0.1

 

Mein Name war Wyatt Nazari und auf den Tag genau vor einem Jahr bin ich geboren worden. Das mochte einem seltsam vorkommen, betrachtete man den Körper des Achtundzwanzigjährigen, den ich bewohnte. Meine Haut sprach von Jahren, die ich nie erfahren hatte. Meine Augen logen anderen Lebenserfahrung vor, die ich nie gesammelt hatte. Und mein Gesicht löste erfreutes Wiedersehen hervor, das ich nicht teilen konnte.

Wenn man mich nach meiner Herkunft fragte, dann antwortete ich: ›die Tesla-O3 Kolonie auf dem Mars‹, denn da wurde Wyatt Nazari geboren. Fragte man mich nach meiner Familie, so erzählte ich die tragische Geschichte des Paares Nazari und ihrer zwei Kinder, von denen nur eines den unglücklichen Brand ihres Hauses überlebt hatte. Und erkundigte man sich nach meinem Job, so sagte ich Auslieferer von Proviant zu lebensfeindlichen Planeten auf dem Raumschiff Die Wandernde . Ein Beruf, der mit ausreichend Vorbereitung und Sicherheitsprüfung nicht lebensbedrohlicher war als jeder andere Beruf im offenen All. Und dennoch hatte dieser Job vor genau einem Jahr und zwei Wochen Wyatt Nazari das Leben gekostet.

Der Gedanke verfolgte mich jeden Morgen, als ich in Wyatts Kabine aufwachte, umgeben von seinen Sachen und seinen Erinnerungsstücken. In kürzester Zeit putze ich mir die Zähne und schlüpfte in meinen Overall, um mich auf den Weg zu machen, doch wie jeden Tag blieb mein Blick zuerst an dem Foto haften, das neben der Tür hing.

Wyatt hatte es dort hingehangen und ich hatte bisher nicht den Mut gehabt, es abzunehmen. Es zeigte Wyatt und seinen Partner lachend in einer herzlichen Umarmung. Das Foto strahle Frieden aus, eine glückliche Zeit, an die ich keine Erinnerung hatte. Manchmal fragte ich mich, ob ich mich absichtlich damit quälte.

Ich riss meinen Blick von den fröhlichen Gesichtern und eilte aus der Tür.

Manchmal fühlte ich mich noch immer wie ein Schwindler, wenn ich Wyatts Namen als meinen eigenen verwendete. Es war egal, dass jede Zelle meines Körpers identisch zu seiner war. Es hatte keine Bedeutung, dass andere mich mit ihm verwechselten. Das Gesicht, das ich im Spiegel sah, war gleichzeitig meines und ein fremdes. Ich war die perfekte Kopie eines Mannes, der einen frühzeitigen Tod erlitten hatte, doch Kopie blieb nun einmal Kopie.

Die meisten Crewmitglieder der Wandernden hatten sich an meine Anwesenheit gewöhnt und bereits vergessen oder verdrängt, dass ich nicht ganz »der Alte« war, wie sie zu sagen pflegten. Nur einer hatte es nicht vergessen. Nur einer, der keine Gelegenheit verpasste, mich daran zu erinnern, dass ich nicht der Mann war, dessen Namen ich trug. Einer, dessen kalte Blicke mich in meinem tiefsten Inneren verletzten.

Storm.

In dem kurzen Leben, das ich mein Eigen nennen durfte, hatte nichts für mehr Verwirrung und Bauchschmerzen gesorgt als das bloße Dasein dieses jungen Mannes namens Storm. Ich ertappte mich regelmäßig dabei, wie ich nach seiner Hand greifen wollte, obwohl er mir deutlich gemacht hatte, dass meine Berührung nicht willkommen war. Nicht nur einmal musste ich bewusst meinen Blick von ihm lenken, wenn ihn das Licht eines neuen Planeten traf und sich seine Augen mit Wunder füllten. Selbst seine bloße Anwesenheit war so anziehend für mich, dass ich konstant den Drang unterdrücken musste, ihn zu berühren. Mir war bewusst, wieso mein Körper sich nach ihm sehnte, doch es erschloss sich mir nicht, wie mein Verstand jemanden vermissen konnte, der mir nie mehr als eine Handvoll Worte entgegengebracht hatte.

Dennoch konnte ich ihm seinen Hass nicht verdenken.

