0.2

 

Storm steuerte den Gleiter gekonnt durch das dunkle Meer der Sterne in Richtung der nächsten Rosenbrücke. Bao Leh hatte nur widerwillig zugestimmt, uns ein Ticket zu beantragen, während wir uns bereits auf den Weg machten. Storm wollte keine Zeit verlieren. Oder er wollte so wenig Zeit wie möglich mit mir verbringen, was ich ihm nicht verdenken konnte. Vor allem nicht nach der Katastrophe, die unser letztes Gespräch dargestellt hatte. Konnte ich mich so schlecht ausdrücken, oder wollte Storm mich immer missverstehen? Ich wunderte mich, dass er mich überhaupt mitgenommen hatte.

Der Gleiter war ein schmales Schiff mit spitz zulaufender Front. Außer unseren beiden Sitzen gab es nur eine Ausklapp-Pritsche für den Notfall und ein wenig Stauraum, den wir nur für die Tonfigur genutzt hatten. Die Tonfigur stellte sich als eine Art Primat heraus, der sich mit den Händen die Augen zuhielt. Leider fand ich keinerlei Hinweis auf ihre Bedeutung.

Scheinbar rechnete Storm lediglich mit einem kurzen Ausflug, denn wir hatten weder Proviant noch Ausrüstung für eine Notlandung dabei.

Bao Leh hielt xiese Versprechen, sodass wir zumindest problemlos die Rosenbrücke passieren konnten. Obwohl die Wandernde regelmäßig die schwarzen Tunnel des Universums nutzte, hatte ich mich noch immer nicht an die Turbulenzen gewöhnt, was vermutlich auf meinen relativ neuen Körper zurückzuführen war. Während ich versuchte, mich nicht über die gesamte Konsole zu übergeben, haftete Storms Blick unerbittlich an den vorbeirauschenden Sternen.

Der Gleiter war so klein, dass man es nicht einmal für nötig befunden hatte, eine KI einzubauen, weshalb wir uns ausschließlich auf das Navi verlassen mussten und die digitale Anzeige, die die Sekunden bis zum Austritt aus der Rosenbrücke zurückzählte.

Meine Augen klebten förmlich an den absteigenden Zahlen und als wir endlich die Null erreichten, kam der Gleiter zu einem abrupten Stopp. Ich holte tief Luft, um meinen Mageninhalt bei mir zu behalten.

Ein neues Sternenbild begrüßte uns, eines, das ich bisher noch nicht bereist hatte. Es hatte zwar nur wenige Minuten gedauert von unserer Seite der Galaxis hierher zu kommen, jedoch war es den Weg und vor allem das Geld für das Ticket normalerweise nicht wert. Wir befanden uns am Rand der Milchstraße, wo die Sterne klein und schwach waren, mit kaum nennenswerten Planeten in den umliegenden Lichtjahren. Zumindest nicht nennenswert für das Galaktische Zentrum. Wieso mein Original uns ausgerechnet hierhergeschickt hatte, blieb mir unbegreiflich.

»Waren Wyatt und du schonmal hier?«, fragte ich, woraufhin Storm mir nur einen wütenden Blick zuwarf.

»Alles klar, keine Fragen stellen«, seufzte ich. »Ich habe verstanden.«

Storm schloss die Augen und biss die Lippen zusammen, bevor er sich mir schließlich zuwandte.

»Nein. Mir wäre auch nicht bewusst, dass er ohne mich hier gewesen ist. Aber vielleicht hat er es mir auch einfach verschwiegen. Wäre ja nicht das einzige, das er mir nicht gesagt hat«, sagte Storm verbittert.

Bevor ich etwas erwidern konnte und mich unnötig in die Scheiße ritt, setzte uns das Navi in Kenntnis darüber, dass wir unser Ziel beinahe erreicht hatten. Angestrengt versuchte ich in der Dunkelheit etwas zu erkennen, das nach einem bewohnbaren Kometen oder einer kleinen Raumstation aussah, doch ich konnte nichts entdecken. Auch das System nahm nichts wahr.

»Ich verstehe das nicht«, begann Strom und tippte auf der Konsole herum. »Die Koordinaten sind korrekt. Ich war mir so sicher, dass hier etwas sein würde. Wieso sollte Wyatt mich hierherschicken, wenn hier nichts ist?«

»Es gibt bestimmt einen guten Grund, warum wir hier sind … könnten wir etwas übersehen haben? Oder vielleicht war hier mal etwas, das jetzt nicht mehr da ist?«, fragte ich schließlich trotzdem.

»Unwahrscheinlich, wir würden Spuren einer ehemaligen Station oder Ähnliches sehen.«

»Könnten wir etwas an der Statue übersehen haben? Die wird er uns ja vermutlich nicht geschickt haben, weil sie so hübsch ist.«

Ich stand auf, um die Primatenfigur aus dem Gepäckfach zu befreien und musterte sie erneut von allen Seiten.

»Da ist nichts zu erkennen«, seufzte ich schließlich. »Kein verstecktes Zeichen oder sonst irgendwas, das wir übersehen hätten.«

Storm nahm mir die Figur aus den Händen, während ich mich zurück in meinen Sitz fallen ließ. Frustriert platzierte er den Primaten auf die Konsole.

Plötzlich gab das Navi ein ping von sich.

Storm und ich tauschten einen überraschten Blick aus, bevor wir wie zwei Verrückte das Navi überfielen. Die Figur hatte ein Signal ausgelöst, das das System ein klares Ziel anpeilen ließ. Zwar konnten unsere Augen in der Dunkelheit des Alls nach wie vor nichts erkennen, jedoch blinkte das Navi plötzlich mit einem Ziel nur wenige hundert Meter von uns entfernt.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich.

»In der Figur muss ein Chip versteckt sein… Obwohl das nicht erklärt, wieso das System vorher keine Landemöglichkeiten orten konnte.«

»Vielleicht wollen sie nicht gefunden werden.«

Storm summte nachdenklich. »Du meinst, die Figur könnte den Standort freigeschaltet haben?«

»Wieso nicht? Aber wie dem auch sei, das muss auf jeden Fall der Ort sein, zu dem mein Original uns schicken wollte. Auch wenn es unpraktisch wirkt, so eine große Statue dafür zu verwenden.«

»Hmm.« Storm sank in seinen Sitz zurück und ließ den Kopf hängen.

»Was ist los?«, fragte ich. »Wieso fliegen wir nicht weiter?«

Storm stieß einen tiefen Seufzer aus, als er den Blick wieder nach vorne wandte. »Es klingt vielleicht seltsam, aber ich fühle mich nicht bereit, das hier enden zu lassen.«

»Wie meinst du das? Wir haben das Ganze noch nicht einmal richtig begonnen.«

»Du vielleicht nicht. Ich habe allerdings das Gefühl, ich befinde mich schon ewig auf dieser Reise … Seit Wyatt gestorben ist, seit du aufgetaucht bist, fühle ich mich, als wäre ich nie zum Stillstand gekommen. Ich bin konstant in Bewegung, ohne Aussicht auf Rast. Denn wenn ich anhalte, holen mich meine Gefühle ein und ich muss mir eingestehen, dass er tatsächlich fort ist. Und hier ist plötzlich ein Abschluss in Sicht, ein letztes Ziel, das Wyatt mir noch zeigen möchte. Es ist, als hätte er gewusst, dass er mich bremsen müsste.«

Storm ließ sich noch weiter in seinen Sitz sinken.

»Aber hiernach ist alles zu Ende«, fuhr er mit versteinertem Gesicht fort. »Wenn wir das Ziel erreichen, werde ich mich seinem Geist stellen müssen. Das bedeutet Abschied, und Abschied erfordert Mut, den ich nicht habe.«

Ich blickte den Mann an, der gebrochen neben mir saß und empfand zum ersten Mal Wut auf mein Original.

Wieso hatte er meine Erschaffung veranlasst, die dem Menschen, den er liebte, solchen Kummer bereitete? Wie hatte er sich das vorgestellt? Wie sollte mein Dasein helfen, wenn ich nur ein blasses Abbild dessen war, was Storm wollte? Was war ich, wenn nicht eine billige Kopie ohne Zweck?

Ich streckte meinen Arm zu Storms Seite der Konsole und betätigte den Startknopf. Der Gleiter setzte sich sofort in Bewegung. Bald sollte unser Ziel sichtbar werden. Storm warf mir einen zwiespältigen Blick zu, tat aber nichts, um mich aufzuhalten.

In nicht einmal einer Minute tauchte ein Licht nicht weit von uns auf. Der Gleiter wurde langsamer und leitete zur Landung ein. Was sich vor uns ausbreitete, war etwas völlig anderes, als ich erwartet hatte.

»Ist das …«, begann Storm ungläubig und lehnte sich zur Scheibe vor, als könnte er so besser sehen. »… ein Haus?«

Ich tat es ihm gleich. »Es sieht definitiv aus wie ein Haus.«

Tatsächlich erstreckte sich vor uns inmitten der Milchstraße eine Raumstation in Form eines primitiven Hauses von der Erde, mit einem spitz zulaufenden Dach, das sich an den Kanten wölbte und kleinen runden Fenstern an den Wänden. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, es war mit Holz verkleidet. Das Gebäude stand auf einem Gerüst aus sternförmig angeordneten Brücken, an deren Enden Schiffe andocken konnten. Zahlreiche Düsen an Gerüst und Wänden sorgten dafür, dass es sich nicht vom Fleck bewegte. Bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass die Brücken Röhren waren, die alle zu einer großen Kuppel vor dem Eingang des Hauses führten.

Storm und ich tauschten einen ungläubigen Blick aus, bevor er uns vorsichtig zu einer der zahlreichen Brücken am Hafen des Hauses navigierte. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass an den meisten davon bereits Schiffe angedockt waren.

Unser Gleiter knarzte laut, als Storm ihn mit der Brücke koppelte. Eine Anzeige bedeutete uns, dass das Sauerstoff-Verhältnis auf der Station für Menschen kompatibel war. Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was uns in diesem ominösen Haus am Rand der Galaxis erwartete, sprang Storm aus seinem Stuhl und verließ stürmisch den Gleiter.

Mit einem Seufzer eilte ich ihm hinterher.

Alle Brücken schienen zu einer Tür zu führen, dem scheinbar einzigen Eingang des Hauses. Ehe ich mich versah, folgte ich Storm durch die massive Schiebetür, die sich einfach für ihn öffnete, und hatte plötzlich das Gefühl, eine Zeitreise gemacht zu haben.

Im Inneren des Hauses herrschte eine entspannte Atmosphäre, obwohl es alles andere als leise war. Es war wärmer, als ich von meinen Behausungen gewöhnt war und ein Geruch dominierte den Raum, den ich zuerst nicht zuordnen konnte, bevor ich feststellte, dass es Holz sein musste. Denn vom Boden zur Decke war das gesamte Haus in Holz verkleidet.

Ich blieb neben Storm stehen, der mit großen Augen das Schauspiel musterte. Wir mussten uns in einer Art Café befinden, denn überall waren runde Tische, an denen die unterschiedlichsten Wesen saßen und sich unterhielten. Einige von ihnen trugen Atemgeräte, um sich der Atmosphäre in der Station anzupassen. Soweit ich sehen konnte, waren die wenigsten von ihnen menschlich. Niemand schenkte uns Beachtung, während wir wie zwei Verrückte dastanden und unsere Umgebung inspizierten.

»Hallo!«, riss uns plötzlich eine fröhliche Stimme aus unserem Starren.

Instinktiv schob ich mich zwischen Storm und den Fremden, doch der jüngere Mann drückte mich mit einem missmutigen Grunzen zur Seite.

Mein heldenhafter Rettungsversuch stellte sich jedoch sowieso als nichtig heraus, als uns das freundlichste Gesicht begrüßte, das ich je gesehen hatte. Vor uns stand ein menschlicher Mann mit einem runden Gesicht, das von Lachfalten gezeichnet war. Er trug ein Tablett in der Hand, auf dem eine dampfende Kanne und zwei Tassen standen.

»Lasst mich nur das hier schnell wegbringen«, säuselte der Mann lächelnd. »Dann bin ich sofort für euch da!«

Mit einem Summen schlenderte der Unbekannte zu einem der Tische herüber, um den Gästen das heiße Getränk zu servieren.

