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Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen
»Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht …«
Da ihn seine Textkenntnisse hier bereits verließen, pfiff Olav Thorn das Lied weiter mit, das zu seiner Weihnachtsplaylist gehörte, die er über Handy im Wagen abspielte. Er sang und pfiff gern beim Fahren, irgendwie klang seine Stimme in diesem rollenden Resonanzraum richtig gut. Fand er zumindest.
»Alles schläft, einsam wacht.«
Das passte zu dieser Nacht kurz vor Weihnachten. Er hatte Dienst, und die Menschen in Bremen verließen sich auf ihn und seine Kollegen. Ein gutes Gefühl. Auch wenn er wusste, dass er der Person, deretwegen er zu diesem Einsatz gerufen worden war, nicht mehr helfen konnte. Was er am Telefon gehört hatte, klang nicht gut.
Sollte er sich deswegen seine gute Laune verderben lassen?
Nein, auf keinen Fall!
Es war Dezember, Heiligabend stand vor der Tür, und es schneite. Das war selten, und Olav Thorn freute sich über die mittlerweile geschlossene Schneedecke. Ein schöneres Geschenk gab es nicht für ihn. Er war an einem sechsten Dezember geboren und hielt sich schon allein deshalb für einen Schneemenschen.
Herrlich, diese Flocken, einfach herrlich!
Er parkte den Dienstwagen, stieg aus, formte einen Schneeball und warf ihn gegen die Plakatwand für Zigarettenwerbung, die sowieso verboten gehörte.
Das tat gut.
Hatte er viel zu lange nicht mehr gemacht.
Dann ging er hinüber zum Zentralen Omnibusbahnhof und ließ das Bild auf sich wirken.
Ein einsam im Schneefall stehender Reisebus mit dem übergroßen Schriftzug Youbus auf der Flanke, in dessen silberfarbener Lackierung sich das Licht der Straßenlaternen brach. Aus dem O in dem Schriftzug ragte eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger heraus, der auf jeden zeigte, der die Hand betrachtete. Das erinnerte an die Onkel-Sam-Figur, diesen bekannten Rekrutierer der amerikanischen Armee. An der windabgewandten Seite haftete Schnee an den dunklen Scheiben und machte sie blind. Die unterhalb der Scheiben liegenden Klappen des Laderaums waren weit geöffnet, was dem Gefährt ein waidwundes Aussehen verlieh, so als habe man seine Innereien herausgerissen. Vor dem Bus liefen uniformierte Polizisten auf und ab, verzweifelt darum bemüht, sich warm zu halten, während ihnen der schneidende Ostwind die scharfen Schneekristalle ins Gesicht trieb.
Die daunengefütterte Outdoorjacke hielt Olav Thorn die Kälte vom Oberkörper fern, aber durch die Jeans drang sie mühelos, und auch seine einfachen Lederstiefel waren dem ordentlich aufdrehenden Winter nicht gewachsen.
Ein Beamter der Bahnhofspolizei kam auf ihn zu. Grimmiges Gesicht, schleppender Gang, negative Ausstrahlung.
»Kommissar Thorn?«, fragte er.
Olav stellte sich vor und begrüßte den durchgefrorenen Kollegen.
»Was für eine wunderbare Nacht, um draußen zu sein, nicht wahr?«, sagte er und fing sich einen bösen Blick ein.
»Es ist scheißkalt, ich spüre die Füße nicht mehr, außerdem bekomme ich das Bild nicht aus dem Kopf. Also nein, es ist keine wunderbare Nacht, um draußen zu sein«, schimpfte der Kollege.
»Wer im Schlechten nicht das Gute sieht, am Ende vor der Welt nur flieht«, sagte Olav.
»Goethe?«
»Nein, Thorn. War außer dem Fahrer noch jemand am Bus oder am Gepäckstück?«
»Nicht, seitdem wir hier sind. Zuvor aber schon. Mehr oder weniger alle Fahrgäste, nehme ich an.«
»Von denen ist niemand mehr hier?«
Der Kollege schüttelte den Kopf. »Die waren schon fort, als der Fahrer das Fundstück bemerkte.«
»Wo ist der Mann?«
»Sitzt in der Dienststelle im Bahnhof. Ist ziemlich fertig mit den Nerven, aber gefasst genug für eine Befragung.«
»Na, das ist doch wunderbar! Dann schau ich mir das Fundstück an und spreche danach mit dem Fahrer. Unsere Spurensicherung und die Verstärkung müssten jeden Moment eintreffen. Tauschen Sie mit den Kollegen, damit Sie ins Warme kommen!«
Der Uniformierte ließ ein dankbares Lächeln sehen und blieb zurück, während Olav Thorn auf den Bus zuging.
