2020 sah nicht nur anders aus als gedacht, sondern auch oft komplett anders aus als 2010. Das zeigt, was in einem Jahrzehnt alles möglich ist und welches Veränderungspotenzial die nächsten Jahre haben. Es liegt an uns, wie das Jahr 2030 aussehen wird. Die wichtigste Aufgabe ist dabei, endlich Ernst zu machen mit echten Reformen. Denn wir haben keine Zeit mehr. Wir brauchen ein Denken in Jahrzehnten. Das heißt: Jetzt muss der Kick-off zu einer mutigen Agenda 2030 kommen. Dafür gibt es drei konkrete Bausteine:
In jeder politischen Sonntagsrede hört man, wie wichtig lebenslanges Lernen sei. Was folgt denn daraus? Jedenfalls nicht, dass es so weitergehen kann wie bisher. Zwei Drittel aller Beschäftigten in Deutschland bilden sich nicht weiter. Nach Ausbildung oder Studium hat man »ausgelernt« und wird aus dem Bildungssystem ausgesteuert, das ist immer noch die gesellschaftliche Realität – und die könnte für das Jahr 2030 nicht anachronistischer sein. Zeitgemäß wäre hingegen das wirklich substanzielle Versprechen, auch im Wandel gut teilhaben zu können, eine Gesellschaft, in der Aufstiegschancen nicht nur im ersten Lebensdrittel verteilt werden, und ein Land, das im 21. Jahrhundert wieder so innovativ sein will, wie es das seit der Gründerzeit des vorletzten Jahrhunderts schon oft war.
Meine Vision ist eine Arbeitswelt, in der es für jede und jeden ebenso finanziell möglich wie kulturell selbstverständlich ist, alle zehn Jahre ein halbes oder ein ganzes Jahr noch mal wirklich rauszugehen, um den eigenen Horizont zu erweitern und die Welt, auch die eigene, noch mal mit neuen Augen anzusehen. Sei es am Stück in einer Art Weiterbildungs-Sabbatical, sei es gestückelt über die Jahre. Sei es eine betriebliche Weiterbildung, eine externe Fortbildung oder eine völlig neue Zusatzqualifikation im Sinne einer Ausbildung oder eines Studiums.
Das fordert Führungskräfte und das Umfeld in allen beruflichen Sektoren heraus: Fortbildung ja, aber doch bitte nur nachts oder nach der Karriere – das musste ich mir selbst für einen Monat Fellowship in Harvard sagen lassen. Genau dieses Denken müssen wir in Deutschland hinter uns lassen. Und das fordert auch die Politik heraus. Denn wir brauchen einen wirklich neuen Kristallisationspunkt, an dem Bildung, Erwerbsleben und – und das wird gerne mal vergessen – auch Finanzierung zusammenlaufen. Mein Vorschlag ist ein lebenslanges Freiraumkonto samt einem Midlife-BAföG: Alle Erwerbstätigen sparen in arbeitsintensiven Zeiten Teile des Entgelts, Überstunden oder auch nicht genutzten Urlaub auf diesem Konto. Steuerfrei, wie bisher schon für die Altersvorsorge. Selbstständige erhalten dabei spezielle steuerliche Unterstützung und Geringverdiener ein gänzlich neues Instrument, eben das Midlife-BAföG. Damit werden die gezielt gefördert, die sich ansonsten keine Weiterbildung leisten können. Die auf dem Freiraumkonto angesparten Mittel werden später abgerufen und Zeitsouveränität und Weiterbildung damit finanziell möglich – in der Arbeitswelt 2030 eben wirklich in jedem Lebensjahrzehnt.
Zweitens: Der Ort »Büro« wird sich 2030 drastisch verändert haben, er muss es auch. Individuelle Büros sterben ganz aus, während attraktive Meetingräume und Lounges so etwas wie die firmeneigene Piazza der kollektiven Kreativität darstellen. Im War for Talent wird Innenarchitektur für die gemeinsame Kreativität zum betrieblichen Standortfaktor. Die Phasen von Deep Work – die Zeiten der gedanklichen Versenkung – werden die Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter der Zukunft aber am selbst gewählten Schreibtisch verbringen – eben remote, also zu Hause oder im Café am See. Die Vorteile sind potenziell gigantisch: Menschen müssen weniger pendeln. Das entlastet die Straßen und ist gut für die Umwelt.
In vielen Innenstädten wird es nicht mehr so sein, dass nach Büroschluss der Hund begraben liegt – weil sie eben wieder mehr sind als moderne Gewerbegebiete. In New York City haben die großen Banken bereits heute angekündigt, nach der Covid-19 Pandemie nicht mehr alle ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Bürotürme Manhattans zurückzuschicken. Das wird weitreichende Konsequenzen haben, und Städteplaner sind jetzt gut beraten, sich mit dem Jahrhundertprojekt der Revitalisierung unpersönlicher Stadtviertel zu befassen. Was für eine Chance für Stadtentwicklung und Architektur – vor allem wenn Wohn- und Büroräume, Coworking-Spaces, Community-Hubs, »third places«, MakerSpaces und mehr neu gedacht, kombiniert und ausprobiert werden.
