Selbstbestimmt, sinnhaft und zukunftsfähig: Arbeitswelt wird Lebenswelt

ANNA YONA

Es ist Juni 2030, der dritte Rekordsommer in Folge. Staub klebt an der Windschutzscheibe des autonomen Sammeltaxis, das mich durch die oberbergische Landschaft zu unserem Tagungshaus fährt. Ich freue mich auf diesen Tag – das erste reale Treffen nach vier Monaten. Diese gemeinsamen Offsites gehören zur DNA unserer Unternehmenskultur, obwohl unsere Zusammenarbeit sonst rein virtuell geschieht. 

Arbeit in der Wissensgesellschaft – entkoppelt von Zeit und Raum

Diese die Gesellschaft durchdringende Entkopplung von Leistung und Präsenz hat viele Veränderungen angestoßen und das Verständnis von Arbeit maßgeblich geprägt. Während Produktivität im Industriezeitalter durch die Dauer der Anwesenheit am Arbeitsort bestimmt wurde, verschob sich der Fokus in der damaligen Wissensgesellschaft zunehmend auf Arbeit als kreative Leistung. Die Konsequenz daraus, Arbeit als Intelligenzleistung von Ort und Zeit komplett unabhängig zu machen, brauchte aber erst den durch die Corona-Pandemie angestoßenen Transformationsimpuls.

Heute ist es undenkbar, dass jemand nach eingebrachter Lebenszeit entlohnt wird. Was zählt, ist die ergebnisorientierte Zusammenarbeit, bei der ausschließlich das gemeinsam definierte und erreichte Resultat zählt, und nicht die Stempeluhr und Zeiterfassung. Sogar der Begriff »Arbeitszeit« wurde bedeutungslos und aus den Arbeitsverträgen gestrichen. Ziele werden transparent definiert und als Teamleistung betrachtet. Boni, Prämien und andere Incentivierungen, die Konkurrenzdenken steigern, wurden im Sinne einer kollaborativen Unternehmenskultur abgeschafft. Wann die Mitarbeitenden arbeiten, ist vollkommen egal. Ebenso unwichtig wurde die Frage, an welchem Ort – ob auf dem Land oder an der spanischen Küste – die Arbeit ausgeführt wird.

Was einer flächendeckend ergebnisorientierten und von Zeit und Raum entkoppelten Arbeitswelt zunächst im Weg stand, war die Tatsache, dass es nach wie vor Arbeiten, meist repetitive, gab, deren Produktivität von der eingebrachten Arbeitszeit abhing. Als immer mehr Personen in den Genuss der Freiheiten wissensbasierter Arbeit kamen und ein bedingungsloses Grundeinkommen Arbeit als notwendiges Übel abschaffte, fanden sich immer weniger Menschen, die noch bereit waren, ihre Lebenszeit gegen monotone Arbeitsinhalte einzutauschen. 

Eine parallel stattfindende exponentielle Entwicklung von künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen und Robotik machte den Mangel an interessierten Arbeitskräften zum Katalysator für eine grundsätzliche Umstrukturierung. Hochautomatisierte Fertigungen, die nur noch von wenigen Spezialisten virtuell betreut werden, selbst fahrende Busse, Bahnen und Taxen, Supermärkte, die einem voll automatisierten Logistikbetrieb gleichen (wer fährt heute noch zum Einkaufen?), und Qualitätskontrollen, die von Bilderkennungssystemen erledigt werden, haben Arbeitsplätze abgeschafft, die früher von Monotonie, Repetition und menschlichen Fehlern geprägt waren. Sogar Diagnostik und Standard-OPs werden längst besser von Computern erledigt.

Auch in der Pflege und Betreuung sind neue Konzepte entstanden. Vieles davon hat sich in den privaten Bereich verlagert. In der Krise haben wir gelernt, wie wichtig Nähe ist – die Zeit mit unseren Liebsten hat neue Priorität erhalten. Gemeinschaftsbetreuung, flexible Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder und Senioren, robotergestützte Pflegeangebote und Mehrgenerationenkonzepte haben die Welt an vielen Stellen wieder in ein Dorf verwandelt. 

