Ava

Zwei Dinge haben sich unauslöschlich auf meine Netzhaut gebrannt, als ich gegen Mittag das B&B verlasse und in die kalte klare Luft hinaustrete. Das ist zum einen Agnes’ grelle Kombination aus pinkem Mantel und orangefarbener Mütze. Zum anderen Mason mit Grace. Mit ihr sieht er irgendwie anders aus. Ich meine … Habe ich das gerade richtig gesehen? Hat er seinen Laptop zugeklappt – einfach, weil sie ihren geschlossen hat? Um was zu tun? Pause zu machen, womöglich? Verdammt, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er das für mich jemals getan hätte.

Ich atme tief die frostige Luft ein und beobachte, wie sich mein Atem als Gespinst vor mir kräuselt. Der Sturm hat sich endgültig verzogen. Die hellen Wolken wirken harmlos vor dem krassen Hintergrund des winterblauen Himmels.

Mir ist nicht entgangen, dass Mason ungewöhnlich nett zu Grace ist. Ich meine, er ist grundsätzlich ein hilfsbereiter und sogar zuvorkommender Mensch. Denjenigen gegenüber, die ihm etwas bedeuten, kann er äußerst liebevoll sein. Aber ansonsten hat seine Höflichkeit oft etwas Geschäftiges: freundlich, klar und effizient.

Nicht so Grace gegenüber. Er nimmt sich Zeit, sie anzulächeln. Das ist mehr als ein kurzes Hochziehen der Mundwinkel. Dieses Lächeln kommt inklusive seiner Grübchen und diesem typischen weichen Blick, den ich schon sehr lange nicht mehr an ihm beobachtet habe. Und deshalb glaube ich auch nicht, dass Mason nur nett zu Grace ist, um sich an mir zu rächen. Nach dem Motto: Wenn du einen anderen hast, gib mir nur eine Minute, dann habe ich mich auch getröstet.

Ha! Nicht, dass ich tatsächlich einen anderen hätte. Genau genommen sitzt mir die Härte von Nolans Abfuhr intensiver in den Knochen als die Tatsache, dass ich vor gerade mal zwei Tagen fast unter einer Lawine begraben worden wäre.

Aber in Masons Vorstellung habe ich einen anderen. Gut möglich also, dass Mason sich selbst was vormacht, dass er einfach nach einer Möglichkeit sucht, sich besser zu fühlen, und dass er deshalb mit Grace flirtet. Aber irgendwie wirkt er nicht so. Schließlich hat er sich nicht gerade darum gerissen, mit Hunters Dad zu sprechen. Bis zu dem Moment, in dem klar war, dass Grace ihn begleiten würde. Und jetzt … Jetzt hat er seinen Laptop zugeklappt. Wow! Das fühlt sich echt merkwürdig an. Nicht schlecht merkwürdig, aber anders.

Ich will schon in den noch immer tiefen Schnee auf den Stufen zur Straße steigen, als mir die Schaufel ins Auge fällt, die am Geländer der Veranda lehnt. Vielleicht hat Peyton vor, hier gleich zu räumen. Aber wenn ich schon mal da bin und mich äußerst nutzlos und fehl am Platz in diesem kleinen Ort fühle, kann ich das auch übernehmen.

Kurzerhand greife ich nach der Schaufel. Ich habe noch nie in meinem Leben Schnee geschippt. Aber wie schwer kann das sein?

Etwa eine halbe Stunde später weiß ich es. Atemlos stütze ich mich auf den Griff der Schaufel und betrachte mein Werk. Dass ich zur Sicherheit mehrere Schichten Kleidung unter meinen Skianzug gezogen habe, rächt sich nun. Mir ist der Schweiß ausgebrochen. Ich spüre meine Wangen im kalten Wind glühen. Immerhin sind die drei Stufen und der Weg zur Straße nun von den Schneemassen befreit. Meine Lunge brennt ein bisschen von der Anstrengung in der kalten Luft, aber irgendwie fühle ich mich besser. Mittlerweile sind überall vor den Zufahrten zu den Häusern Leute damit beschäftigt, neue Schneisen zur Straße zu graben, und ich habe das Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben. Jetzt allerdings steht nichts mehr zwischen mir und meiner Suche nach Nolan. Immerhin ist mir beim Wühlen im Schnee eine Idee gekommen, wie wir uns in den nächsten Tagen besser aus dem Weg gehen können. Nachdem ich mich bei ihm entschuldigt habe, natürlich …