Wie sollte auch jemand erwarten, dass er freudig Tag ein, Tag aus in das Gesicht seines verstorbenen Geliebten blickte, der ihn konstant an seinen Kummer erinnerte und ihm den nötigen Abschluss verweigerte?

Aus den wenigen Informationen, die ich aus den anderen Crewmitgliedern herauskitzeln konnte, waren Wyatt und Storm jahrelang unzertrennlich. Doch ihre Geschichte nahm ein tragisches Ende, als Wyatt sich auf einer Auslieferungsmission plötzlich in der Schusslinie zweier verfeindeter Clans wiederfand. Es hieß, er hatte den Konflikt entschärfen wollen, denn Wyatt Nazari war ein mutiger, entschlossener Mann.

Storm hatte seinen Partner verloren und eine billige Sicherheitskopie an seiner Stelle erhalten. Nun gut, billig war meine Anfertigung sicher nicht, bei all der Technologie, die in die Reproduzierung von Zellen gesteckt werden musste. Und nichts anderes war ich. Ein perfektes Replikat.

Ein Klon.

Nur wenige Menschen in der Galaxis konnten sich einen Klon leisten und die meisten von ihnen waren intelligent genug, keinen zu wollen. Nicht selten lief bei der Anfertigung etwas schief und die Kopie stellte sich als nicht lebensfähig heraus. Und war sie es doch, dann stand man lediglich seinem Duplikat gegenüber. Der Wunsch, womöglich das eigene Bewusstsein in den Körper des Klons zu übertragen und sich somit ein weiteres Leben zu verschaffen, blieb nach wie vor Zukunftsmusik. So viel Geld wie die Reichen und Mächtigen der Galaxie auch in diese Forschung steckten, der Schlüssel zum ewigen Leben blieb ihnen verwehrt.

Wie jemand wie Wyatt Nazari, ein Lieferant ohne nennenswertes Kapital oder namhafter Herkunft, an einen Sicherheitsklon gekommen war, hatte man mir nicht verraten. Wieso er geglaubt hatte, einen zu brauchen, erst recht nicht. Doch seine Ängste hatten sich schließlich bewahrheitet – denn hier war ich, das synthetische Abbild eines einfachen Menschen, der dem Tod entgehen wollte.

Ich war und war doch nicht Wyatt Nazari. Denn ich hatte alles, was mein Original ausgemacht hatte – außer seiner Erinnerungen.

Erinnerungen waren eine seltsame Sache. Sie machten so viel von einem Menschen aus. Doch verlor der Mensch seine Erinnerungen, so behielt er nach wie vor sein Wesen. Ich wusste nicht, was ich von Wyatt hatte. Mir fehlten zwar die wichtigen Momente seines Lebens, die ihn geprägt hatten, doch ich war keinesfalls eine leere Hülle. Ich hatte Gefühle und Empfindungen, eine eigene Meinung und einen freien Willen. Ich wusste, was mir gefiel und was nicht, was richtig war und was falsch. Waren das ebenfalls Dinge, die Wyatt ausgemacht hatten, oder gehörten sie von Natur aus mir?

Es gab nur einen Menschen, der mir diese Fragen hätte beantworten können, doch dieser Mensch wollte nichts mit mir zu tun haben. Die wenige Interaktion, die Storm zuließ, waren die überlebenswichtigen Details unserer Missionen. Ein Jahr lang hatte ich vergeblich versucht, ein Gespräch zu ersuchen, eine Art Kameradschaft oder sogar Freundschaft zu dem Mann aufzubauen, der in mir ein seltsames Gefühl der Zugehörigkeit auslöste.

Doch Storm zeigte mir jedes Mal wieder aufs Neue, dass meine bloße Anwesenheit ihn anwiderte. Mit jedem Tag verlor ich mehr und mehr die Hoffnung, das Lächeln, das ich so gut von meinem Foto kannte, einmal in Realität erleben zu dürfen.

Aber nun hatte ich einen triftigen Grund, ein Gespräch mit ihm zu suchen, einen Grund, den er nicht ignorieren konnte, wenn er die Befehle unseres Captains nicht missachten wollte.

Es hatte sich ungewöhnlicherweise so zugetragen, dass wir am Abend vor unserem Abflug vom Versorgungshafen auf Proxima B ein unangemeldetes Paket erhalten hatten. Dass ein Lieferschiff Post bekam, war schon eine Seltenheit an sich, jedoch ein Paket, dessen Absenderkoordinaten scheinbar mitten im Nichts landeten, war völlig irrsinnig. Ich hatte absichtlich doppelt kontrolliert, ob ich mich nicht versehen hatte und es dort doch eine winzige Raumstation gab, die mir entfallen war, aber nein – der Absender lag angeblich inmitten des Alls am Rand der Galaxie.