Lokales Leben – global vernetzt

Auch der Alltag ist deutlich entschleunigt. Wenn früher unsere Routine von den Systemen beherrscht wurde, die wir aufgebaut haben, um unsere Zusammenarbeit zu gewährleisten – Kinderbetreuung, Arbeitsweg, Präsenszeit am Arbeitsplatz –, bleibt jetzt mehr Raum für die wichtigen Dinge. Allein der Wegfall der Pendelstrecken hat uns eine Woche Lebenszeit im Jahr geschenkt. Der große Ausbau des Straßennetzes seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist erstmals rapide zurückgegangen, da der Berufsverkehr abgenommen hat. Viele asphaltierte Flächen wurden zurückgebaut, Straßen verkleinert und mehr auf öffentliche und autonome Mobilität gesetzt. Arbeit ist von überall möglich. Aus jedem ehemals abgelegenen Dorf können Menschen durch gute Videokonferenztechnologie und Holografie an internationalen Veranstaltungen, Konferenzen und Netzwerk-Events teilnehmen. Auch das spart Zeit und ganz nebenbei eine Menge CO2. Allein durch den Wegfall des Berufsverkehrs werden pro Person 15 Tonnen CO2 weniger im Jahr ausgestoßen. Unnötig gewordene Geschäftsreisen sparen jährlich fast 250 Millionen Tonnen CO2 deutschlandweit. Ein Überseeflug für die Teilnahme an einer Klimakonferenz – das klingt im Nachhinein so absurd, wie es immer schon war.

Durch die Verkehrswende und den Ausbau der öffentlichen und autonomen Mobilität sind die ländlichen Gegenden besser angeschlossen. Da der Wohnort nicht mehr durch den Arbeitsplatz definiert ist, sind viele aufs Land gezogen, die Städte sind leerer geworden. Für viele von der damaligen Krise gebeutelte Unternehmen war die Reduzierung von Büroflächen eine willkommene Möglichkeit, Kosten zu sparen. Viele Unternehmen beschränkten ihre Standorte auf wenige Gemeinschaftsbereiche wie Empfangsräume und Co-Working-Plätze. Anstelle der vielen Gewerbeflächen sind grüne Oasen entstanden, die in renaturierte ländliche Gegenden übergehen und ein Netz natürlicher Lebensräume über den ganzen Kontinent ziehen. Dächer, Hausfassaden, ehemalige Autobahnen und Parkplätze haben sich in Biotope verwandelt. Die Stadt ist keine Betonwüste mehr, sondern von Artenreichtum geprägt.

Auch im Arbeitsalltag hat sich vieles verändert. Wer Lust hat, Kolleg*innen zu treffen, kann sich jederzeit zum gemeinsamen Arbeiten im Büro verabreden, aber das kommt kaum noch vor. Die virtuellen Begegnungsmöglichkeiten sind mittlerweile so realistisch, dass es wenig Unterschied macht, ob man den Kaffee online oder offline zusammen trinkt. Vereinsamung im Homeoffice ist längst kein Thema mehr. Anspruchsvollere Meetings wie Brainstormings, strategische Deep Dives oder Produktentwicklung, die von Interaktion, Haptik und kreativem Input profitieren und damit das physische Beisammensein an einem Ort vorausgesetzt haben, funktionieren dank Holografie wunderbar im virtuellen Raum. Andere Meetings sind aufgrund von intuitiver Wissensvermittlung und guten Softwarealgorithmen nicht mehr notwendig. Statt wie damals einen Großteil unserer aktiven Arbeitszeit in Kommunikation zur reinen Informationsweitergabe zu investieren, können wir uns heute komplett unserer kollektiven Intelligenzleistung widmen.

Arbeit 4.0 – geprägt von Sinn, Purpose und Verantwortungsübernahme

Durch die virtuelle Vernetzung und die gemeinsame Bewältigung der Krise sind auch im Kopf Grenzen gefallen. Mit der ortsunabhängigen Zusammenarbeit begannen sich die Recruiting-Prozesse zu öffnen – Fachkräfte wurden überregional und schließlich international gesucht. Teams wurden bunter und diverser. Das Teilen von Wissen und Expertise durch sogenannte Competence Pools und multinationale Forschungs- und Entwicklungsprojekte, an denen viele Firmen beteiligt sind, hat unseren Fortschritt exponentiell beschleunigt. Vorbei sind die Tage von Betriebsgeheimnissen, Ellbogenmentalität und Sicherheitszäunen. Wir haben verstanden, dass wir die wirklich großen Aufgaben der Menschheit nur gemeinsam bewältigen können.