Seufzend schleppe ich die Schneeschaufel zurück auf die Veranda und lehne sie gegen das Geländer. Zuerst will ich den Weg zum Diner einschlagen, weil ich Nolan in den letzten Tagen dort am häufigsten über den Weg gelaufen bin. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass er sich dort aufhält, nachdem der Sturm abgerückt ist? Ich wette, Nolan hat sich wieder bei Leroy zur Arbeit gemeldet. Also schreite ich durch meine freigelegte Schneise zur Straße und stapfe durch die unregelmäßigen Reifenspuren in Richtung Ranger Station. Einer der Nachbarn von schräg gegenüber, der dabei ist, sein Auto auszugraben, streckt mir einen im Fäustling aufgerichteten Daumen entgegen.

»Gute Arbeit«, ruft er mir zu und deutet auf den frei geschippten Eingang des Mountain Hideaway.

Ich muss lachen. »Danke! Das ist ein großes Lob für jemanden aus Kalifornien, der echten Schnee nur aus dem Skiurlaub kennt.«

Der Nachbar gibt ein Brummen von sich. »Es gibt Dinge, die sind eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.«

Seine Worte klingen mir nach, während ich der Straße folge. Warum ist es eigentlich so verdammt schwer, Entschuldigung zu sagen? Das hat nicht das Geringste mit Können zu tun, sondern alles mit Wollen. Schließlich ist nichts Kompliziertes daran, das Wort zu sagen: Entschuldigung. Und trotzdem fällt es mir fast nie leicht, es zu tun. Mein Dad entschuldigt sich grundsätzlich für gar nichts. In seinen Augen macht man sich durch Schuldeingeständnisse angreifbar. Meine Mom, die Pilateslehrerin ist, sieht das völlig anders. Für die innere Balance sei es ganz entscheidend, Fehler einzugestehen und durch gegenseitiges Verzeihen aus der Welt zu räumen. In der Ehe meiner Eltern hat das dazu geführt, dass sich nach jeder Auseinandersetzung genau eine Seite maximal bemüht, das Gleichgewicht wiederherzustellen – nämlich meine Mom. Sie bittet um Verzeihung für den Streit – egal welchen Anteil mein Dad daran hatte. Vielleicht ist mein Dad deshalb oft so selbstgerecht. Er ist nie gezwungen, sich wirklich zu hinterfragen.

Ich seufze, während ich rechts und links nach Nolan Ausschau halte. Aber von den Leuten mit Schneeschaufeln ist keiner er. Das allgegenwärtige Schaben mischt sich nun auch mit den dumpfen Geräuschen von Schnee, der auf Schnee fällt. Das erinnert mich ungut an den Laut, den ich gehört habe, bevor die Lawine abgegangen ist. Ich sehe mich um und entdecke die Geräuschquelle. Manche Dächer haben einen zu geringen Neigungswinkel, sodass der Schnee nicht daran abgleiten kann. Jetzt müssen die Bewohnerinnen und Bewohner oben herumturnen und ihre Dächer von der Last befreien. Irgendwo streitet sich ein Paar, weil bei dieser Arbeit die letzten Reste der Weihnachtsdekoration zerstört wurden. Ich wette, am Ende entschuldigt sich wieder die eine Person, die sich immer entschuldigt.