Ich hatte das Paket an mich genommen und war damit sofort zu Bao Leh gegangen.

Bao Leh war Captain unseres Schiffs und das einzige nicht menschliche Wesen unserer Crew. Wie einige meiner menschlichen Kollegen, ließ unser Captain sich nicht in binäre Geschlechter gliedern, weshalb nicht nur unsere Schlaf- und Waschräume angepasst wurden, sondern auch unsere Sprache sich gewandelt hatte.

Bao Leh war nicht nur äußerst geschickt im Navigieren durch Asteroidengürtel, sondern zusätzlich noch ein brillanter Kopf in der Astrophysik. Diese Spezies der Lliseeria war bekannt für ihre Begabung im Verständnis unseres Universums. Sie waren auch diejenigen, die das Reisen per Rosenbrücke zugänglich gemacht hatten und damit das Überbrücken der Distanzen von mehreren Lichtjahren in nur wenigen Sekunden ermöglicht hatten.

Für all diese Intelligenz fehlte xiem allerdings jegliche Menschenkenntnis. Daher hielt ich vor der Tür unseres Captains erst inne, holte tief Luft und bereitete mich auf ein schmerzhaft zähes Gespräch vor.

Ich klopfte an der Tür – eine sehr menschliche Angewohnheit, die mir scheinbar durch mein Original übertragen worden ist – und wartete auf den typischen gurgelnden Laut, der mir verriet, dass ich eintreten durfte.

Bao Leh ‚saß‘ an xienem Schreibtisch, wie ein Liiseeria nun einmal sitzen konnte: Mit xiesen geleeartigen Gliedmaßen zusammengedrückt, um sich der Höhe des Tisches anzupassen. Bao Lehs Körper hatte die für Liiseeria typische lila Färbung. Die Gliedmaßen waren weich und dem Bedarf nach ausdehnbar. Nur der Kopf war hart, mit Aussparungen für Augen und einem breiten Mund, gekrönt von einer Mähne aus dunkleren Haaren, die mich an Algen von der Erde erinnerten.

»Grgh ?«, machte Bao Leh. Ein nasses Geräusch, das xier von sich gab, wenn xier zu faul zum Sprechen war.

Ich hievte das in braunes Packpapier verpackte Paket von der Größe einer alten Mikrowelle mit einem Grunzen von meiner Schulter und ließ es auf dem Tisch nieder.

Bao Leh blickte mich nicht sehr begeistert an.

»Das hier wurde fürs Schiff abgegeben«, erklärte ich. »Absender unbekannt. Allerdings hat mich der Typ, der mir das Paket übergeben hat, seltsam gemustert. Ich kann nicht sagen, ob er nur skeptisch gegenüber Terranern ist, oder einfach ein Problem mit mir hatte.«

»Hast du was Dummes zu ihm gesagt?«, fragte Bao Leh in einer gurgelnden Stimme, die mich immer an das Blubbern eines Wasserkochers erinnerte.

»Natürlich nicht.«

»Wieso sollte er dann ein Problem mit dir gehabt haben? Vielleicht hast du ihn ja beleidigt, ohne es zu wissen.«

Ich verzog eine Augenbraue. »Kann nicht sein, ich habe gar nichts gesagt.«

»Dann war wohl das das Problem. Hat man dir keine Manieren beigebracht, Nazari? Soll ich für dich einen Termin bei der intergalaktischen Kommunikationszentrale buchen? Es gibt sehr spannende Kurse für den korrekten Umgang mit diversen Spezies.«

Aus Bao Lehs Stimme ging nicht hervor, ob xier mich nur ärgern wollte, oder ob das ein ernster Vorschlag war, aber dies war einer der Gründe, weshalb unsere Kommunikation wohl nicht die beste war.

Ich atmete tief durch. »Danke, ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.«

Bao Leh gab ein weiteres gurgelndes Geräusch von sich. »Unterschätze nicht die Wichtigkeit der richtigen Kommunikation. Es wurden schon Kriege wegen eines falschen Wortes begonnen.«

»Das …Hmm, ja, du hast Recht, ich werde mich mehr bemühen. Können wir jetzt über das Paket sprechen?«, bat ich mit aufgesetztem Lächeln.

