebt sich und ein kleines Grübchen tanzt darüber, während er in Richtung meines Laptops nickt. »Und worum geht es in deiner Hausarbeit?«

Ich nenne ihm das Thema und einen Moment lang sagt er nichts, bevor er langsam den Kopf neigt. »Das ist ein wichtiges Thema.« Er sagt es so trocken, dass ich lauthals loslachen muss.

Er stimmt mit ein und sein Lachen ist volltönend und dunkel. »Sorry, eine Tante von mir hat letztes Jahr ein Kind bekommen und ich habe ein paarmal zu oft Gespräche über ihren Beckenboden mit gehört.« Sein Mund verzieht sich und ich sehe ihm an, dass er ernst bleiben will, aber alles in seinem Gesicht lacht.

Mein Herz hüpft und ich schaue schnell weg.

»Also willst du später in dem Bereich arbeiten? Als Physiotherapeutin?«

»Genau. Das war immer mein Traum.« Das klingt so blöd, dass sich meine Nase kräuselt. Normale Leute träumen davon Ballerina oder Astronaut zu werden. Da stinkt das doch völlig gegen ab.

»Mein Traum war es immer, im Unternehmen meiner Eltern zu arbeiten«, sagt er leise und mit einem Mal fühlt sich mein Traum gar nicht mehr so klein und lächerlich an.

Ein Ping ertönt und er schaut auf seinen Laptop. Kurz lächeln wir einander an, bevor wir still und konzentriert weiterarbeiten. Wobei ich hin und wieder doch zu ihm hinüberschaue und nicht anders kann, als seinen Arbeitseinsatz bewundernswert zu finden. Kerle in seiner Position, die durch ihre Geburt und ihren Familiennamen einen Job schon in der Tasche haben, arbeiten normalerweise nicht in den Ferien, um Berufserfahrung zu sammeln. Sie ruhen sich auf den Erfolgen ihrer Familie aus und erwarten, dass man sie mit offenen Armen in der Firma empfängt.

Mason nicht.