Ich beugte mich zu Storm vor. »Hast du eine Ahnung, was das hier sein soll?«, flüsterte ich.

Storm warf mir einen Blick zu und brachte erneut Distanz zwischen uns, bevor er mir antwortete. »Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen. Schließlich muss Wyatt hier gewesen sein … Löst nichts von dem hier eine Erinnerung in dir aus?«

Es war nicht das erste Mal, das Storm mich das fragte. Es war vermutlich auch nicht das letzte Mal, das ich ihn enttäuschen musste.

Recht schnell nach meiner ›Geburt‹ wurde mir vorgehalten, dass ich mir nicht genug Mühe gab, mich an mein früheres Leben zu erinnern. Was auch immer das bedeuten sollte… Ich hatte kein früheres Leben. Mein Dasein hatte mit meiner Erschaffung begonnen und mein Leben hatte erst durch Wyatts Tod überhaupt eine Chance bekommen. Scheinbar sollten andere Klone fähig sein, über bestimmte Gerüche oder Eindrücke Erinnerungsfetzen ihrer Originale erlangen zu können. Mir war das nie gelungen. Ob ich mich allerdings absichtlich dagegen wehrte, konnte ich nicht sagen.

Ich dachte, Storm hätte die Hoffnung längst aufgegeben, eine Erinnerung aus mir herauszuquetschen. Ohne auf seine Frage einzugehen, wandte ich mich dem fröhlichen Fremden zu, der die Gäste am Tisch lachend zurückließ und wieder auf uns zusteuerte. In mir verlangte alles danach, nach Storms Hand zu greifen, um mich seiner Sicherheit zu vergewissern, doch ich widerstand dem Drang.

Der Fremde bedeutete uns mit einer Handbewegung ihm an den Tresen am anderen Ende des Raumes zu folgen. Dort warf er sich locker ein Handtuch über die Schulter und griff nach zwei Tassen, um sie mit einer heißen Flüssigkeit zu befüllen. Mit einem Zwinkern reichte er uns die dampfenden Tassen.

»Willkommen im verlorenen Teehaus«, verkündete er. »Darf ich euch einen Sencha anbieten?«

Ich griff instinktiv nach der Tasse, doch Storm hielt mich auf. Er schüttelte warnend den Kopf und blickte den Mann hinter dem Tresen argwöhnisch an.

Der Fremde lachte nur und stellte die Tassen wieder ab. »So reagieren die meisten, die das erste Mal hier sind. Zeigt nur, dass ihr viel erlebt haben müsst. Vielleicht hilft es euch, wenn ich mich zuerst vorstelle. Mein Name ist Sal und ich bin der Besitzer dieses kleinen Teehauses hier. Ich heiße euch herzlich willkommen, Wyatt Nazari und Storm der unbeugsamen Himmel.«

»Woher kennst du unsere Namen?«, verlangte Storm zu wissen.

Sal lächelte und musterte mich eindringlich. »Wie sollte ich den Mann vergessen, der mir einst einen Gott vor die Füße geworfen hat?« Stille umhüllte uns für einen Moment, bevor der Fremde wieder in Lachen ausbrach. »Ihr habt sicher viele Fragen. Kommt, ich möchte euch jemanden vorstellen.«

Perplex sahen wir zu, wie der Mann eine weitere Kanne Tee griff und uns mit einem Nicken bedeutete, ihm nach hinten zu folgen. Ich sah zu Storm herüber. Wie konnte dieser Fremde in einem versteckten Teehaus am Rand der Milchstraße unsere Namen kennen? Nein, nicht unsere – Storms und den meines Originals. Ich konnte in Storms Blick erkennen, dass der echte Wyatt nie über Sal oder diesen Ort gesprochen haben musste.

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte Storm und sah mich zum ersten Mal, seit wir die Raumstation betreten hatten, an. Der Orkan in seinen Augen tobte. Offensichtlich war er aufgewühlter, als er zeigen wollte. »Wyatt hat nie irgendetwas erwähnt, dass das hier auch nur ansatzweise erklären würde …«

»Vielleicht hatte er einen guten Grund dazu«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

Storm verzog nicht überzeugt die Lippen und machte sich auf in Richtung der Trennwand, hinter der Sal zuvor verschwunden war. Doch er tat etwas, das er zuvor noch nie getan hatte. Storm hielt inne und wartete, dass ich ihm folgte.

In mir spiegelte sich der Wirbelsturm, der auch in Storms Augen tobte. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wieso ich hier war.

Wollte ich erfahren, wieso mein Original gewollt hatte, dass ich hierherkomme? Was konnte hier so wichtig sein, dass er nicht auch selbst in einer Nachricht hätte erklären können?

Schließlich hatte er scheinbar für seinen Tod vorausgeplant, das hatte das Paket bewiesen.

 

 

Sal wartete hinter der Trennwand auf uns. Eine Treppe führte dort ins obere Stockwerk und unter ihr befand sich in der Ecke ein kleiner Tisch mit einer Eckbank und zwei Hockern. Sal hatte vier Tassen bereitgestellt und goss vorsichtig Tee ein. Die Ecke hier wirkte ruhiger als die Haupthalle und wurde vermutlich nur privat genutzt.

»Liebling, würdest du dich uns bitte anschließen?«, rief Sal die Treppe hoch, als er uns sah. »Bitte, setzt euch schonmal.«

Storm und ich nahmen unbeholfen auf der Eckbank Platz und ich musste ein Zucken unterdrücken, als sich unsere Knie berührten. So nah war Storm mir freiwillig sonst nie. Das machte mich zusätzlich nervös.

Die Person, die Sal als ›Liebling‹ bezeichnet hatte, stellte sich als großer, breit gebauter Mann mit langem Zopf und mindestens genauso langem Bart heraus. Sein argwöhnischer Blick ruhte ununterbrochen auf uns, als er mit erstaunlich leisem Schritt zu Sal ging, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken, bevor er sich auf einem der beiden Hocker niederließ.

»So sieht man sich wieder, Nazari.« Seine Stimme schoss wie heißes Wasser durch meinen Körper.