»Welches Paket?«

Ich atmete erneut tief durch. Das Gesicht des Captains blieb unleserlich. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es an mir lag und ich einfach die Mimik der Lliseeria nicht verstand.

»Das vor deiner Nase.«

»Was soll ich damit machen?«

»Es … öffnen?«, presste ich hervor und versuchte, einen ruhigen Ausdruck zu bewahren.

Bao Leh musterte die Verpackung. »Es ist nicht an mich adressiert.«

»Das nicht, aber es ist ans Schiff adressiert, daher dachte ich …«

»Das Schiff wird es wohl kaum öffnen können.«

Ich blinzelte den Captain an. Sollte das Humor gewesen sein, oder stellte Bao Leh nur das Offensichtliche dar?

»Ich hab da eine Idee: Du könntest es öffnen«, schlug ich mit hochgezogener Augenbraue vor.

»Kein Interesse.«

»Was soll ich dann damit machen?«

»Bring es zu unserem Logistiker. Er ist für die Fracht verantwortlich und zählt dazu nicht auch ein unangekündigtes Paket an Bord?«

Ich atmete tief ein. »Du weißt, wie Storm auf mich zu sprechen ist. Ich bezweifle, dass es klug wäre, ihn so kurz vor unserem Abflug zu nerven. Vielleicht lassen wir das Paket einfach hier und tun so, als hätten wir nie eins bekommen?«

»Grgh. Ich hatte euch zwei gesagt, ich beschäftige euch nur weiterhin, wenn ihr zivilisiert miteinander umgehen könnt. Stellt euer ehemaliges Verhältnis ein Problem dar, Nazari? Ich hätte hier einen Antrag auf Versetzung, die Eyecatcher sucht noch nach jemandem, der anpacken kann.«

Ich hievte das Paket eilig zurück auf meine Schulter. »Ist ja gut. Ich bin schon weg.«

 

 

Ich entdeckte Storm im Hangar mit einem Klemmbrett in der einen Hand. Mit der anderen delegierte er mit wilden Gesten die letzten Ladungen unserer Fracht.

Aus der Ferne wirkte er so schmal, beinahe dürr, doch ich wusste, wie viel Kraft in seinem Körper wirklich steckte. Seine Haare standen wie immer in alle Richtungen. Er hatte jegliche Bemühungen aufgegeben, sie zu bändigen. Jedoch passten sie so zu ihm – wild und unzähmbar wie der junge Mann selbst.

Storm war ein Mysterium in jeglicher Hinsicht. Nicht nur sein Name warf Fragen auf, auch seine Herkunft blieb ein Geheimnis. Mit vier Jahren wurde er vom Captain auf einem kleinen Planeten außerhalb des Kuipergürtels während eines Sturms der Stufe 11 gefunden. Ohne jegliche Hinweise auf einen Vormund oder gar einen anderen Menschen hatte der Captain den Jungen aufgenommen und behandelte ihn seither wie xienen eigenen Sprössling.

Storm erwischte mich beim Starren, bevor ich so tun konnte, als hätte sein Anblick mich nicht zum Stillstand gebracht. Sein Blick wurde sofort hart, seine Körper spannte sich an.

Obwohl ich wusste, dass ich ihm mit meiner bloßen Anwesenheit jedes Mal erneut Schmerzen zufügte, konnte ich nicht anders, als seine Nähe zu genießen. Ich bemühte mich wirklich, mich ihm zuliebe von ihm fernzuhalten. Wenn er einen Raum betrat, verließ ich ihn nach Möglichkeit. Bei Besprechungen im Team setzte ich mich so an den Tisch, dass er mich nicht sehen musste. Doch der Zufall schien uns immer wieder zusammenbringen zu wollen. Ich stieß auffallend oft in den Gängen beinahe mit ihm zusammen. Wenn ich den Trainingsraum verließ, kam er gerade herein. Es war, als wollte mir das Universum einen Streich spielen. Als wäre ich nicht sowieso schon geplagt von einem schlechten Gewissen und gepeinigt vom Drang, seine Nähe zu suchen.

Bevor Storm sich von mir abwenden konnte, eilte ich zu ihm. »Ich bin nicht hier, um dich mit Fragen zu quälen. Ich soll nur ein Paket abgeben, Captains Anweisung.«

Vorsichtig ließ ich das schwere Päckchen von meinen Schultern gleiten und stellte es Storm vor die Füße.