Schon wieder seufze ich in meinen Schal. Wahrscheinlich war es ein Fehler, Mason zu sagen, wie leid es mir tut, weil ich mein Herz an einen anderen verloren habe. Bestimmt wertet er es als Eingeständnis, dass ich das Scheitern unserer gesamten Beziehung auf mich nehme. Was ich nicht tue! Und genau das ist auch der Grund, warum mir die Aussicht, mich bei Nolan zu entschuldigen, Bauchschmerzen bereitet. Ich weiß, ich habe mich gestern Abend im Diner danebenbenommen. Natürlich hatte ich kein Recht, ihn rauszuschmeißen. Zumal ihn das wirklich verletzt zu haben scheint. Und deshalb will ich ihm gegenüber auch zugeben, dass ich mich falsch verhalten habe. Aber ich hatte einen Grund dazu. Und ich will, dass er den auch sieht.

Vor dem villenartigen Blockhaus am Ende der Straße, in dem – wie mir mittlerweile klar geworden ist – Hunters Familie lebt, biege ich Richtung Ranger Station ab. Nur wenige Schritte weiter entdecke ich Nolan und eine zweite Gestalt – etwas kleiner und schmaler als er – beim Schneeräumen. Unwillkürlich bleibe ich stehen. Nolan trägt wieder nur seine Winterfunktionskleidung. Neben ihm erkenne ich Theo in seinem ausgeblichenen schwarzen Parka und seiner tief über die Ohren gezogenen Mütze. Ein paar braune Locken kringeln sich darunter hervor. Er und Nolan haben gerötete Wangen, während sie mit gleichmäßigen Bewegungen die Schaufeln in den Schnee rammen. Das Dach der Ranger Station und den Zugang zur Straße haben die beiden offenbar schon frei gemacht. Jetzt sind sie dabei, einen Gehweg ins Dorf für Fußgängerinnen und Fußgänger passierbar zu machen. Denn während auf der Hauptstraße mittlerweile genug Fahrzeuge unterwegs waren, die den Neuschnee platt gedrückt haben, versinkt man hier ziemlich.

Schon wieder entweicht mir ein Seufzen – diesmal gut sichtbar in die kalte Luft. Wie kann allein Nolans Anblick beim Schneeschaufeln mein Herz schmelzen lassen? Am liebsten würde ich schon wieder meine Kamera zücken, mich hierherkauern und Nolan fotografieren. Ich liebe es, wenn er so konzentriert aussieht. Man kann den Eindruck haben, als wäre ihm im Moment nur diese eine Sache auf der Welt wichtig: die Schaufel in den Schnee graben und ihn zur Seite wuchten. Dieser Eindruck ist mir verhängnisvoll zu Kopf gestiegen. Weil er manchmal mich so konzentriert angesehen hat, als wäre ich dieses Zentrum seiner Welt, als wäre nur ich wichtig.

Das ist doch nicht normal, oder? Ich weiß, dass meine Gefühle einseitig sind, und kann trotzdem nicht anders, als mich weiter reinzusteigern. Das muss endlich aufhören, bevor ich vollends den Verstand verliere und anfange vor seiner Wohnung zu campen.

Entschlossen setze ich mich in Bewegung und überquere die Straße. Ich wünschte, ich würde dabei nicht ganz so tief einsinken. Ich könnte so viel souveräner wirken, wenn ich nicht ständig stolpern würde.

Nolan blickt auf, als ich offenbar in die Peripherie seiner Wahrnehmung gerate, und hält mitten in seiner Bewegung inne. Kurz wirkt er fast erstarrt, dann wendet er sich halb ab. Für eine Sekunde denke ich, er werde mich ignorieren. Dann stößt er jedoch seine Schaufel in eine Schneewehe und kommt mir ein paar Schritte entgegen.

»Hi, Ava.« Irgendwie sind da zu viele Emotionen gleichzeitig in seinem Gesicht. Ich kann sie nicht zuordnen. Ich weiß nur, dass mich die Ernsthaftigkeit und Tiefe in seinem dunklen Blick schwindelig werden lässt – und dass mich das aus dem Konzept bringt.

»Soll ich jetzt hier allein weitermachen, oder was?« Theo hört ebenfalls auf, Schnee zu schaufeln, und starrt unwillig zu mir herüber.

