Mit einem leisen Ticken rückt der Zeiger weiter, es ist jetzt Punkt 10 Uhr. Erster Tag einer neuen Dekade. Wie jeden Dienstag sitzt Nicky Belts auf derselben tiefen Holzfensterbank des kleinen Cafés im Süden Berlins. Wie jeden Dienstag nippt Nicky erst einmal vorsichtig an dem heißen Kaffee und sortiert Gedanken. Heute scheinen sie von weit her zu kommen: »Wer hätte das gedacht? Wer hätte gedacht, dass ein so festgefahrener Zug durch einen Stoß das Gleis wechseln würde?«
Damals. 2020. Das Jahr begann wie ein dystopischer Science-Fiction-Roman. Eine Seuche, die sich über die ganze Welt verbreitete. Zahlreiche Tote, Demonstrationen, Verschwörungstheorien und xenophober Nationalismus. Und welche Ironie! Die Köpfe der Forschung – sonst geduckt und in die eigene Sache vertieft – suchten den Schulterschluss abseits der aufgeheizten Kirmes, auf der politische, religiöse oder gesellschaftliche Hetzer ihr Unwesen trieben, von der Weltherrschaft der Milliardäre faselten, den Klimawandel verneinten und nach starken, männlichen Führern schrien. Die Grundfesten der EU schienen zu wanken, und der amerikanische Präsident verabschiedete sich gemeinsam mit seinem Land von der Weltbühne, während der neue Populismus ein Attentat auf Wissenschaft und Journalismus plante. Kostbare Freundschaften und Allianzen, zarte Gewächse der Zeit nach 1945 und 1989, wurden in dem Getöse erschüttert.
Das Streichholz in diesem Pulverfass, so schien es, führten wirre Machthaber in demokratischem Gewand wie in einer Realsatire. Damals schien es, als beginne die Unterwerfung der Demokratie durch Anarchie, ungeregelte Wirtschaftsmächte oder den drohenden Drachen China. Verheerende wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen in allen Teilen der Erde schafften offenbar nach 2020 den wirkungsvollen Bremsblock für die vorherrschende Gedankenlosigkeit, Superkonsum und Egomanie. Wie zur Besinnung geprügelt, schüttelte sich eine ganze Generation von Frauen und Männern nach dieser Grenzerfahrung – und begann neu.
Gedankenverloren stützt Nicky Belts den Kopf in die Hände. Die Vereinten Regionen haben die ewigen Zweifler Lügen gestraft. Die verschiedenen Sprachen und Kulturen waren nicht mehr Ursprung von Konflikten, Missverständnissen, gar Feindschaft, sondern der Quell von Innovation und Inspiration. Die Buntheit der Kulturen wurde nicht mehr als Verunreinigung, sondern als Kunstwerk betrachtet, das nur mit all seinen Farben und Formen ein vollständiges Bild abgibt. Dieses Bild zeigte seine volle Schönheit in dem, was man kollektive Intelligenz nennt. Befeuert von einer durch die Kontaktsperre komplett auf den Kopf gestellten Bildungslandschaft, entzündete sie ein Feuerwerk von technologischen Neuerungen dank einer neuen Generation in einer erfrischend veränderten Gesellschaft. Die Generation der Selbstdenkenden entwickelte eine nie da gewesene Kreativität. Die steile Entwicklung der europäischen Start-up-Szene sowie die herausragende wissenschaftliche Stellung der führenden europäischen Universitäten im Bereich Digitaltechnologie in Verbindung mit den wieder erwachten Geisteswissenschaften liefern heute ein beredtes Zeugnis für diesen tief greifenden Wandel.
Erstaunlich waren die Entwicklungen in China nach 2020. Hatten alle Fachleute die Macht der Daten in den Händen der Chinesen als den Schlüssel zu ihrer Weltherrschaft gesehen, so hatte doch niemand geahnt, wie gespalten Chinas Führung hinter den Kulissen war. Es brauchte nur den einen Brutus, und die Hüllen fielen wie einst in Ostberlin. Nach wie vor ist unklar, woher das Zerwürfnis letztendlich gekommen war und in welcher Weise die neuen politischen Kräfte das Land gestalten werden. Alle Anzeichen deuten jedoch auf eine sozial-ökologisch vielversprechende Erneuerung hin. Auch die Jugend Chinas ist »for Future«. Nicky erinnert sich zurück an die bunten Transparente der Freitagsdemonstrationen, an nicht besuchte Englischstunden, und grinst.
Der Duft des Kaffees holt Nickys Gedanken zurück nach Berlin. Wie hatten sie damals die Spießigkeit der Datenschutz-Grundverordnung verlacht. Die DSGVO führte dazu, dass jeder Anbieter, jede Plattform und jede App E-Mails verschickte. Auf jeder Website musste man den neuen Richtlinien zustimmen. Nicht nur Nicky Belts selbst hatte sich beschwert. Doch unerwartet wurde die DSGVO ein Vorbild für digitale Sicherheit auf der gesamten Welt. »Goldstandard« nannte man sie schnell. Dasselbe gilt für den »Europäischen Digitalen Vertrauensraum«, der in besonderer Weise Rechenschaft im Internet und im Informationsaustausch einfordert. Er dient als Schablone für ganze Regionen im benachbarten Afrika und in den ASEAN-Staaten. Selbst die USA, die sich inzwischen auch von den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der frühen Zwanzigerjahre erholen, folgen dem europäischen Beispiel. Nicky fährt mit den Fingern durch die Haare. Tja, wer hätte das gedacht?