All das wird aber nicht gelingen, wenn Deutschland weiter ein Arbeitsrecht aus einer Zeit mit sich herumschleppt, in der das Smarteste an Telefonen war, dass sie keine Wählscheibe mehr hatten. Dazu brauchen wir eine große Reform, die die Regeln unseres Arbeitsmarktes endlich auf Augenhöhe mit dem digitalen Zeitalter bringt: ein modernes Arbeitszeitgesetz mit wöchentlicher statt täglicher Höchstarbeitszeit, entrümpelte Arbeitsschutzvorschriften und einen Rechtsrahmen für Beschäftigte wie Arbeitgeber, der mobiles Arbeiten und Homeoffice tatsächlich deutlich leichter macht als heute. Heute schon wird jeden Tag millionenfach gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, weil Beschäftigte, die um 22 oder 23 Uhr eine E-Mail lesen, die Arbeit am nächsten Tag offiziell nicht vor 10 Uhr wieder aufnehmen dürfen. Und beim Homeoffice sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber de jure dafür verantwortlich, wie der Lichteinfallswinkel der Schreibtischlampe verläuft. Das alles ist lebensfremd.
Schließlich ist es drittens mitnichten so, dass man 2030 abwarten könnte, um Sozialsysteme endgültig vom 19. Jahrhundert zu befreien und für eine nachhaltige Zukunft vorzubereiten. Es ist absurd, bei der Alterssicherung alle Biografien über einen Kamm zu scheren und enge, gesetzliche Vorgaben zu machen, wann der Ruhestand beginnt und wann nicht. Das ist altes Denken. Schaffen wir einfach einen flexiblen Renteneintritt. Darüber soll jede und jeder 2030 selbst entscheiden. Was in Schweden schon lange funktioniert, kann auch in Deutschland gelingen. In Schweden entscheidet man jenseits der 60 selbst, ob der Ruhestand schon ansteht oder nicht. So wird mehr Individualität und Elastizität möglich – und finanziell ist es für alle Generationen fair, weil die Rente je höher ausfällt, desto länger man arbeitet und die Lebenserwartung automatisch in die Formel integriert wird. Auch die leidige Debatte, die wir nur allzu gut kennen, wenn es um die Rente mit 65, 67 oder 70 geht, wäre dann weg. Das steigert nach allem, was uns das schwedische Beispiel zeigt, auch die Nachhaltigkeit des ganzen Systems – denn im Schnitt wollen die Menschen länger arbeiten als bei uns, wenn sie es denn selbst entscheiden und zum Beispiel durch Teilrentenmodelle flexibel gestalten können.
Wir brauchen einen echten Game Change im Sozialstaat, denn unser Staat atmet immer noch viel zu sehr längst Vergangenes, nämlich eine Erwerbswelt, in der man sich sehr früh im Leben für eine Laufbahn zu entscheiden hat, von der man nie mehr wieder runterkommt – geschweige denn die Laufrichtung wechselt. Besser wäre, nicht nur mehr Selbstständigkeit in der Anstellung, sondern auch eine stärkere Wertschätzung der Innovationskraft von Selbstständigen, von Unternehmerinnen und Unternehmern. Dazu gehören ganz allgemein vielfältigere und buntere Lebensläufe.
Heute geht es nicht mehr vorrangig von der Ausbildung bis zur Rente durch ein und dasselbe Werkstor. Was das Heute ausmacht, sind die Zickzack-Biografien – und das ist gut so. Ich will, dass wir den Menschen mehr Lebenslaufhoheit geben und nicht wie heute Steine in den Weg legen beim Wechsel zwischen Anstellung, Selbstständigkeit, Gründung und zurück. Denn es sind starke Individuen, die eine starke Gemeinschaft formen. Eine Gesellschaft, die wir alle als schöne, dynamische und menschliche Zukunftsrepublik Deutschland vor Augen haben sollten, wird den Stärken und Herausforderungen von Menschen im Lauf ihres Lebens immer gerecht. Darum geht es!
MEINE ZUKUNFTSBAUSTEINE
Ein Bildungssystem für das ganze Leben wird Wirklichkeit: in jedem Lebensjahrzehnt ein Jahr raus aus dem Trott, rein in die Horizonterweiterung – politisch ermöglicht durch Lebensarbeitszeitkonto und Midlife-BAföG.
Individuelle Büros sterben aus, echte Beweglichkeit bei Arbeitszeiten und Arbeitsorten wird Normalität – und das dazu passende Arbeitsrecht ist etabliert.
Ein Sozialstaat, der zur Arbeitswelt 2030 passt. Zickzack-Lebensläufe werden einfach, über ihren Renteneintritt entscheiden die Menschen selbst.
JOHANNES VOGEL führte fünf Jahre lang die Jungen Liberalen als Bundesvorsitzender an, von 2009 bis 2013 war er erstmals Mitglied des Deutschen Bundestags. Beruflich ging er nach kurzem Aufenthalt in Peking 2014 zur Bundesagentur für Arbeit, wo er als Leiter Strategie- und Geschäftsentwicklung der Internationalen Abteilung (ZAV) und zuletzt als Geschäftsführer einer Arbeitsagentur mit 400 Beschäftigten arbeitete. Er ist Generalsekretär der Freien Demokraten NRW und leitete hauptverantwortlich den erfolgreichen Wahlkampf bei der Landtagswahl 2017. Zur Bundestagswahl 2017 trat Vogel erneut an und ist seitdem Mitglied des 19. Deutschen Bundestages. Er verantwortet die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Fraktion der Freien Demokraten. Im Frühjahr 2019 war er John F. Kennedy Memorial Policy Fellow an der Harvard University.