Lieber Face-to-Face als 280 Zeichen: Purpose statt Populismus

JULIUS DE GRUYTER

Ich selbst beschäftige mich als Gründer einer Anti-Mobbing-App natürlich viel mit dem Thema Social Media, denn das digitale Zeitalter hat den Umgang miteinander völlig verändert. Durch Cybermobbing sitzt der Täter (das Smartphone) immer in der Hosentasche. Und: Die Anonymität im Netz macht Beleidigungen möglich, die man sich im echten Leben, also Face-to-Face, nicht trauen würde.

Das liegt nicht nur an unserer menschlichen Natur, sondern auch daran, wie soziale Netzwerke im Jahr 2020 funktionierten. Twitter ist ein gutes Beispiel: Mit nur 280 Zeichen ist es schwer, Meinungen differenziert darzustellen, und der Algorithmus sowie unser »Like«-Verhalten fördern besonders polarisierende Beiträge. In der Debatte kann es ja auch manchmal förderlich sein, eine Meinung zu teilen, die aneckt, damit Dynamik in eine Diskussion kommt, aber Hass und Hetze haben überhandgenommen, Grenzen wurden überschritten, und die sozialen Medien haben sich teilweise selbst abgeschafft. Inzwischen wurden Facebook und Google stark reglementiert, Selbstdarstellungsplattformen wie Instagram, TikTok und Snapchat wurden aufgrund der erwiesenen Gefahr für Leib und Seele teilweise eingestellt beziehungsweise sind nur noch ohne Werbung zugelassen.

Es kam zu einem gewaltigen Backlash. Im Jahr 2030 sind wir zwar auch nicht völlig frei von Shit Storms und Trollen. Aber: Durch das gemeinsame Anpacken der zentralen Probleme haben wir die Spaltung der Gesellschaft in Teilen überwunden. Denn Social Media hilft uns auch im Jahr 2030 dabei, wichtige Themen gesellschaftlich zu platzieren, Menschen zu informieren und in konstruktive Diskussion miteinander zu bringen, und nicht, um Verschwörungstheorien zu verbreiten. Wir haben uns auf alte Werte zurückbesonnen und nutzen die immensen Reichweiten für Positives – es geht um Purpose und nicht um Populismus.

2030 ist das Zeitalter der Empathie!

Therapie für alle – Zugang zu psychischer Hilfe demokratisieren

Im Zeitalter der Empathie 2030 ist es genauso normal, sich Hilfe zu holen, wenn es einem psychisch nicht gut geht, wie der Arztbesuch nach einem Beinbruch.

Wir alle wissen, wie schwierig es ist, Verletzlichkeit zu zeigen und öffentlich zu machen, dass man gerade eine schwere Phase durchläuft. Verzerrte Vorbilder durch Influencer und Stars, die ein scheinbar perfektes Leben führen, machten die Sache nicht einfacher. Das hatte vor allem auf die Jugendlichen in Deutschland Einfluss: 2020 litten laut Bundespsychotherapeutenkammer 18 Prozent der Jugendlichen an psychischen Krankheiten, das waren fast 3,5 Millionen Menschen!

Wir hatten in der Corona-Krise das gemeinnützige Projekt krisenchat.de gegründet und boten damit die erste 24/7-psycho-soziale Beratung per Chat in Deutschland: Rund um die Uhr konnten junge Leute uns zu Themen wie Liebeskummer, Depressionen oder auch Suizidalität kontaktieren und bekamen schnelle Ersthilfe durch professionelle Krisenberater*innen. In den ersten sechs Monaten hatten wir über 5 000 Fälle, was uns deutlich zeigte, wie groß das Problem war – auch unabhängig von Corona. Und wie wichtig es ist, schon frühzeitig eine niedrigschwellige Hilfe anzubieten, um schlimmere Entwicklungen verhindern zu können.

Im Jahr 2030 sind wir an einem Punkt, wo wir offener über Verletzlichkeit reden und gerade in Deutschland eine Fehlerkultur etabliert haben. Wo Meinungsführer*innen das Thema stärker thematisieren und eigene Erfahrungen teilen, um dem Rest Mut zu geben. Außerdem leisten wir Aufklärungsarbeit, wo sich Hilfesuchende (vor allem Kinder und Jugendliche) hinwenden können. Neben Angeboten zur Ersthilfe wird auch stärker darüber informiert, welche Möglichkeiten man hat, langfristig Hilfe zu bekommen. Die Erfahrungen bei krisenchat.de offenbarten schon in den ersten Wochen nach Gründung, dass eine nachhaltige Behandlung durch Unwissenheit über das Angebot und lange Wartezeiten auf Therapieplätze massiv erschwert wurde.