»Du kannst froh sein, dass ich dich das hier nicht von vorneherein allein machen lasse.« Nolan dreht sich halb zu ihm um. »Dir ist schon klar, dass Schneeschippen klassische Sozialstundenarbeit ist, oder?«

Theo presst die Lippen zusammen. »Bestimmt ist die dämliche Schneefräse überhaupt nicht wirklich kaputt.«

Nolan fährt sich angespannt mit der Hand durch die Haare und wendet sich mir wieder zu. »Hi«, wiederholt er. »Sorry, ich wäre heute noch bei dir vorbeigekommen.«

»Tatsächlich?« Überrascht mustere ich ihn. »Obwohl ich gestern Abend so blöd zu dir war?«

Irritiert erwidert er meinen Blick. »Meinst du, weil du mich aus dem Diner geschmissen hast?«

»Echt?« Theo lacht hinter ihm los. »Wie das denn? Kann sie Karate, oder was?«

»Zumindest kann sie ziemlich beängstigend sein, wenn sie wütend wird.« Ein Lächeln fliegt über Nolans Gesicht, ehe er sich kurz zu Theo umdreht. »Hör mal, du bist nicht zum Quatschen hier, sondern zum Arbeiten. Also mach einfach mal eine Minute deinen Job, ohne dich einzumischen, klar?«

»Wieso? Heißt doch Sozialstunden. Ist es nicht voll unsozial, wenn ich stumpf Schnee schippe, während wir Besuch haben?«

Nolan verdreht die Augen. »Sozial wie in Mach-dich-nützlich-für-die-Allgemeinheit. Nicht wie in Spiel-die-Tratschtante-vom-Dienst. Davon gibt es in Big Sky ohnehin genug.«

Theo gibt ein unwilliges Brummen von sich, zieht seine laufende Nase hoch und arbeitet sich weiter durch den Schnee vorwärts.

»Ich wollte mich dafür entschuldigen, wie ich mich gestern Abend verhalten habe«, sage ich rasch, um Theos Schweigen zu nutzen. »Ich hatte kein Recht, dich rauszuschmeißen, und es tut mir leid.« Ich schaffe es nicht, Nolans durchdringenden Blick auszuhalten. »Und es ist in keiner Weise so, dass ich keinen Bock mehr auf dich habe. Es fällt mir nur schwer …« Ich hole tief Luft. »Es fällt mir schwer, normal mit dir zu reden, obwohl du einfach ignoriert hast, dass ich …« Dass ich mich in dich verliebt habe? Himmel, vielleicht sollte ich dieses Gespräch nicht vor Theo führen. Ich werfe einen Blick an Nolan vorbei zu dem Jungen, der lustlos Schnee schaufelt und wahrscheinlich nur darauf wartet, sich wieder in unser Gespräch einzumischen.

»Shit, Ava, es tut mir total leid. Du musst dich für gar nichts entschuldigen.« Ich sehe Nolan tief Luft holen. »Ich hätte mich an deiner Stelle auch rausgeschmissen. Gestern habe ich das nicht kapiert, aber mittlerweile verstehe ich, glaube ich, weshalb du wütend auf mich bist.«

Tatsächlich? Woher kommt seine plötzliche Einsicht? Ich frage mich, ob Hunter gestern Abend mein trüber Blick aufgefallen ist und er Nolan darauf aufmerksam gemacht hat, dass es mir nicht gut geht. Ehrlich gesagt würde mich das wundern. Bisher hat Hunter eher den Eindruck gemacht, als hätte er ganz andere Probleme als den Liebeskummer von Touristinnen im örtlichen Diner.