Ein weiterer Grund für den allgemeinen Erfolg der Vereinten Regionen Europa ist sicherlich in dem Entwicklungsplan für sozial-ökologische Gerechtigkeit zu suchen: dem »Marshallplan« des 21. Jahrhunderts. Der sogenannte Green Deal war ein Wiederaufbauprogramm für eine neue Welt unter den Anforderungen der sich dramatisch zuspitzenden Klimakrise. Es ging um Klimaneutralität, um Generationengerechtigkeit, um gesellschaftlichen Ausgleich, um einen neuen Sicherheitsstandard. Auch das beflügelte die Gründerszene der Generationen Y und Z. Die Erneuerungen von Transport, Produktionstechnik, Agrarwirtschaft und Bildung revolutionierten alle Bereiche des Lebens – nicht zuletzt für eine heranwachsende Generation A. Somit entwickelte sich Europa von einem kontinentalen Museum zu einem Motor beflügelnder Erneuerung. Junge Unternehmer in bunter, kultureller Mischung und zunehmend weiblich begannen die Wirtschaft und Politik Europas umzuwälzen.
Nicky Belts stellt die Tasse auf den Tisch, zückt das Smartphone, um zu zahlen. Nicky ist dankbar, dass das kleine Café den Start in die Dreißiger überlebt hatte. Nicht zuletzt wegen eines neuen Zahlungsmodells, das in der finanziellen Krise nach 2020 die staatlichen Stützungsgelder in der regionalen Wirtschaft schnell wandern ließ und den Karren in unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Dreck zog! Das junge Team aus den Niederlanden hatte leichtfüßig und unbekümmert die Logik der Fiat-Währung auf eine Regionalfiktion übertragen. Das half Kleinunternehmern und Handwerkern, Nickys Lieblings-Café, dem Barber-Shop an der Ecke und dem regionalen Selbstbewusstsein. Die globalen Marktführer im Onlinehandel oder gewinnmaximierende Spekulanten konnten von diesem Modell allerdings wenig profitieren.
Es entstand ein neuer regionaler Gestaltungswille, dessen Ideenreichtum sich nicht nur auf die Unternehmenswelt, sondern auf Politik, die Zivilgesellschaft, Kunst, den Sport auswirkte. Das Prinzip Verantwortung in der Gesellschaft verabschiedete das Ideal des skrupellosen Siegertyps und ersetzte es durch ein neues Erfolgskonzept, in dem Gesundheit, Generationengerechtigkeit und ökologisches Wachstum zum Ziel erklärt wurden. Nicht die schnelle Mark treibt, sondern große, gemeinsame Ziele. Wer sagte das noch? »Wohlstand für alle!« Ach ja, Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg. Scheint plötzlich erreichbar!
Inspiriert von dieser Dynamik haben die Vereinten Nationen zu ihrem 90-jährigen Bestehen die Schaffung eines »Unterhauses« angekündigt. Gruppen aus der Gesellschaft sollen an politischen Entscheidungen mitwirken – online und abwechselnd, so wie weltweite Zusammenarbeit seit rund zehn Jahren erfolgreich gelebt wird. »United in Diversity« ist jetzt die Qualitäts- und Innovationsformel der Vereinten Regionen Europa.
Nicky Belts öffnet die Tür und schließt für einen Moment die Augen. Tief atmet Nicky die frische Januarluft ein und läuft heimwärts. Ein Song dringt aus einem gekippten Fenster in die Kälte: »When you’re in need of love they give you care and attention.« Ein Lächeln schleicht sich auf Nickys Lippen. Dieser Song hatte sich den Platz auf Nickys Playlist redlich verdient. »Friends will be Friends« von A4E aus dem Remake von 2019. Nicky summt leise mit. Dieser Song wird nie alt.
UNSERE ZUKUNFTSBAUSTEINE
Die europäische Zusammenarbeit basiert jetzt auf den vielfältigen Regionen (statt Nationen als konstituierende Elemente) – »United in Diversity« lautet die Qualitätsformel für die Vereinten Regionen Europas.
Der Marshallplan des 21. Jahrhunderts, der Green Deal, setzt endlich auf echte Nachhaltigkeit. Klimaneutralität, aber auch Generationengerechtigkeit sind die beiden Säulen dieses Programms.
Paneuropäische Zusammenarbeit, die auf unabhängigen Medien und rechtsstaatlichen Grundsätzen wie zum Beispiel unabhängigen Gerichten basiert und die Möglichkeiten moderner Technologien nutzt, um die Bürger unmittelbarer an der Politik zu beteiligen.
Ein »Europäischer Digitaler Vertrauensraum« fordert in besonderer Weise Rechenschaft im Internet und im Informationsaustausch ein. Er dient weltweit als Blaupause.
SONJA STUCHTEY ist Beraterin und Investorin von Technologie-Start-ups, ausgezeichnete Sozialunternehmerin, Autorin und Mutter. Das von ihr mitgegründete On- und Offline-Netzwerk Alliance4Europe, dem sie als Aufsichtsratsvorsitzende dient, verbindet gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure mit dem Ziel, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu stärken und zu schützen.
LAETITIA STUCHTEY versteht sich (nicht nur) auf Creative Writing, ist aktiv bei »Fridays for Future«, klima-vegan und als Mitglied der Generation Z Zeitgenossin der erzählten Fiktion.