Er blickte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Storms graue Augen trugen Stürme in sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Bao Leh sagte immer, der Junge habe dem Planeten, auf dem man ihn ausgesetzt hatte, aus Trotz die Kraft geraubt. Was auch immer das heißen mochte. Ich wusste nur, dass ich noch nie einem Menschen begegnet war, in dessen Augen ein Wirbelsturm tobte.

Storm musterte unbeeindruckt das braune Paket. »Woher hast du das? Ich habe keine Informationen zu außerplanmäßigen Lieferungen erhalten.«

»Ehm«, machte ich und ging mir verlegen durch die Haare. Obwohl Storm kleiner war als ich, schien ich unter seinem Blick immer zu schrumpfen. »Es wurde mir in die Hände gedrückt?«

Storm hob eine Augenbraue und sah mich wartend an.

»Da gibt es wirklich nicht viel mehr zu sagen«, fuhr ich fort. »Ich kannte den Mann nicht. Es ist alles leicht kurios, die Koordinaten des Absenders habe ich bereits gecheckt und … Sie führen ins Nichts.«

»Ins Nichts?«

Ich nickte. »In der Position befindet sich weder ein Planet noch eine Station. Es handelt sich allgemein um ein sehr leeres Fleckchen im All.«

»Du musst dich vertan haben. Da muss etwas sein.«

»Ich habe extra doppelt nachgesehen.«

»Hmm. Ich checke das selbst nochmal. Nachdem ich nachgesehen habe, was drin ist.«

Storm griff nach dem Päckchen, hob es mit Leichtigkeit über seine Schulter und wandte sich ohne ein weiteres Wort von mir ab.

Am liebsten wäre ich ihm gefolgt, nicht zuletzt, weil ich selbst gern den Inhalt dieses ominösen Pakets gekannt hätte. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als mich in meine Kabine zurückzuziehen und mich auf den Start vorzubereiten.

 

 

Es war bereits spät und das Bordprogramm hatte die Schiffsbeleuchtung auf ‚Abend‘ gedimmt, als es plötzlich an meiner Tür klopfte.

Niemand klopfte sonst an meiner Tür. Die anderen Crewmitglieder hatten meine Anwesenheit zwar besser akzeptiert als Storm, jedoch suchten sie nie meine Gesellschaft außerhalb des Jobs. Ich hatte mich schnell damit abfinden müssen, meine Freizeit allein verbringen zu müssen. Das war einsam, aber ersparte mir auch unangenehme Begegnungen, in denen ich mit meinem Original verwechselt wurde.

Noch bevor ich die Tür richtig öffnen konnte, stürmte der junge Mann, der mich in meinen Träume plagte, an mir vorbei in mein Zimmer und begann, hektisch auf und ab zu gehen.

»Glaub jetzt ja nicht, das hier hätte etwas zu bedeuten«, warnte Storm aufgebracht. Seine Haare waren noch zerzauster als zuvor und seine rote Unterlippe verriet, dass er auf ihr herumgekaut haben musste. »Ich komme nur zu dir, weil die Sache leider auch dich betrifft… Auch wenn ich nicht weiß, wieso Wyatt das getan hat.«

Bei meinem Namen – nein, dem Namen meines Originals – spannte sich mein ganzer Körper an. Storm sprach ihn so selten aus, dass mich die Sanftheit in seiner Stimme überrumpelte.

»Was …«, begann ich, doch Storm brachte mich mit einer wedelnden Handbewegung zum Schweigen.

Na gut, wenn er wollte, dass ich schwieg, dann würde ich schweigen.

Fürs erste.

Der stürmische Mann kam endlich zum Stillstand und atmete tief durch. Es war, als würde der gesamte Raum mit ihm zusammen zur Ruhe kommen. Ich spürte, wie sich meine Schultern lockerten und ich selbst stieß einen Atemzug aus, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich ihn angehalten hatte.

Storms Augen waren ein Wirbelsturm, als er mich endlich ansah.

»Das Paket ist von Wyatt«, erklärte er schließlich. »Von dem echten. Er hatte veranlasst, dass es im Fall seines Todes verschickt wird. Im Inneren war ein Brief, adressiert an mich und … an dich.«

Ich verzog überrascht eine Augenbraue. Das hatte ich nicht erwartet. Am liebsten hätte ich Storm sofort mit Fragen gelöchert, doch ich sah seinem Gesicht an, dass er offensichtlich noch Zeit brauchte, um die Situation zu begreifen, und ich wollte ihn nicht hetzen.