Ich kannte diesen Mann. Zwar wusste ich nicht wie oder woher, doch ich war mir ganz sicher, dass wir uns nicht das erste Mal gegenübersaßen. Und doch konnte ich mit Sicherheit sagen, dass unsere Bekanntschaft nicht in meinem jetzigen Leben stattgefunden hatte. Ein Gefühl des Falschseins überkam mich. Es war nicht mein Empfinden, das diesen Fremden einordnen konnte und der Gedanke fühlte sich seltsam übergriffig an. Ich bemerkte erst jetzt, dass Storm mich aus dem Augenwinkel beobachtete. Auf was für eine Reaktion wartete er wohl?

»Ehm…«, begann ich, nicht wissend, was ich erwidern sollte, bevor Sal mich sanft unterbrach.

»Bring unsere Gäste doch nicht in Verlegenheit, Gideon«, bat er den Neuankömmling mit einer Hand auf der Schulter. »Wir hatten ihm schließlich versprochen, zu helfen, sollte es dazu kommen.«

Bei den Worten horchte Storm sichtbar auf. Sal setzte ihm mit einem wissenden Blick eine dampfende Tasse vor, bevor er sich selbst setzte.

»Ich gebe zu, ich habe nie erwartet, Wyatts Bitte nachkommen zu müssen«, erklärte er, »Vor allem nicht so schnell … Aber das offene All ist ein wilder Ort und niemand weiß, wie viele Tage wir noch vor uns haben.«

»Das ist ein schwacher Trost«, entgegnete ich und nippte aus meiner Tasse.

Ein sanfter, leicht bitterer Geschmack verbreitete sich in meinem Mund und beruhigte meine Nerven ein wenig. Storm tat es mir gleich, jedoch wandte er seinen Blick dabei nicht von dem neusten Mitglied unserer Teerunde ab. Der Mann erwiderte seinen Blick amüsiert.

»Ihr habt Fragen, das verstehe ich«, sagte Sal in einem Versuch, die Situation zu entschärfen. »Und niemand kann sie euch besser beantworten als Gideon hier. Aber lasst mich zuerst noch etwas sagen. Storm … was auch immer du dir in den letzten Monaten gedacht haben musst … Wyatt hat das Programm nur einzig und allein dir zuliebe beauftragt.«

Das Programm.

War ich tatsächlich schon darauf reduziert worden?

Die Tasse in Storms Hand zitterte.

»Bullshit«, spuckte er.

Überrascht verzog ich die Augenbrauen. Storm mochte das letzte Jahr nicht der sozialste Mensch zu mir gewesen sein, jedoch war er zu anderen immer die Höflichkeit in Person. Auch Sal schien die Reaktion zu überraschen.

Nur Gideon stieß ein lautes, kehliges Lachen von sich. »Da sagst du was, Bursche. Bullshit. Genauso habe ich auch auf die Idee reagiert, als Nazari sie mir unterbreitet hat.«

»Was ich nicht verstehe, ist, wieso ihr scheinbar von seinen Plänen, zu sterben, gewusst habt, ich aber noch nicht einmal von euren Namen gehört habe!«, entfuhr es Storm.

»Er hatte nicht den Plan zu sterben«, erwiderte Sal sanft. »Ihm wurde nur eine Gelegenheit unterbreitet, die er genutzt hat.«

»Die er verschwendet hat, meiner Meinung nach«, ergänzte Gideon. »Von allem, was er sich von einem imperialen Diplomaten wünschen konnte, hat er zu einer unausgereiften Technologie gegriffen. Und dann auch noch zur günstigsten Variante. Nichts für ungut.«

»Hmm«, machte ich nur.

»Imperialer Diplomat? Eben sagtest du etwas von einem Gott ? Ich weiß nicht, ob ihr mich absichtlich verarschen wollt, aber könnte mir verdammt nochmal einer vernünftig erklären, was hier vorgeht? Ich hatte scheinbar keine Ahnung von dem Leben des Mannes, der mir einst die Welt bedeutet hat!« Storms Stimme bebte wie die Erde während eines Sturms.

»Du hast keine Ahnung, weil Nazari zumindest in der Hinsicht etwas richtig gemacht hat und seine Klappe gehalten hat. Niemand außerhalb dieser Station sollte davon erfahren«, sagte Gideon.

»Wovon erfahren? Was ist das hier für ein beschissener Ort, der nicht einmal auf einer Karte auftaucht?«, verlangte Storm zu wissen und knallte seine Tasse auf den Tisch. Der Inhalt verteilte sich auf seiner Hand, doch der junge Mann schien es nicht zu bemerken.

Ich griff sanft nach seiner Hand und löste seine verkrampften Finger von der heißen Tasse. Zu meiner Überraschung ließ er mich nicht nur gewähren, sondern blickte mich plötzlich mit einem Blick an, als würde er mich zum ersten Mal sehen.

Entschlossen blickte ich unsere Gastgeber an. »Mich würde ebenfalls interessieren, wo wir hier sind. Wie so ein Ort existieren kann … Doch das ist nicht die Information, nach der es mich am meisten verlangt. Seit ich mich erinnern kann, behandelt man mich wie einen Eindringling. Ich fühle mich, als wäre ich in das Leben der Menschen um Wyatt Nazari einmarschiert und hätte dort ein Lager aufgeschlagen. Als hätte ich Anspruch erhoben auf das, was einmal ihm gehört hat. Doch das habe ich nie verlangt. Lange habe ich darüber nachgedacht, was dieses Gefühl der Leere in mir bedeutet. Zuerst dachte ich, es seien die fehlenden Erinnerungen meines Originals. Dann der Mangel an eigenen Errungenschaften. Zuletzt nahm ich an, es sei der Verlust der Gefühle, die Wyatt zu Storm empfunden hat. Letzteres konnte ich ausschließen, schließlich liebe ich Storm ebenfalls.«

Ich hörte den jüngeren Mann neben mir schlucken.

»Ich habe mir dieses Dasein nicht ausgesucht. Ich habe mir erst recht nicht ausgesucht, im Leben eines Menschen zu verschwinden, den ich nie gekannt habe. Mit Anforderungen an mich, die ich nicht erfüllen kann. Ohne das Recht auf eigene Wünsche, eigene Träume, weil jeder davon ausgeht, dass ich mit Kusshand dieses Leben fortführe, das für mich begonnen wurde.«

Ich stieß ein leises Lachen aus.

