5.
Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen
Ein wenig Licht fiel auch nachts durch das kleine Fenster rechts neben ihrem Bett, sodass das Schlafzimmer nie völlig dunkel war. Sylvia Hartge hätte dies durch einen Vorhang ändern können, sich aber dagegen entschieden. Sie fühlte sich in lichtlosen Räumen nicht wohl, ein Überbleibsel ihrer Kindheit, in der ihr Stiefvater sie regelmäßig in der finsteren, fensterlosen Dachkammer eingesperrt hatte, wenn ihre Mutter an der Tankstelle arbeitete.
Sylvia hatte schon geschlafen, nicht tief, aber der erste Traum hatte bereits seine Fänge nach ihr ausgestreckt, als sie plötzlich aufgeschreckt war. Verwirrt und benommen lag sie da, betrachtete den silbernen Lichtschimmer an der Wand gegenüber und fragte sich, was sie geweckt hatte.
Ihre erste Empfindung signalisierte: Da ist jemand in der Wohnung!
Aber das konnte nicht sein. Die Tür war verschlossen. Okay, das Schloss war so alt wie die Wohnung und das Gebäude selbst wohl nicht wirklich einbruchssicher, aber wer um Himmels willen sollte sich Zutritt zu einer Einundvierzig-Quadratmeter-Studentenbude verschaffen, die sich in einer Art Maisonettewohnung über den dritten und vierten Stock erstreckte? Zwei kleine Räume, verbunden durch eine alte, knarrende Treppe, in denen es keinerlei Luxus gab, nicht einmal einen Fernseher.
Aber das Gefühl, nicht länger allein in ihrer Wohnung zu sein, war sehr stark.
Hatte also ein Geräusch sie geweckt?
Sylvia erinnerte sich an den Weg vom Busbahnhof zu ihrer Wohnung. Ohne jeden Zweifel war ihr jemand gefolgt.
Eine beinahe schon schmerzhafte Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper, und sie spürte den Wunsch, sich die Decke über den Kopf zu ziehen.
Was passierte hier? Sie war doch sonst kein ängstlicher Mensch. Ganz im Gegenteil lachte sie oft über Freundinnen oder Kommilitoninnen, die sich über dunkle Gassen, verwinkelte Parkhäuser oder fehlende Straßenbeleuchtung beklagten. Diese Ängste hatten mit der Dunkelheit zu tun, das wusste Sylvia, sie selbst war da ja ein gebranntes Kind, aber man musste seine Ängste vergessen oder sie bekämpfen, sonst geriet das Leben zu einem niemals endenden Martyrium.
Und sie wusste selbst am besten, in der Dunkelheit gab es keine Monster. Nein, die lebten im Hellen, unerkannt und gut getarnt, und wenn sie ihr wahres Gesicht zeigten, war es zu spät.
Sie zuckte zusammen, als sie ohne jeden Zweifel ein Geräusch hörte.
Knarrendes Holz!
Die Treppe, die vom unteren Zimmer, das sie als Wohn-, Büro- und Küchenbereich nutzte, zum Schlafzimmer hinaufführte, bestand aus zwölf Stufen, von denen jede einzelne entsetzlich knarrte. Ein Umstand, dessentwegen sie sich bei der Besichtigung in die Wohnung verliebt hatte. Das Geräusch hatte einen heimeligen Wohlfühlcharakter.
Gehabt!
Jetzt machte es ihr Angst.
Jemand hatte einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt.
Jemand war in die Wohnung eingedrungen und auf dem Weg zu ihr.
Sie hatte keine Chance zu entkommen. Das Schlafzimmer verfügte nur über dieses eine kleine Fenster, durch das sie zwar hindurchpassen würde, doch darunter fiel die glatte Fassade des Gebäudes vier Stockwerke in die Tiefe. Noch vor dem Einzug hatte Sylvia sich deshalb eine ausrollbare Feuerleiter, eine Art Strickleiter, gekauft, die sich im Fensterrahmen einhängen ließ. Sie reichte zwar nicht ganz bis zum Boden, es fehlten ungefähr fünf Meter, aber lieber brach sie sich beim Absprung beide Beine, als in ihrer Wohnung zu verbrennen. Natürlich war die Gefahr gering, Sylvia wollte aber dennoch darauf vorbereitet sein.
Doch die Leiter war unter dem Bett, weil sie keinen anderen Platz dafür gefunden hatte, und sie hätte erst Matratze und Lattenrost anheben müssen, um heranzukommen. Leider war es ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Verkrampft und flach atmend lag Sylvia unter ihrer Decke und wünschte sich, sich das Geräusch nur eingebildet zu haben. Beinahe hätte sie das auch geglaubt, doch da erklang es erneut und machte jede Hoffnung zunichte.
Eine Gewichtsverlagerung auf die zweite Stufe, vorsichtig, langsam, Kilogramm für Kilogramm, die Belastbarkeit der Treppe und deren Lautstärke austestend.
Sylvia wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Handy lag unten, es war an der Steckdose neben der Spüle angeschlossen. Ihr Blick hetzte umher auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen konnte, doch es gab hier oben nur Bücher und Kleidung. Zudem konnte sie sich immer noch nicht bewegen. Tatsächlich fühlten sich ihre Muskeln an, als wären sie eingefroren.
Du musst etwas tun! Mach irgendwas, befahl sie sich, doch ihr Körper reagierte nicht. All ihre Sinne fokussierten sich auf die Treppe und das nächste Geräusch.
Und das kam.
Diesmal war der Eindringling nicht mehr so vorsichtig, er hatte wohl verstanden, dass bei dieser Treppe jede Stufe unweigerlich ihr hölzernes Lied sang.
Die dritte, die vierte, die fünfte Stufe …
Mit jeder Stufe rutschte Sylvia weiter in die hintere Ecke des Bettes, zog die Knie an, raffte die Bettdecke um sich und starrte hinüber zum Treppenaufgang.
O Gott, bitte nicht, bitte nicht, lass das alles nur einen Albtraum sein!
Doch Gott gewährte in dieser Nacht keine Wünsche.
Schon schob sich ein Kopf in Sylvias Sichtfeld. Dort hinter dem Bogen der Treppe war es dunkel, sie sah nicht mehr als einen Schemen vor der weiß getünchten Wand, doch allein diese Bewegung, die Materialisierung der Geräusche zu einer Person, einer fleischlichen Bedrohung, setzte ihr dermaßen zu, dass sie es nicht verhindern konnte, einen gequälten, jämmerlichen Laut von sich zu geben.
Größer und größer wuchs der Eindringling mit jeder Stufe heran, bis er schließlich in ihrem Schlafzimmer stand.
Das Monster aus dem Schrank, von unter dem Bett oder hinter der Tür, das Monster, an das Sylvia Hartge nie geglaubt hatte, war hier. Es hatte sie gefunden.
Sie sah dessen Augen nicht, denn die lagen tief in dunklen Höhlen, spürte seinen Blick aber. Er schien an ihrem rechten Fuß hängen zu bleiben, der noch unter der Decke hervorschaute.
Rasch zog Sylvia ihn unter die Decke.
Denn alles, was herausschaute, würde abgehackt werden!