»Ich kann es immer noch nicht glauben. Dieser verdammte Idiot … Wieso hat er mir nie erzählt, dass er einen Plan für solch eine Situation hatte?«, fragte Storm mit brüchiger Stimme. Ein hicksendes Lachen entfloh ihm. »Ich weiß, wieso. Weil ich nicht hätte darüber reden wollen. Ich wollte mir nie vorstellen, was passieren würde, sollte einer von uns beiden sterben. Das stand einfach nicht zur Debatte!«

Tränen bildeten sich in Storms Augen und machten aus dem tobenden Sturm in ihnen einen Orkan. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, besann mich aber eines Besseren und zog sie hastig zurück. Meine Gefühle waren aufgewühlt und ich sehnte mich nach Storms Nähe, doch ich musste mich beherrschen, wenn ich ihn nicht weiter verletzen wollte.

»Wir hatten noch so viel vor, er und ich«, fuhr Storm fort.

Die Tränen liefen ihm ungezügelt über die Wangen. Noch nie hatte er so lange meinen Blick gehalten und das brachte meinen Magen zum Kribbeln. Und obwohl ich endlich die Chance hatte, ein Gespräch mit ihm zu führen, war unsere Konversation erneut von Schmerz getragen.

»Und dann verlässt er mich einfach und hinterlässt ein … ein … ein abstruses Spiegelbild von sich!« Storm wedelte wild mit einer Hand in meine Richtung. »Und wofür? Um mich zu peinigen? Um mir zu verwehren, ihn jemals zu vergessen? Soll ich für immer von seinem Geist geplagt werden?«

Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Seine wilden Gesten erschlafften und er kniff vor Tränen die Augen zusammen. Sein Anblick verformte meinen Magen zu einem Knoten.

»Ich weiß nicht, was seine Absicht gewesen ist. Ich könnte dir sagen, er hat mich hinterlassen, um dir Trost zu spenden«, begann ich und wagte noch einen Schritt. »Ich könnte sagen, er wollte sichergehen, dass jemand auf dich aufpasst.« Vorsichtig streckte ich einen Arm aus und berührte sachte seine Hand. »Doch das kann ich nicht wissen. Ich bin weder sein Geist noch sein Spiegelbild, Storm. Ich mag so aussehen wie er, vielleicht empfinde ich auch genauso wie er, doch eins steht fest, ich bin nicht der Wyatt Nazari, den du verloren hast.«

Storm blinzelte die Tränen weg und blickte mich mit zusammengepressten Lippen an.

»Aber vielleicht kannst du mir helfen, zu erkennen, wer ich noch werden kann?«

Leider hatten meine Worte nicht den gewünschten Effekt, denn Storms Blick wurde mit einem Mal wieder wütend. Er zog seine Hand weg, als hätte ich ihn verbrannt und brachte erneut Distanz zwischen uns. Mit erhobenem Kinn wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Ein Moment der Schwäche hat mich kurz vergessen lassen, wieso ich eigentlich hier bin«, zischte Storm kalt. »Und dass du meine Verwundbarkeit gerade ausnutzt, um dich mir anzunähern, zeigt mir, dass du nichts mit dem echten Wyatt gemein hast.«

»Ich…«, begann ich.

»Spar dir die Entschuldigung. Hier.«

Er griff in die Hosentasche seines Overalls und zog einen Zettel heraus, den er mir entgegenwarf. Ich fing ihn noch in der Luft und öffnete ihn sofort.

 

An Storm

Und mich selbst, schätze ich. Ihr habt sicher viele Fragen.

Vielleicht findet ihr die Antworten in den folgenden Sternen.

 

Darunter waren Koordinaten abgebildet.

»Das sind dieselben Koordinaten, wie die des Absenders auf dem Paket«, stellte ich fest. Storm nickte. »Was war noch in dem Paket?«, wollte ich wissen.

Storm atmete tief durch, vermutlich um seine Stimme zu beruhigen. »Eine alte Tonfigur.«

Ich verzog überrascht die Augenbrauen.

»Frag nicht, ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat. Aber ich habe uns einen Gleiter reserviert. Zieh dich an, wir machen einen Ausflug.«