In unserer Mission bei krisenchat.de und exclamo verfolgten wir vor allem zwei Ziele:

Wir wollten den Zugang zu therapeutischer Ersthilfe vereinfachen und damit das ganze Thema Psychotherapie demokratisieren. Außerdem hatten wir uns vorgenommen, das Wort »Dunkelziffer« bei den Themen psychische Gesundheit und Mobbing aus dem Sprachgebrauch zu streichen: Denn nur, wenn jeder Fall offen wird, wenn jede Person sich traut, Hilfe zu suchen, kann auch effektiv und frühzeitig geholfen werden.

Von wegen »verlorene Generation« – Gen Z ist Vorreiter bei psychischer Gesundheit

Die Gen Z ist die erste Generation, die mit den digitalen Medien aufgewachsen und daher anderen Generationen bei der Nutzung von Apps, neuen Geräten und Technologie intuitiv überlegen ist. Gleichzeitig ist die Gen Z auch eine Generation, die größeren Wert auf psychische Gesundheit und Digital Wellbeing legt. Genau deshalb sind im Jahr 2030 alle Zweifel ausgeräumt, dass die Gen Z eine »verlorene Generation sei«

Meine Generation nehme ich nicht als verdrossen und abgehängt wahr: Sie möchte sich gesellschaftlich einbringen und etwas bewirken. Meine Forderung aus 2020, die Generation Z in die Aufsichtsräte der größten deutschen Unternehmen zu bringen und auch – zumindest beratend – in die Politik, trägt inzwischen Früchte. Immer mehr Unternehmen setzen auf junge Köpfe in ihren Gremien und nutzen deren Impulse. Junge Leute sollen über unsere Zukunft mitbestimmen können und tun es mittlerweile auch. Der Gen Z, lange verkannt, ist es gelungen, die Digitalisierung zu »leben« und die beiden Themen »Umgang miteinander« und »Demokratisierung von Psychotherapie« in der Gesellschaft zu etablieren – auch bei älteren Generationen.

Die Welt im Jahr 2030 verändert sich extrem schnell. Bei diesem Tempo wird es schwierig für alle sein, mitzukommen. Umso wichtiger ist es, eine psychische Versorgung zu garantieren, die niemanden auf der Strecke lässt.

Im Jahr 2030 ist therapeutische Ersthilfe für alle verfügbar. Persönlich, wie wir es heute schon kennen, aber auch unter Nutzung der digitalen Möglichkeiten, zum Beispiel per Chat oder künstliche Intelligenz.

Mit dem Thema Verletzlichkeit gehen wir offener um, was uns dabei hilft, auch auf Social Media wieder einen besseren Umgang miteinander zu finden. Und wir schaffen es, dass nicht mehr die Algorithmen von Twitter und Facebook unseren digitalen Alltag bestimmen, sondern wir selbst.

Wir sind dann an einem Punkt, an dem es selbstverständlich ist, sich Hilfe zu holen, wenn es einem mental nicht gut geht, und wo man weiß, welche Möglichkeiten und Anlaufstellen verfügbar sind. An einem Punkt, wo es das Wort »Dunkelziffer« in diesem Zusammenhang nicht mehr gibt, weil wir es schaffen, sowohl Mut zu wecken als auch die Hemmschwelle zu senken, über psychische Gesundheit zu sprechen.

MEINE ZUKUNFTSBAUSTEINE

  1. Die Rückbesinnung auf alte analoge Werte hilft uns im Umgang auf Social Media. Wir übertragen die Face-to-Face-Regeln in die sozial-mediale Welt.

  2. Wir thematisieren selbstverständlich und ohne Angst vor Repressalien die eigene Verletzlichkeit, aber auch psychische Probleme.

  3. Wir demokratisieren die therapeutische Ersthilfe durch digitale Möglichkeiten und eröffnen Hilfesuchenden so einen schnelleren Zugang zu Hilfsangeboten.

  4. Wir haben das Wort »Dunkelziffer« aus dem Sprachgebrauch gestrichen: Jede*r traut sich, über seine*ihre Probleme zu sprechen, und hat keine Angst mehr vor Ausgrenzung oder Mobbing.

JULIUS DE GRUYTER ist 19 Jahre alt und Mitgründer der Anti-Mobbing- App exclamo, die er während der Schule gegründet hat, sowie der psychosozialen Beratungsplattform krisenchat.de. Das Thema mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen liegt ihm sehr am Herzen, und er wünscht sich einen offeneren Umgang mit psychischen Problemen in der Gesellschaft. In seiner Freizeit ist er großer Hertha-BSC-Fan und leidenschaftlicher Saxophonspieler.