»Aber wisst ihr, was mir wirklich fehlt? Zuversicht. Zuversicht und Hoffnung darauf, dass mein Leben irgendwann beginnt. Ich habe niemanden, der an mich glaubt. Niemanden, der mich bei der Hand nimmt und mich auf meinem Weg begleitet. Mein Original hatte dich, Storm, und vermutlich haftet etwas von seinen Gefühlen für dich an mir, denn ich wünschte mir nichts mehr, als dich an meiner Seite zu wissen. Und das bedeutet nicht, dass meine Liebe zu dir nicht echt ist – denn das ist sie – das bedeutet nur, dass ich dich bloß ansehen muss, um zu wissen, dass ich dich nicht missen möchte.«

Die Stille war schwer als ich aufhörte zu reden. Alle Augen ruhten auf mir, was mich peinlich berührt zu meiner Tasse greifen ließ. Scheinbar hatte ich mir mehr von der Seele zu reden, als ich gedacht hatte.

»Hrmhrm «, räusperte sich Gideon und blickte amüsiert durch die Runde. »So eine Ansprache habe ich vom alten Nazari definitiv nie gehört. Solch Sentimentalität …«

»Das macht der Tee«, erwiderte Sal mit einem Zwinkern an seinen Partner.

Ich traute mich kaum in Storms Richtung zu sehen. Was für einen Gesichtsausdruck machte er wohl gerade?

»Es ist sicher nicht einfach als Klon«, fuhr Sal fort. »Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, was du durchmachst, aber ich verstehe dein Dilemma. Ich denke nicht, dass Wyatt deine Gefühlslage bedacht hat, als er den Auftrag gegeben hat. Er hat es als Chance auf ein zweites Leben gesehen, sollte er sein erstes verlieren, vermutlich in der Hoffnung, dass du, sein Klon, sein genaues Abbild sein wirst. All das für Storm.«

Storm rutschte unbehaglich auf der Bank neben mir hin und her. Sal fischte von irgendwo unter dem Tisch eine weitere Tasse heraus, die Storm dankend annahm.

»Seht ihr, das ist, was mir noch nicht klar ist … Ihr sagt jetzt schon zum zweiten Mal, dass Wyatt das angeblich alles für mich getan hätte. Aber was daran soll für mich gewesen sein, mir eine Kopie dazulassen, wenn ich genau weiß, dass das Original lange unter der Erde liegt? Was hat er sich erhofft, dass ich mich einfach so seinem Klon hingebe, als wäre nichts gewesen? Hat er mich für so oberflächlich gehalten, dass mir sein Körper ausreichen sollte, ohne dass der Mensch, den ich geliebt habe, noch drinsteckt?«

»Das hat er mit Sicherheit nicht gedacht«, sagte Gideon. »Wenn ich eins weiß, dann ist es, dass Nazari ein eifersüchtiger Mann gewesen ist. Er hätte dich niemals an jemand anderen abgeben können, selbst wenn der andere sein Abbild ist. Sal hat eine zarte Seele und glaubt daran, dass Nazari das für dich getan hat. Wenn du mich fragst, hat er aus einzig egoistischen Gründen gehandelt. Er wollte sichergehen, dass es dir im Fall seines Todes gut geht und vertraute nicht darauf, dass jemand außer ihm selbst diese Aufgabe übernehmen konnte.«

»Hat er mich also für so schwach gehalten? Kann ich mich etwa nicht um mich selbst kümmern?«, fragte Storm und ballte die Fäuste zusammen. »Wieso hat er mit euch über all das gesprochen? Wieso mit euch und nicht mit mir? Hätte er wenigstens auch nur einmal eure Namen oder diesen Ort hier erwähnt, würde ich mich vielleicht nicht so verarscht fühlen.«

Sal und Gideon tauschten einen Blick aus.

»Vielleicht sollten wir ein paar Dinge klarstellen …«, begann Sal. »Darüber, wo ihr hier seid und woher wir Wyatt kennen. Und über das Versprechen, das wir Bao Leh gegeben haben.«

Die Erwähnung unseres Captains trieb mir die Augenbrauen in die Höhe. Scheinbar war ich nicht der einzige, denn ich konnte Storms Anspannung neben mir spüren. Ich musste meine Hände zusammenballen, um mich davon abzuhalten, ihn zu berühren.

»Wie ich bereits erwähnt habe, sind wir hier im verlorenen Teehaus. So nennen wir zumindest diese Station. Die Affenfigur, die euch hergeführt hat, dürfte verraten haben, dass wir nicht unbedingt zu einer Touristenattraktion werden wollen. Das liegt vor allem daran, dass wir uns als neutrale Zone etabliert haben. Wir gehören weder den irdischen Kolonien an, noch unterliegen wir den Gesetzen des imperialen Verbundes.«

Ich hatte noch nie davon gehört, dass es einer Raumstation erlaubt war, autark zu agieren.

Sal musste mir meine Verwunderung am Gesichtsausdruck abgelesen haben, denn er fuhr fort: »Wie es dazu gekommen ist, hat tatsächlich unmittelbar etwas mit Wyatt zu tun, aber dazu komme ich noch. Wie gesagt, uns liegt viel daran, dass dies hier ein neutraler Ort ist, wo sich jeder gleich seiner Art oder Herkunft willkommen fühlen soll. Wer hier rein kommt, muss seine Konflikte draußen lassen. Wir liegen zwar im Gebiet, das unter Kaiser Wang steht, doch wir konnten uns unsere Unabhängigkeit erkaufen.«

»Der Preis war … sagen wir, interessant«, warf Gideon ein.

»Was hat das mit unserem Captain zu tun? Und erst recht mit Wyatt?«, hakte Storm ungeduldig nach.

Gideon legte beide Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich vor. »Ab hier wird‘s spannend. Wie ihr gesehen habt, befinden wir uns hier an einem Fleck des Universums, wo kaum Planeten zu finden sind. Das nächste bewohnbare Cluster besteht aus einer Gemeinschaft von drei Planeten und befindet sich nur wenige Lichtjahre vom Hauptwohnsitz des Kaisers. Bis vor etwa fünfundzwanzig Jahren galten diese Himmelskörper als Problemkinder, denn auf ihnen herrschte ein Wesen, das einzigartig in der Galaxis zu sein schien.«

»Ein einzelnes Wesen hat drei ganze Planeten beherrscht?«, fragte ich ungläubig.