»Ich …« Wieder blicke ich an Nolan vorbei zu Theo und senke halbherzig die Stimme. »Ich bin ja selbst schuld. Ich hätte dir gar nicht schreiben sollen. Ich habe da offenbar einiges überinterpretiert und jetzt kommen wir beide nicht damit klar. Aber ich denke, ich habe eine Lösung.«

Nolan runzelt die Stirn. »Überinterpretiert?«

»Ja. Ich meine nicht meine Gefühle für dich. Gegen die kann ich gerade nicht viel machen. Aber ich denke, ich hätte mich nicht so tief darin verstrickt, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass du ähnlich für mich empfindest. Gerade läuft einfach alles ziemlich mies für mich.« Zu meinem eigenen Entsetzen spüre ich Tränen in meinen Augen kribbeln und blinzle hektisch. Verdammt, was macht dieser Ort mit mir? Zu Hause in Pasadena muss ich nie heulen. »Zuerst komme ich hierher, um meinem Freund und mir noch eine Chance zu geben. Dann verliebe ich mich in einen anderen, der aber meine Gefühle nicht erwidert. Anschließend werde ich fast unter einer Lawine begraben und sitze jetzt mit beiden in einem Ort fest, der so klein ist, dass man keinem richtig aus dem Weg gehen kann. Das ist mir gerade einfach zu viel. Und deshalb schlage ich vor, dass wir den Diner aufteilen.« Ich gestikuliere in seine Richtung. »Von mir aus kannst du dir aussuchen, wann du dort sein darfst. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du dir zu meinen Zeiten einen anderen Ort suchst. Ich brauche einfach nur eine Ecke mit WLAN , in der ich meine Ruhe habe.«

»Gibt es bei Peyton etwa kein anständiges WLAN ?« Theo stützt sich auf seine Schaufel und sieht mich abschätzig an.

»Verdammt, Theo, kannst du einfach Schnee schippen?« Ungehalten dreht Nolan sich zu ihm um. »Das alles geht dich überhaupt nichts an.«

»Dann solltet ihr das vielleicht nicht auf offener Straße besprechen, oder?« Theo zuckt nur mit den Schultern. »Und ich meine ja nur … Wenn Peyton nicht mal WLAN hat, würde ich es da keine fünf Minuten aushalten.«

»Es gibt schon WLAN «, gebe ich zu. »Also, vor allem an einem Tisch unten im Frühstücksraum. Aber da sitzt Mason und ich glaube, er flirtet mit Hunters Mitbewohnerin.«

»Mit Grace?« Nolan runzelt die Stirn. »Ernsthaft? Er will sie aber nicht für irgendeine Egotrip-Scheiße benutzen, oder? Das hat Grace nämlich nicht verdient.«

Ich schüttle den Kopf. »So ist Mason nicht. Und Grace wirkt, als könnte sie gut auf sich allein aufpassen.«

Nolan verstummt für einen Moment, mustert mich nur. Warum sieht er mich so an? Warum entdecke ich geschmolzenen Schnee in seinen Wimpern und warum versetzt mir das ein Gefühl, als würde mein Herz zerfließen? Kann Nolan es nicht wenigstens jetzt weniger schwer für mich machen?

»Pass auf, ich werde von hier verschwinden, sobald die Straße frei ist«, versuche ich es noch mal. »Es geht also nur um ein paar Tage, in denen ich gerne Nolan-freie Zeiten im Diner hätte. Wäre das möglich?«

Nolan schüttelt den Kopf. »Ich habe deinen Brief gelesen, Ava.«

»Brief?« Theo lacht auf. »Ist ja voll analog. Wer schreibt denn heute noch Briefe?«

»Klappe, Theo.« Nolan dreht sich nicht mal zu ihm um. »Gestern Abend erst. Es tut mir leid. Ich habe die ganze Zeit nicht kapiert, warum du so komisch zu mir warst. Du hast erwartet, dass ich irgendetwas dazu sage, richtig? Aber ich hatte ehrlich keine Ahnung, was los war.«

Entgeistert starre ich ihn an, spüre Hitze in meinen Wangen entflammen. Ist das jetzt der Moment, in dem Nolans ersehnte Reaktion auf meine Worte kommt? Mein schönstes Erlebnis bist du. Verdammt, das war echt drüber, oder? Ich konnte gar nicht anders, als mich in dich zu verlieben. Gott, ich war an dem Tag komplett überdreht. Unsicher winde ich mich unter seinem Blick. »Aber wieso hast du ihn erst gestern gelesen? Ich habe ihn schon vor dem Lawinenabgang geschrieben.«