Youbus, so viel wusste er, war ein junges Start-up, das im Zuge der Liberalisierung des Fernbusmarktes 2013 entstanden war und seit zwei Jahren versuchte, dem Branchenriesen Flixbus Paroli zu bieten. Mit Firmensitz in München beschäftigte das Unternehmen mehr als dreihundert Mitarbeiter. Wie viele Busse dazugehörten, wusste Olav nicht.
»Ich habe den Deckel des Koffers geschlossen, damit kein Schnee hineinfällt«, sagte ein Kollege, der Olav gefolgt war.
Der schwarze Reisekoffer lag auf der ihm zugewandten Seite des Laderaums. Die offene stehende Klappe schützte ihn einigermaßen, doch der Wind trieb immer wieder Schnee darunter.
»Sehr gut! Ich danke Ihnen! Sie hatten Handschuhe?«
»Natürlich.«
»Haben Sie den Inhalt berührt?«
»Natürlich nicht.«
»Ihre Professionalität begeistert mich.«
Wieder fing sich Olav Thorn einen merkwürdigen Blick ein. Er war daran gewöhnt und dachte sich nichts dabei. So waren die Menschen eben. Ehrliche Komplimente fanden immer seltener wohlgeneigte Abnehmer.
»Noch mehr begeistern können Sie mich, wenn Sie mir bis morgen alle Aufnahmen der Videokameras besorgen, die Blick auf diesen Platz haben«, sagte Olav und deutete mit dem Finger auf die drei Kameras, die er sehen konnte. Wahrscheinlich gab es noch mehr.
»Wird gemacht.«
Olav zog seine eigenen Latexhandschuhe über, setzte sich neben den Koffer unter die schützende Klappe, bereitete sich noch einmal auf den Anblick vor und schlug schließlich den Deckel zurück.
Der Koffer war leer.
Bis auf die beiden gefüllten, durchsichtigen Beutel.
Jemand hatte sie mit dem zum Koffer gehörenden Zurrband an der Rückseite befestigt.
In einem Beutel befand sich ein knapp über dem Sprunggelenk abgetrennter menschlicher Fuß.
In zweiten Beutel befand sich eine knapp über der Handwurzel abgetrennte menschliche Hand.
Olav Thorn saß da und betrachtete beides eine Weile. Abgetrennte Gliedmaßen, auch andere Körperteile, hatte er zuvor schon gesehen, jedoch nie in einem solchen Arrangement. Vor zwei Jahren hatte ein Mörder die verschiedenen Teile seiner Gattin im ganzen Stadtgebiet verteilt. Der Kopf steckte in einem Glascontainer, durch dessen Einwurfloch er gerade so hindurchgepasst hatte. Die Auffindeorte waren allesamt schmutzig gewesen, die Gliedmaßen in üblem Zustand, hier aber wirkte alles sauber und aufgeräumt.
Unglücklicherweise erhöhte das noch die Grausamkeit des Anblicks, und Olav Thorn spürte, wie seine gute Laune in den Keller seines Körpers sackte. Es würde wohl eine Weile dauern, sie wiederzubeleben.
Seine Augen suchten den Koffer ab, Zentimeter für Zentimeter. Jedes Detail prägte er sich ein. Der Koffer war nicht neu, es gab Gebrauchsspuren. Der umlaufende Reißverschluss wies Macken auf, die kleinen Metallanhängsel waren zum Teil verbogen und verschrammt, an der Unterseite, wo die Rollen befestigt waren, klaffte ein drei Zentimeter langer Riss im Gewebe. Die Rollen sahen so aus, als hätten sie einige Kilometer auf dem Buckel. Auch im Inneren entdeckte Olav Spuren. Krümel auf dem Boden. Ein Riss im Innenstoff. Ein dunkler Fleck. Es gab einen innen liegenden Beutel, wahrscheinlich für Schmutzwäsche gedacht, der durch ein perforiertes Meshgewebe vom restlichen Packfach getrennt war. Durch dieses Gewebe hindurch sah Olav Thorn etwas Weißes.
Ein Blatt Papier!
Interessant.
Olav öffnete den Reißverschluss des Extrafachs und zog den einzelnen Bogen Papier vorsichtig daraus hervor. Er war äußerst akkurat in der Mitte gefaltet, die Ränder lagen exakt übereinander. Über den Falz hatte jemand mehrfach gestrichen, dadurch ergab sich eine scharfe Kante, und das Blatt faltete sich nicht von allein auf.
Olav Thorn übernahm diese Aufgabe.
Der kurze Text auf der Innenseite war von Hand geschrieben und so klein, dass Olav dankbar war für seine Lesebrille. Er hatte sie erst seit einer Woche, daher waren die Bewegungen, mit denen er das Etui aus der Innentasche seiner Jacke und die Brille selbst aus dem Etui nahm, ungewohnt und umständlich.
Schließlich schob er sich das Gestell auf den Nasenrücken, nahm das Blatt Papier wieder zur Hand und las.
Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht …?