Deutschland hat sich zur Vorsorgenation entwickelt. Das Motto der Gesundheitsversorgung von 2030: präventiv agieren anstatt kurativ reagieren. Körpertemperaturchecks erfolgen im großen Stil – durch Scanner an Eingängen zu Büros, Supermärkten, öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln, die uns bei Anzeichen einer möglichen Erkrankung alarmieren. Die Gesundheits-App auf unserem Smartphone registriert solch einen Alarm und fordert uns auf, den Hausarzt zu kontaktieren.
Auch auf dem Vormarsch: innovative Früherkennungsmethoden zur Identifikation bestimmter Auffälligkeiten in Patienten, lange bevor eine Erkrankung ausbricht. Mithilfe künstlicher Intelligenz wird etwa das Sprechverhalten von Patienten auf Muster hin untersucht, die zum Beispiel auf eine Veranlagung zu Depressionen oder frühe Stadien von Schizophrenie hindeuten können. In der Krebsdiagnostik haben sich Multi-Screening-Verfahren etabliert, die die Untersuchung einer einzigen Blutprobe auf eine große Anzahl verschiedener Genmutationen ermöglichen, die wiederum auf diverse Tumorarten hinweisen können.
Smartwatches, die zur Früherkennung von Herzerkrankungen Daten zu Blutdruck, Bewegungsverhalten und Schlafqualität aufzeichnen, Tracking-Apps, die Infektionsketten bei Krankheitsausbrüchen nachvollziehbar machen – das Deutschland der Zukunft pflegt eine ausgesprochene »Präventionsmentalität«, setzt auf Früherkennung und geht dabei innovative Wege.
Es gibt eine große Bandbreite technologiebasierter Gesundheitsangebote. Unseren Arzttermin vereinbaren wir online, das Gespräch mit dem Facharzt erfolgt über eine Video-App. Das Rezept übermittelt die Praxis elektronisch an die Apotheke, das Medikament erreicht uns per Kurier. Alle wichtigen Gesundheitsdaten werden in unserer elektronischen Patientenakte vermerkt und sind für künftige Konsultationen direkt verfügbar.
An vielen Stellen hat sich eine neue digitale Form der Diagnostik etabliert. Pathologen arbeiten mit virtueller Mikroskopie: Sie untersuchen digitale Abbilder reeller histologischer Präparate und besprechen ihre Befunde instituts- und disziplinübergreifend in Online-Boards mit Kollegen. Auch in der Radiologie ist digitale Diagnostik neuer Standard. Bildaufnahmen liegen nicht mehr analog auf Film, sondern als digitale Datensätze vor – zentral gespeichert und für alle an der Behandlung beteiligten Institutionen direkt verfügbar.
Personalisierung ist Leitmotiv der medizinischen Versorgung: Mithilfe von innovativen Technologien, aufbereiteten Daten und einem intensiven, interdisziplinären Austausch werden Therapieansätze gezielt auf den Einzelfall zugeschnitten. Anstatt Standardverfahren anzuwenden, bezieht die Diagnostik genetische Prädispositionen, Vorerkrankungen und andere individuelle Merkmale des einzelnen Patienten in die Behandlung ein. Durch das Sammeln der Daten jedes Einzelfalls ergeben sich Wiederholungsmuster, die Rückschlüsse auf Therapieverläufe bei spezifischen Dispositionsprofilen ermöglichen. Die Therapien von 2030 sind um ein Vielfaches verfeinert, was für Patienten Entlastung durch geringere Nebenwirkungen, mehr Lebensqualität in der Krankheit oder gar bessere Heilungschancen bedeuten kann.
Das Konzept der Personalisierung ist von der Onkologie auf andere Bereiche übergegangen: Infektiologen etwa fertigen digitale immunologische Profile von Patienten an und verknüpfen diese mit global zugänglichen elektronischen Patientenakten, um beispielsweise im Fall einer Viruspandemie Personen mit hohem Risiko schnell identifizieren und frühzeitig präventive Maßnahmen einleiten zu können.
Auch die Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung hat neue Formen angenommen und sich von einer bilateralen Angelegenheit zwischen Arzt und Patient zu einer internationalen, disziplinübergreifenden Angelegenheit entwickelt.
Die Kommunikation erfolgt digital, was den Austausch zwischen Forschung, medizinischen Einrichtungen, Ärzten und Patienten beschleunigt und vereinfacht – auch über Landesgrenzen hinweg. Die zentrale Datenspeicherung erlaubt von überall den Zugriff auf wichtige Gesundheitsdaten. So fällt etwa bei der Verlegung von Patienten das Nachfordern einzelner Röntgenbilder, Kurven und Informationen zum Behandlungsverlauf weg – das behandelnde Ärzteteam greift auf alle Daten direkt über die elektronische Patientenakte zu und zieht bei Bedarf per Videokonferenz Spezialisten aus aller Welt zurate.
