2030. In zehn Jahren. Verändert sich da wirklich so viel in einem Land, das stolz den Titel »Stabilitätsanker« trägt? In dem die »Politik der ruhigen Hand« zwar meist mit einem Schmunzeln im Mundwinkel zitiert wird, aber eben auch gern?
Zu Beginn des Jahres 2020 gab es keinen breiten gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie das Jahr 2030 aussehen sollte. Bereits sechs Monate später jedoch sind Gewissheiten infrage gestellt, und Unternehmen, Behörden oder auch Infrastrukturen sollen »zukunftsfähig«, »fit für die Zukunft« oder gar »zukunftssicher« gemacht werden.
Das Corona-Virus hat das Leben, wie wir es kannten, radikal unterbrochen. Nun scheinen wir gewillt, die »Krise als Chance« zu begreifen, »gestärkt aus der Krise« zu gehen und die »Zukunft zu gestalten«.
Was heißt das eigentlich genau?
Schaut man sich die vorgestellten Nachtragshaushalte, Konjunkturpakete oder Fonds zur wirtschaftlichen Erholung an, heißt das vor allem: Geld.
Was könnte es noch heißen?
Stellen wir uns vor: Das Jahr 2020 hat einen Wendepunkt markiert für die Politik der einfachen Botschaften. Zehn Jahre später haben die Bürger*innen verinnerlicht, dass die Welt komplex ist und dass sie Überraschungen bereithält. Wähler*innen und Politiker*innen haben sich darauf eingestellt.
Fachliche Expert*innensind systematisch eingebunden. Der Flickenteppich von einst, bestehend aus Ad-hoc-Kommissionen, Sachverständigen- und wissenschaftlichen Beiräten oder Ähnlichem, ist einer klar strukturierten und gleichzeitig diversen Gruppe von Expertengremien gewichen, die mit ihren Analysen und Empfehlungen Politiker*innen beraten und den öffentlichen Diskurs bereichern. Übergeordnete Ziele sind hierbei die Sicherstellung der ökologischen und damit auch der ökonomischen Nachhaltigkeit der Wirtschaft, der gesellschaftlichen Teilhabe und der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (public health). Die Gremien – ihre inhaltlichen Schwerpunkte, ihre Mitglieder, ihre Arbeitsweise und Aufgabengebiete – sind dem Großteil der Bevölkerung bekannt. Regelmäßig finden politische Auseinandersetzungen auf Basis der von den Experten diskutierten Fakten und Analysen statt.
Ergänzt wird dieser Austausch von Politik und Wissenschaft dadurch, dass auch innerhalb der Institutionen eine systematische und regelmäßige Beschäftigung mit der Langfristperspektive und deren Implikationen verankert wird. Das heißt: Die strategische Vorausschau nimmt einen festen Platz im politischen Kalender und in den Aufbauorganisationen der Behörden ein. Hier gibt es Räume, innerhalb derer bewusst interdisziplinär und weit nach vorne gedacht wird – über das Ende der aktuellen und auch der kommenden Legislaturperiode hinaus. Schlüsselfaktoren (game changer) für mögliche Entwicklungen werden identifiziert, und darauf aufbauend werden konsistente Szenarien entwickelt, die mögliche Zukünfte beschreiben. Schließlich werden ausgehend von den Szenarien passende Maßnahmen zur Förderung oder Regulierung der Sektoren von Wirtschaft und Allgemeinwesen abgeleitet, in politische Programme aufgenommen und öffentlich erläutert.
Politik hat es einerseits geschafft, Expertise systematisch zu nutzen. Andererseits konnte durch Zuhören, regelmäßige Information, sachliche Erklärungen und gemeinsames Bearbeiten von Themen der Eindruck von einer Kluft zwischen »denen da oben« und »uns hier unten« weitgehend aufgelöst werden. Populistische Parteien, die gerade in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre stets wachsenden Zulauf erfahren hatten, sind 2030 nur noch eine Randerscheinung.
An die Stelle der von Populisten betriebenen Agitation ist die deliberative Demokratie getreten, die das weiterhin bestehende Modell der repräsentativen Demokratie in Deutschland unterfüttert. So tagen bundesweit auf kommunaler Ebene regelmäßig Bürgerräte. Sie werden von den gewählten Volksvertreter*innen einberufen und mit einem klar definierten Mandat betraut. Mitglieder eines Bürgerrats werden per Losverfahren identifiziert und erarbeiten im direkten Gespräch und in kleinen Gruppen Vorschläge für die Politik. Durch die diverse Zusammensetzung und das deliberative Verfahren der Bürgerräte gelingt es meist, Kompromisse und Vorschläge zu finden, die von einer breiten Mehrheit getragen werden.