Gideon nickte. »Es war kein Wesen, das du dir vorstellen kannst. Es beherrschte die Meere und vor allem beherrschte es die Winde. Manche betrachteten ihn als einen Gott. Dem Kaiser gefiel das ganz und gar nicht. Auf einem dieser Planeten tobte seit Jahrzehnten ein wütender Sturm und machte das Leben dort beinahe unmöglich. Ein Sturm, wie der in deinen Augen, Bursche.«

»Was willst du damit sagen?« Ein Ton klang in Storms Stimme mit, den ich noch nie gehört hatte. Fast so, als würde er etwas ahnen, was er lieber nicht bestätigt haben wollte.

Gideon suchte Sals Blick.

»Der Sturm in deinen Augen ist der Sturm dieses Planeten«, enthüllte Sal schließlich mit einem Seufzen. »Niemand weiß, wie du ihn gebändigt hast, aber du hast es getan. Als Bao Leh dich fand, hattest du ihn bereits aufgesogen und somit dem Wesen seine Kraft geraubt.«

»Man könnte sagen, du hast einen Gott gebändigt, ohne es gewollt zu haben«, ergänzte Gideon.

»Wir hatten Bao Leh versprochen, dir nichts davon zu erzählen, solange xier keine Antwort für dich gefunden hat. Wyatt allerdings wusste Bescheid … Er war derjenige, der zusammen mit Gideon und einer Handvoll Söldner zu dem Planeten gereist war, um das Ungetüm zu erledigen. Das war, bevor er eurer Crew beigetreten ist.«

»Der Junge hat damals eigenständig den Kopf des Giganten abgetrennt«, fuhr Gideon fort. »Das hat ganze drei Tage gedauert. Wir brachten ihn hierher und baten einen Abgeordneten des Kaisers, uns hier zu treffen. Unser Lohn war die Unabhängigkeit dieser Station. Nazaris Lohn sitzt hier am Tisch mit uns.«

Es herrschte eine Stille, die in den Ohren brannte. Storm war kreidebleich geworden, sein Blick in seiner Tasse versunken.

»Das heißt, mein Original kannte Storms Geschichte, bevor er auf die Wandernde kam«, schlussfolgerte ich.

Sal nickte und beobachtete Storm bedrückt. »Erst war es ein Job für ihn … aber nachdem er dich kennengelernt hat, wurde es persönlich. Der Gott war besiegt, aber du bliebst ein Mysterium, Storm. Beo Leh versucht heute noch Kontakt zu jemandem aufzunehmen, der zur gleichen Zeit wie du auf dem Planeten gewesen ist und möglicherweise Auskunft geben kann.«

Ich atmete tief durch. »Der Captain wusste also von Anfang an, was es mit dem Paket auf sich hatte.«

Sal nickte.

Storm schlug plötzlich die Hände auf den Tisch, was das Geschirr zum Wackeln brachte und sprang wortlos auf. Ohne uns anzusehen, stürmte er zurück in die Haupthalle. Die Luft schien plötzlich geladen zu sein.

Ich hatte immer gewusst, dass Storm besonders war. Seine Augen erzählten schließlich eine außergewöhnliche Geschichte. Doch hatte ich die Schwankungen in der Atmosphäre immer auf meinen eigenen Gemütszustand geschoben … Jetzt allerdings fragte ich mich, wie ich übersehen konnte, dass sich die Luft Storms Launen anpasste.

Ich tauschte einen Blick mit unseren Gastgebern aus.

»Danke für den Tee.«

Sal nickte nur. Gideon allerdings sah mich eindringlich an. Als ich aufstand, um Storm zu folgen, erhob sich der Mann ebenfalls, packte mich am Ellbogen und führte mich zur Seite. Er kramte etwas aus seiner Jackentasche heraus, das er mir hastig in die Hand drückte.

»Hier«, flüsterte er. »Das hat mir Nazari für dich hinterlassen. Er wollte nicht, dass Storm etwas davon mitbekommt. Mach mit der Information, was du willst.«

In meiner Hand befand sich ein Brief.

Hatte mein Original mir eine weitere Nachricht zukommen lassen?

Ich knüllte den Brief in meiner Faust zusammen, nickte Gideon zu und drehte mich um, um Storm eilig zu folgen. Es war nicht schwierig seinen Weg nachzuvollziehen. Wo er langgelaufen war, wirkte die Luft angespannt, beinahe dick . Als würden sich gleich Wolken bilden und in einem Schauer ergießen.

Der Brief lag wie ein Stein in meiner Hand. Wollte ich überhaupt wissen, was Wyatt mir zu sagen hatte? Was konnte dort drinstehen, dass er mir nicht von der Organisation, die mich erschaffen hatte, übergeben lassen können? Und wieso wollte er diese Information vor Storm geheim halten?

Ich fand Storm in einem der Tunnel hinterm Haus, zwischen Kisten versteckt. Mit den Armen über den Knien verschränkt und dem Gesicht in den Armbeugen vergraben, saß er zusammengekrümmt und gab keinen Laut von sich. Vorsichtig schob ich ein paar Kisten zur Seite und ließ mich neben ihm an der Wand hinuntergleiten.

Ich wartete.

Meine Gedanken kreisten um die unverhofften Informationen, die wir erhalten hatten und den Brief, der mir womöglich noch neue eröffnen würde. Wir waren in der Hoffnung hierhergekommen, etwas über Wyatts Absichten, einen Sicherheitsklon zu beauftragen, in Erfahrung zu bringen. Stattdessen waren wir mit Antworten überhäuft worden, dessen Fragen wir nicht einmal in Betracht gezogen hatten. Ich hatte mehr über Storm gelernt, als ich je vermutet hätte. Dass seine Herkunft Fragen aufwarf, war mir bewusst, die Crewmitglieder triezten den jungen Mann häufig damit. Doch dass Wyatt alles gewusst haben sollte, traf Storm vermutlich unvorbereitet.