Auf welchen Bereich man auch blickt: Die Gesundheitsversorgung von 2030 ist ohne Zusammenarbeit über Landes- und Branchengrenzen hinaus undenkbar – ob es darum geht, Verbrauchsgüter, Medikamente und Wirkstoffe aus anderen Teilen der Welt zu beschaffen, Patienten zu verlegen oder in Pandemiefällen Ansteckungsrisiken zu minimieren.
Auch in Bezug auf eine zunehmend personalisierte Medizin sind die Zusammenarbeit aller Akteure und der Informationsaustausch auf internationalem Niveau Voraussetzung. Obgleich es auf den ersten Blick kontrovers erscheint: Der Schlüssel zur Personalisierung ist Globalisierung – bestmögliche Behandlung im Einzelfall durch grenzübergreifende Zusammenarbeit und globalen Austausch.
Wir verlassen das Zukunftsdeutschland 2030, kehren zurück in die Gegenwart und ziehen Bilanz: Wie müssen wir die Weichen stellen, damit unsere Gesundheitsvision 2030 Realität werden kann?
Um die bestmögliche Prävention zu leisten, benötigen wir das größtmögliche Maß an Information. Der Weg in die Vorsorgenation 2030 führt daher nicht an der globalen Nutzbarmachung von Daten als primäre Informationsquelle vorbei. Die dafür nötigen Technologien sind in vielen Bereichen bereits vorhanden – die Herausforderung besteht nun darin, sie gezielt einzusetzen, Daten zu sammeln, diese sinnvoll zu verknüpfen und dadurch tatsächlich nutzbar zu machen.
Bis 2030 wird es primär darum gehen, Strukturen für Sammlung, Digitalisierung und Aufbereitung großer Datenmengen zu schaffen. Es ist Zeit, dass sich Politik, Ärzte, Patienten und Industrie intensiv mit der Notwendigkeit des Datenaustauschs und mit dem Thema Datenschutz befassen. Es muss ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, der alle Teilhaber unserer Gesundheitsversorgung zum Umstieg auf digitales Arbeiten anhält. Ebenso nötig: international gültige Standards für die Entwicklung der entsprechenden Hard- und Softwarelösungen sowie Schnittstellen, damit künftig ein agiler, hürdenfreier Informationsaustausch möglich ist.
Gleichzeitig bedarf es Anpassungen der datenschutzrechtlichen Grundlagen. Aufgabe für alle Akteure im Gesundheitswesen ist es, in Bezug auf Privatsphäre und Datensicherheit eine regulative Vertrauensbasis zu schaffen – durch klare IT-Sicherheitsstandards, bestmögliche Anonymisierung von Daten sowie Aufklärung und Transparenz gegenüber Patienten.
Jeder Einzelne von uns ist aufgefordert, die eigene Bereitschaft im Hinblick auf das Teilen unserer Gesundheitsdaten zu überdenken. Eine gewisse Skepsis ist verständlich, wenn es um unsere sensiblen Daten geht; gleichwohl kommt auch uns die Verfügbarkeit jeder Information zugute, wenn wir selbst erkranken und auf bestmögliche Behandlung hoffen.
Nicht zuletzt kann der Umstieg auf eine digitale Gesundheitsversorgung nur durch die ausreichende Förderung der Entwicklung digitaler Lösungen gelingen. Politik und Krankenkassen sind aufgerufen, die hierfür notwendigen Fonds zu mobilisieren, patientenorientiert in die Innovationskraft des Gesundheitssystems zu investieren und zukunftsweisende Lösungen rasch in der Versorgung zu implementieren.
Mit der Ausrichtung unseres Systems auf digitales Arbeiten und der Schaffung eines gesetzlichen Rahmens stellen wir heute die Weichen für die global vernetzte, personalisierte Gesundheitsversorgung von 2030.
MEINE ZUKUNFTSBAUSTEINE
Deutschland ist eine Vorsorgenation: Durch den Ausbau unserer Prävention optimieren wir die Gesundheitsversorgung.
Digitale Diagnostik und elektronische Patientenakte: Technologie wird zum wesentlichen Baustein einer modernen Gesundheitsversorgung.
Personalisierte Gesundheitsversorgung: Wir schaffen einen gesetzlichen Rahmen, der eine global vernetzte, personalisierte Gesundheitsversorgung ermöglicht.
MARIA SIEVERT. Beruf: Wirtschaftsingenieurin. Berufung: Healthcare-Pionierin. Als Gründerin und Geschäftsführerin von inveox digitalisiert und automatisiert sie Pathologielabore, um deren Effizienz zu steigern und Krebsdiagnosen sicherer zu machen. Die Alumna von TUM und Manage&More wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und von ZEIT und Edition F zu einer der »25 Frauen, die die Welt verändern« ernannt. inveox wurde vom Magazin Für-Gründer zum Start-up des Jahres 2017 gekürt, schaffte es auf die Forbes-Liste der »Vielversprechendsten Start-ups 2018« und wurde 2019 Mitglied des World Economic Forum.