In einer hilflosen Geste hebt Nolan die Schultern. »Leroy muss aufgeräumt haben. Dein Brief lag bei meiner ganzen anderen Post in meinem Fach. Und die habe ich erst gestern mit nach Hause genommen, als Hunter zum Essen kam.«

»Wow! Das ist schlimmer als in diesen Soaps, die mein Dad immer im Fernsehen guckt.«

Diesmal reagiert Nolan nicht auf Theos Kommentar. Er steht nur da und sieht mich an. Und ich … Alles in mir kreist schnell wie ein Glücksrad. Hunderte Gedanken und Gefühle gleichzeitig. Mein ganzer Körper überhitzt, weil plötzlich wieder alles offen ist.

»Ava, ich …« Nolan holt tief Luft. Einen winzigen Moment lang wird sein Blick sehr weich, sehr verletzlich, sehr durchlässig. Es kommt mir vor, als würde ich fallen – wie in einen Abgrund. Nolan macht eine winzige Bewegung auf mich zu. Ich frage mich … Unwillkürlich wandert mein Blick zu seinen Lippen.

Als hätte er es bemerkt, dreht Nolan sich kurz zu Theo um, berührt mich dann am Arm – ganz sacht nur, als wagte er nicht, mich richtig anzufassen. Wortlos fordert er mich auf, ein paar Schritte mehr Abstand zwischen Theo und uns zu bringen.

»Können wir vielleicht später noch reden?«, fragt er mich. Etwas schimmert in seiner dunklen Iris. Da liegt eine Anspannung in seinen Augenwinkeln und um seinen Mund. Durchs Fotografieren habe ich einen Blick für Gesichter – und ganz besonders für Nolans. Mir entgeht nicht, wie zerrissen er plötzlich wirkt. »Gerade kann ich nicht weg, weil ich die Verantwortung für Theo habe. Aber …« Wieder bricht er ab, sieht mich fragend an. »Morgen habe ich den ganzen Tag frei. Vielleicht … Willst du mir vielleicht endlich mal deine Telefonnummer geben?«

»Ja, klar.« Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, wie ich es aushalten soll, noch länger auf Nolans Antwort zu warten, wenn sich das Glücksrad in mir weiter so schnell dreht. Das kann mir innerhalb kürzester Zeit gewaltig um die Ohren fliegen. Nolan zieht sich einen Handschuh aus und sein Smartphone aus der Jackentasche. Rasch diktiere ich ihm meine Nummer.

»Ich weiß nicht, wann ich hier heute wegkomme«, sagt Nolan zu allem Überfluss. »Nach dem Sturm fällt für uns jede Menge Arbeit an. Aber sobald ich Schluss machen kann, melde ich mich bei dir, in Ordnung?«

Wieder nicke ich nur. Am liebsten würde ich ihn anflehen, mir bitte, bitte, bitte zu sagen, ob es irgendeine Chance für uns gibt. Aber Nolan blickt sich schon wieder besorgt zu Theo um und mir ist klar, wie unangenehm ihm das hier vor dem Jungen ist. Also murmle ich nur etwas, das hoffentlich wie »Bis später« klingt. Dann stapfe ich zurück zu den Reifenspuren im Schnee.

»Und, Ava?«, hält Nolan mich noch einmal zurück. Ein leises Lächeln spielt um seine Lippen. »Ich will den Diner gar nicht aufteilen.«

Einen winzigen Moment lang blitzt so etwas wie ein zaghaftes Glücksgefühl in mir auf. Kurz scheint es, als könnte das Rad zum Stillstand kommen. Aber dann bewegt es sich doch weiter. Was genau will Nolan mir damit sagen? Das kann ja wohl alles oder nichts bedeuten.