So wie die gewählten Volksvertreter in bestimmten Fällen die Analysen und Einschätzungen von wissenschaftlichen Experten in politische Entscheidungen einfließen lassen, tun sie dies ebenso mit den Ausarbeitungen der Bürgerräte. Im Ergebnis ist die Politikverdrossenheit, die zuvor jahrelang beobachtet und beklagt worden war, Interesse und Engagement gewichen. Die Wahlbeteiligung bei Kommunal-, Bundestags- und Europawahlen ist jeweils hoch, Bürger*innen engagieren sich in Bürgerräten – und sie sind wieder Mitglieder demokratischer Parteien. Insbesondere junge Menschen, die lange bemängelt hatten, dass die verkrusteten Strukturen und Prozesse der Parteien mit ihren Lebensentwürfen nicht vereinbar seien, haben die Sache selbst in die Hand genommen und es geschafft, die Parteien von innen heraus zu reformieren. Nachdem in den Jahren bis 2020 insbesondere die Volksparteien stetig Mitglieder und Wähler verloren hatten, war das Bewusstsein, dass es ein »Weiter so« nicht geben kann, schließlich auch in den Parteien weit genug verbreitet und die Impulse der Reformer auf fruchtbaren Boden gefallen.
Dezentral, vernetzt, agil: So arbeiten im Jahr 2030 auch die politischen Parteien, und zwar selbstverständlich. Wo früher die Macht althergebrachter Seilschaften und die damit einhergehende Intransparenz zu beklagen waren, wird heute – neben offiziellen Organisationsstrukturen – auch die Schwarmintelligenz genutzt. Auf Basis von Ideen und Erfahrungen, die bereits in den 2000er- und 2010er-Jahren vereinzelt gemacht wurden, haben alle demokratischen Parteien Online-Beteiligungsformate für Initiativen, Ideenaustausch und Abstimmungen eingeführt und laufend verbessert.
Die neuen Beteiligungsformate – und auch die explizite Ansprache, Gewinnung und Förderung von Minderheiten – haben Parteien und somit die Politik insgesamt deutlich repräsentativer werden lassen. Das wiederum hat sowohl die Verankerung innerhalb der Gesellschaft erhöht als auch das Vertrauen in das politische System. Die zahlreichen, trotz Corona-Auflagen stattgefundenen Kundgebungen und Proteste nach dem Mord an George Floyd in den USA haben in Deutschland die Debatte zur gesellschaftlichen Teilhabe erneut aufleben lassen und zu nachhaltigen Veränderungen geführt. Die Debatte hatte es zwar im zweiten Halbjahr 2015, als eine hohe Anzahl Geflüchteter nach Deutschland gekommen war, wie auch im Zuge der Reflexion auf 30 Jahre Mauerfall im Herbst 2019 bereits gegeben. Erst im Jahr 2020 aber war die Bereitschaft für gesellschaftliche Transformation schließlich hoch genug, und Diversität und Repräsentativität erhielten nachhaltig mehr Gewicht bei der Auswahl von Führungskräften und der Besetzung von Gremien. So finden sich im Jahr 2030 in der Politik anteilig in etwa so viele Menschen unterschiedlichster Herkunft, Religion, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität, wie sie auch in Deutschland leben.
Fit für die Zukunft: Bei aller Achtung vor Erfahrung und Lebensleistung gibt es im Jahr 2030 ein gemeinsames Verständnis darüber, dass vor allem diejenigen dazu gehört werden müssen, die in dieser Zukunft leben werden. So wird ein beachtlicher Anteil der politischen Ämter von jungen Menschen bekleidet, und zwar auf allen Ebenen. Nur wenige von ihnen werden ihr Leben lang Politiker bleiben – die meisten werden sich im Laufe ihrer Karrieren auch wieder ihren Unternehmen, ihrer Forschung oder ihrer Kunst widmen. Dann werden sie ihre Expertisen und Perspektiven in die Politik eingebracht haben – und so ihren Beitrag dafür geleistet haben, dass auch 2030 Deutschland noch eine Zukunftsrepublik ist.
MEINE ZUKUNFTSBAUSTEINE
Expertengremien werden strategisch aufgesetzt und genutzt. Sie sind mit klar definierten Mandaten ausgestattet, divers zusammengesetzt und politisch unabhängig. Es gibt sowohl ständige als auch anlassbezogene Gremien. Bürger sind über Mandate und Empfehlungen von Expertengremien regelmäßig zu informieren. Zudem sind Informationen zu den Gremien und ihrer Arbeit zentral gebündelt abrufbar.
Bürger*innen arbeiten im Rahmen von Bürgerräten regelmäßig selbst Entscheidungen aus und bringen sie ins politische Tagesgeschäft ein.
Parteien setzen Formate für Mitglieder- und Bürgerbeteiligung konsequent um – offline und online.
Die Diversität und damit Repräsentativität in Entscheidungsgremien auf kommunaler, Landes- und Bundesebene ist deutlich erhöht – über Status quo und Veränderung wird regelmäßig berichtet.
Junge Politiker*innen sind inzwischen etabliert und bekleiden politische Ämter auf allen Ebenen. Die meisten wechseln aus einem politischen Amt, das sie nur temporär besetzen, zurück in den Beruf oder ihr eigenes Unternehmen.
ANNA HERRHAUSEN ist seit 2016 Geschäftsführerin der Alfred Herrhausen Gesellschaft. Seit Mitte 2020 leitet sie außerdem die Abteilung Kunst, Kultur und Sport der Deutschen Bank. Sie hat einen Bachelor in Philosophie, Politik- und Wirtschaftswissenschaften der Oxford University, einen Master of International Affairs der Columbia University und wurde an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Internationale Beziehungen promoviert. Anna Herrhausen ist Mitglied im European Council on Foreign Relations (ECFR) und im Kuratorium der Hertie School, der University of Governance in Berlin.