Storm hatte heute viel über sich in Erfahrung gebracht.

Nur ich ging leer aus.

Nach allem, was Sal und Gideon uns berichtet hatten, war meine Suche fruchtlos geblieben. Ich wusste nicht einmal, was ich zu finden gehofft hatte.

Eine Antwort darauf, wer ich war?

Ich war der Klon von Wyatt Nazari.

Eine Antwort darauf, warum ich war?

Weil Wyatt Nazari mich in Auftrag gegeben hatte.

Nicht mehr, und nicht weniger. Ich hatte keinen größeren Sinn, keinen höheren Zweck. Meine Suche nach mir selbst blieb, was sie war: eine Suche. Aber machte mich genau das nicht ebenso menschlich, wie die Menschen um mich herum?

»Wieso bist du hier?«, unterbrach Storm mich plötzlich in meinen Gedanken.

Er hatte den Kopf nach wie vor in seinen Armen vergraben, aber zumindest sprach er.

»Ich wollte nur sichergehen, dass dir nichts passiert. Soll ich dich allein lassen?«, fragte ich sanft.

Storm stieß ein kehliges Lachen aus, das durch seine Kleidung gedämpft wurde. »Willst du also die Rolle erfüllen, die Wyatt für dich angesetzt hat? Auf mich aufpassen, als wäre ich ein kleines Kind?«

»Das würde ich niemals …«

Er hob den Kopf und sah mich vorwurfsvoll an. Ich hatte gedacht, er hätte geweint, doch seine Augen waren klar.

»Wieso bist du hier, Wyatt ? Wieso siehst du mich immer so an, als hätte ich dir die Sterne gebracht? Wieso suchst du meine Nähe, obwohl du mich nicht kennen dürftest? Wieso willst du mich trösten, obwohl ich nichts als ein Arschloch zu dir bin? Wie kannst du sagen, dass du mich lieben würdest?«

Ich hielt seinem Blick stand, verfolgte das Wirbeln der Ströme in seinen Augen.

»Weil es die Wahrheit ist«, sagte ich schließlich. »Nicht mehr und nicht weniger. Ich kann dir nicht sagen, warum ich mich zu dir hingezogen fühle, außer, dass du mich faszinierst. Du bist aufbrausend und stürmisch, und doch hinterlässt du immer Ruhe in mir. Du bist stärker als die meisten Menschen auf unserem Schiff, doch du lässt es nie raushängen. Irgendwie scheinst du immer da zu sein, wo ich gerade bin und obwohl ich weiß, dass ich dir besser aus dem Weg gehen sollte, kann ich nicht anders, als mich glücklich zu schätzen, dir auch nur kurz nahe gewesen sein zu können.«

Storm schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten an die Wand fallen. Seine Stimme war leise, als er wieder sprach.

»Hast du immer noch nicht verstanden, wieso wir uns scheinbar zufällig überall begegnen? Es ist nicht das Universum, das uns zusammenbringt, es ist kein Schicksal oder sowas, das dich ärgern möchte. Es liegt einzig und allein daran, dass ich dir folge, wie ein verdammter Creep. Weil ich abpasse, wann du Essen gehst, weil du zur gleichen Uhrzeit gehst, wie Wyatt es getan hat. Weil ich es nicht lassen kann, dir zuzusehen, wenn du in der Trainingshalle trainierst, weil du einfach genauso aussiehst wie er ! Das treibt mich in den Wahnsinn!«

Seine letzten Worte trieben ihm schließlich doch die Tränen in die Augen.

»Du gehst mir nach …?«, fragte ich verblüfft. Mein Herz pochte schneller, als ich je erlebt hatte. »Aber ich dachte, du kannst mich nicht ausstehen?«

Storm wandte den Kopf zu mir. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen.

»Ich hasse dich nicht, Wyatt. Ich bin wütend. Ich bin so unendlich wütend auf das Universum, weil es dich mir weggenommen hat, ich bin wütend auf die anderen, weil sie lieber so tun, als wäre nichts gewesen, als sich der Realität zu stellen. Ich bin wütend auf dich, weil du mir nichts von deinen Plänen verraten hast, obwohl wir uns versprochen hatten, über alles zu reden.«

Eine Träne lief Storms Wange hinunter. Ich fing sie mit einem zittrigen Finger ab.

»Ich bin aber nicht Wyatt.«

Storm stieß ein Grunzen aus und umfasste meine Hand. »Und das ist, wo du dich irrst. Du bist genauso wie er. In der Art wie du sprichst, in der Art wie du gehst, selbst in der Art, wie du denkst. Ich weiß, ich habe behauptet, ihr hättet nichts gemeinsam, aber das habe ich nur gesagt, um dich zu verletzen. Auch wenn du vielleicht nicht seine Erinnerungen hast, du und er seid im Kern derselbe Mensch. Und jetzt sag mir, wie soll ich damit umgehen? Mein Verstand weiß, dass Wyatt tot ist, doch mein Herz sieht dich und jubelt. Es ist nicht fair.«

Er fuhr mit sanften Fingern über meinen Handrücken. »Und jetzt darf ich auch noch herausfinden, dass der Mensch, den ich über alles geliebt habe und die einzige Elternfigur, die ich je hatte, hinter meinem Rücken gemeinsam über mein Leben philosophierten und mir nichts davon sagten! Sag mir, wem ich noch vertrauen kann?«

Seine sanften Berührungen standen im völligen Kontrast zu den sich überschlagenden Emotionen in seiner Stimme.

»Mir«, sagte ich sofort und verschränkte unsere Finger. »Vertraue mir. Lass mich dir helfen, deine Antworten zu finden. Dafür bin ich schließlich geboren worden, oder nicht? Und ich glaube nicht, dass Bao Leh dir in böser Absicht Informationen verschwiegen hat. Wir können xiem gemeinsam fragen, wenn wir zurück sind. Dann können wir alles klären und vielleicht finden wir selbst die Antwort auf die Frage deiner Herkunft.«

»Und was ist mit deinen Fragen?«

»Was soll mit denen sein? Ich wollte wissen, wer ich bin, doch meine Frage erfordert keine Antwort, sondern eine Suche. Und diese Suche beginnt und endet mit dir, Storm. Wenn du mich mitnimmst.«

Storm sah mich einen Moment lang an. Dann wischte er sich die Tränen weg und nahm einen tiefen Atemzug.