Mit kollektivem Wissen und globaler Vernetzung die wirklich wichtigen Themen voranzutreiben steht mittlerweile im Fokus jeglicher intelligenten Beschäftigung. Lösungen für echte Probleme zu kreieren, zum Wohl der Allgemeinheit beizutragen – das ist etwas, für das es sich lohnt, jeden Tag aufzustehen und wertvolle persönliche Zeit zu investieren. Arbeit ohne Sinn, ohne Identifikation mit der Sache, ohne »Purpose« – das gibt es nicht mehr. Einige Unternehmen sind ganz von selbst verschwunden, weil sie niemanden mehr gefunden haben, der für sie arbeiten wollte. Waffenhersteller, Schlachthäuser und Kohlekraftwerke waren ohne Arbeitskräfte nicht mehr lebensfähig. Konzerne, die wegen fehlender Integrität und nicht eingehaltenen Klimazielen auf die Blacklist gesetzt wurden, wurden als Geldanlage und Arbeitgeber unattraktiv. Uns ist klar geworden, dass wir alle in einem Boot sitzen, es herrscht ein neuer Anspruch ans eigene Tun. Menschen möchten einen Mehrwert für die Gesellschaft leisten und sich mit Zukunftsfähigem beschäftigen.

Mittlerweile bin ich an unserem Tagungshaus angekommen. Es liegt inmitten eines großen Naturschutzgebiets – Wildling spannt hier die Brücke zwischen nachhaltigem Unternehmertum und aktivem Naturschutz. Die ökologische Bauweise des Tagungshauses und der voll automatisierten Logistikhalle passen sich ideal in die mittlerweile blühende Heidelandschaft ein.

Die Begrüßung im Tagungshaus ist überschwänglich. Bei allen virtuellen Möglichkeiten ist es doch etwas Besonderes, sich von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Heute steht ein Workshop an, um gemeinsam mit anderen Unternehmen und NGOs die Umsetzung eines großen internationalen Renaturierungsprojekts zu planen. Wenn wir das realisiert haben, ist die letzte fehlende Verbindung, die letzte Artenbrücke auf dem eurasischen Kontinent geschaffen.

MEINE ZUKUNFTSBAUSTEINE

  1. Wir arbeiten vor allem virtuell. Damit entfällt ein Großteil des beruflichen Verkehrs, Straßen werden zurückgebaut, neue grüne Flächen entstehen, die das Bild der Städte nachhaltig verändern. Die CO2 Belastung ist keine mehr.

  2. Wir werden nach Ergebnissen bezahlt, nicht mehr nach Arbeitszeiten, die auch aus den Arbeitsverträgen verschwinden.

  3. Ein neues Verständnis der Menschheit als Gemeinschaft bewirkt grenzenlose Zusammenarbeit an den wirklich wichtigen Themen. Das Teilen von Wissen und Expertise durch sogenannte Competence Pools und multinationale Forschungs- und Entwicklungsprojekte, an denen viele Firmen beteiligt sind, hat unseren Fortschritt exponentiell beschleunigt.

ANNA YONA ist Gründerin von Wildling Shoes. Nach ihrem Studium der Nahostgeschichte und der englischen Literaturwissenschaft an der Tel Aviv University, Stationen im Marketing sowie als freie Übersetzerin und Journalistin fand sie ihren Lebensmittelpunkt in Israel. 2013 zog sie mit Familie zurück nach Deutschland. Die größte Herausforderung hier: der Schuhkauf für die Kinder, die es aus Israel gewohnt waren, vorwiegend barfuß zu laufen. Kein Modell schien den Ansprüchen an Bewegungsfreiheit, nachhaltigen Materialien und fairer Produktion zu genügen. So war schnell die Idee von Wildling Shoes geboren. Heute arbeiten bei Wildling 182 Personen – die meisten davon junge Eltern in Teilzeit und im Homeoffice. Auch für diese familienfreundliche Unternehmenskultur wurde Anna Yona 2018 mit dem Gründerpreis NRW ausgezeichnet.