»Ich kann nicht versprechen, dass jetzt plötzlich alles gut wird … Ich kann auch nicht versprechen, dass deine Anwesenheit mir keine Schmerzen mehr bereiten wird. Aber ich kann versprechen, dich nicht mehr absichtlich von mir zu stoßen. Wenn das genug für dich ist.«

»Das ist alles, was ich brauche«, sagte ich und lächelte.

»Es gibt da allerdings noch etwas, das wir uns ansehen müssen.« Ich hob die andere Hand, die Hand, in der ich noch immer den Brief festhielt. »Das hat Wyatt wohl mir hinterlassen … mit der Anweisung, ihn dir nicht zu zeigen.«

Storm wollte gerade nach dem Brief greifen, hielt jedoch mit verletztem Blick inne.

Ich löste unsere Finger und legte den Brief in seine Hand. »Ich möchte, dass wir ihn gemeinsam lesen. Was auch immer da drin steht, ich möchte nicht, dass es Geheimnisse zwischen uns gibt. Zumindest nicht von meiner Seite. Ich will dir nichts verschweigen, Storm, ich habe keinen Grund dazu. Und ich hoffe, dass du mir eines Tages genug vertrauen kannst, um das gleiche von mir sagen zu können.«

Storm sah mir tief in die Augen. Ohne seinen Blick von mir zu lösen, faltete er den zerknüllten Brief auseinander, holte tief Luft und wandte sich schließlich dem Text zu.

»Hallo Wyatt «, begann er zu lesen, »ich kann kaum glauben, dass ich diese Worte hier schreibe. Es fühlt sich lächerlich an, etwas an mich selbst zu verfassen.

Aber du bist nicht wirklich ich, stimmts?

Wenn du das hier bekommst, bedeutet das, ich bin tatsächlich tot. Ein komisches Gefühl. Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen, denn glaub mir, ich habe vor, noch ewig zu leben. «

Storm stieß ein Schluchzen aus und schloss für einen Moment die Augen, bevor er weiterlas.

»Solltest du nun doch die Freuden der Existenz kennen, hast du sicherlich viele Fragen. Zumindest, wenn du auch nur ansatzweise so bist, wie ich. Ich kann sie dir nicht alle beantworten, aber ich möchte dir eins mit auf den Weg geben: Ich habe absichtlich angeordnet, dass du meine Erinnerungen nicht erhalten sollst. «

Ich sog scharf Luft ein. Storms Finger zitterten, während er den Brief hielt.

»Überraschung! Du hast dich vermutlich schon gefragt, ob etwas mit dir nicht stimmt. Lass mich dich beruhigen, das war so beabsichtigt. Denn, Mann, es hat sich verdammt falsch angefühlt, meine innigsten Erinnerungen zu teilen.

Vor allem die an Storm!

Ich weiß, das ist eigentlich der Deal. Ein Klon ist schließlich eine Kopie, und eine Kopie wirkt fehlerhaft, wenn ihr die Daten fehlen. Aber ich wollte nie, dass du meine Kopie wirst. Ich wollte erst recht nicht, dass du meinen Platz an Storms Seite einnimmst, denn der gehört mir. «

Ein weiteres Schluchzen entglitt Storm. Mir drehte sich währenddessen der Kopf.

»Versteh mich nicht falsch, ich habe dich anfertigen lassen, damit du auf ihn achtgibst. Aber ich wollte nie ersetzt werden. Du bist nicht ich und dir meine Erinnerungen aufzubürden, wäre falsch gewesen. Mach deine eigenen, dafür ist das Leben da!

Also, es ist gesagt. Du bist frei. Geh, leb dein Leben, sei großartig. Nur tu mir den Gefallen und achte ab und zu auf Storm.

Er hat mein Herz. «

Als der Brief endete, saßen Storm und ich eine ganze Weile schweigend nebeneinander und starrten die kahlen Wölbungen des Tunnels an.

Alles und nichts spiegelte sich in meinem Kopf wider. So etwas hatte ich nicht erwartet. Normalerweise wurde von einem Klon verlangt, dass er das Leben seines Originals weiterführte. So wurde auch ich in Wyatts Behausung gesteckt, habe seinen Job fortgeführt, trug seine Kleidung und lebte unter den Personen, die er gekannt hat.

Ein Klon führte kein eigenes Leben.

Durfte ich tatsächlich anders sein?

Durfte ich einfach ich selbst sein?

Storm war schließlich der erste, der wieder sprach.

»Hast du auch so einen Hunger wie ich?«

Perplex wandte ich mich zu ihm, blinzelte und brach schließlich in ein Lachen aus. Der Knoten in meinem Magen wurde schlagartig lockerer, mein Kopf kam zum Stillstand. Storm hatte eine Wirkung auf mich, die ich nicht in Worte fassen konnte. Aber das hatte ich wohl von meinem Original.

»So möchtest du das Ganze hier abschließen?«, fragte ich lachend.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber zumindest hatte ich gedacht, er hätte über den Inhalt des Briefes sprechen wollen.

Storm schüttelte müde lächelnd den Kopf. »Nein. Wir haben noch viel zu besprechen. Viel zu viel. Aber ich bin müde. Und hungrig. Und ehrlich gesagt könnte ich noch einen von diesen Tees vertragen.«

»Der ist erstaunlich gut«, stimmte ich bei.

So viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf, dass ich kaum einen einzelnen zu fassen bekam. Doch eines hallte immer wieder in mir nach: Ich war nicht fehlerhaft.

Ich hatte nie Wyatts Erinnerungen haben sollen.

Ich war nicht Wyatt Nazari, ich war frei.

Frei, mein eigener Mensch zu werden. Und ich hoffte, dass Storm mir dabei helfen würde.

Ich zwang meine Beine, sich zu erheben und streckte die Hand nach Storm aus. »Komm, da drin wartet mit Sicherheit noch mehr Tee auf uns – und noch mehr Antworten auf Fragen, die wir nicht gestellt haben.«

Storm griff meine Hand und schnaufte amüsiert.

»Das sind meistens die spannendsten Antworten.«