7.
Sie stand mutterseelenallein in dichtem Schneegestöber, in der rechten Hand den Griff ihres Reisekoffers, den sie auf Rollen hinter sich herzog. Um sie herum war nichts weiter als eine grellweiße Schneelandschaft, unberührt, kalt, abweisend und von bezaubernder Schönheit.
Sie zitterte, aber nicht wegen der Kälte, sondern weil sie etwas entdeckt hatte, was sie an Ort und Stelle vor Angst erstarren ließ.
In der jungfräulichen Schneeschicht zeichnete sich eine deutliche Spur ab. Fußabdrücke, die auf sie zukamen und in der grellweißen Landschaft den einzigen farblichen Kontrast bildeten. Dunkel hoben sie sich ab, so als seien sie mit Kohlestaub gefüllt. Schritt um Schritt, Abdruck um Abdruck kam die Spur auf sie zu, ohne dass sie die Person sehen konnte, die sie hinterließ. Es war eine Geisterspur, und instinktiv wusste sie, sie sollte sich umdrehen und davonlaufen, denn sobald die Spur sie erreichte, würde sie sterben.
Doch sie konnte sich nicht bewegen, keinen Zentimeter, ihre Gliedmaßen waren eingefroren. In immer schnellerem Rhythmus erschienen die Spuren im Schnee, dann waren sie heran und …
Sylvia Hartge stieß einen dumpfen Laut aus, der hinter dem Tuch gefangen blieb, mit dem sie geknebelt war. Ihre Augen konnte sie nicht öffnen, weil sie ebenfalls mit einem straff gespannten Tuch verbunden waren. Es dauerte noch eine Weile, bis sie aus dem Albtraum herausfand, und was sie erwartete, war nur ein weiterer Albtraum, und ihr Verstand weigerte sich zu begreifen, was ihre Sinnesorgane wahrnahmen.
Zunächst einmal setzte sich das Gefühl der eingefrorenen Extremitäten fort. Sie konnte weder Beine noch Arme rühren, geschweige denn den Rest ihres Körpers. Als sie es dennoch versuchte, merkte sie, dass sich wenigstens die Finger und Zehen bewegen ließen. Das passte irgendwie nicht zueinander. Wie konnte das eine erfroren sein und das andere nicht?
Da sie nichts sehen konnte, versuchte sie, ihren Körper zu erfühlen, und fand Erschreckendes heraus.
Sie lag lang ausgestreckt in der Shorts und dem Top mit Spaghettiträgern, die sie gestern vor dem Zubettgehen angezogen hatte, auf ihrem Bett. Bewegen konnte sie sich nicht, weil irgendwelche Bänder sie auf der Matratze fixierten. Straff gespannt, schnitten sie tief in das weiche Fleisch ihrer Oberschenkel und Oberarme.
Das ist zu straff, die Gurte müssten zwischendurch mal gelockert werden, um einen Blutstau zu verhindern, dachte Sylvia. Dabei nahm sie ihren Verstand als ein schläfriges Etwas wahr, kaum in der Lage, das Gefühlte mit irgendeiner Mutmaßung oder Erfahrung in Einklang zu bringen.
Erst als sie ein Geräusch hörte, schlossen sich die richtigen Synapsen und ließen die Erinnerung an die vergangene Nacht passieren.
Erneut erklang ein Geräusch, unten, in ihrer kleinen Küche, weitere folgten. Jemand hantierte dort mit Geschirr herum, und Sylvia meinte sogar, das leise Röcheln und Blubbern ihrer noch relativ neuen Kaffeemaschine zu hören. Und als sie sich auf diese Geräusche konzentrierte, die es in ihrer Wohnung doch gar nicht geben durfte, solange sie sie nicht selbst erzeugte, hörte sie plötzlich ein leises Pfeifen, das zusammen mit dem Geruch von frisch aufgebrühtem Filterkaffee über die Treppe zu ihr heraufdrang.
Jemand pfiff froh gelaunt eine Melodie, und in Sylvias Kopf lief der Text dazu ab.
Der Kaffee ist fertig, das klingt für mich wie Musik.
Der Kaffee ist fertig, wenn i’ um achte no’ lieg.
Sylvia kannte das Lied von Peter Cornelius.
Das leise Pfeifen wurde von Schritten auf dem Kiefernholzparkett im unteren Zimmer begleitet, gefolgt von dem viel lauteren, energischen Knarren des alten Holzes der Treppe.
Stufe für Stufe kam die pfeifende Person herauf, und die Geräuschkulisse setzte ein wahres Inferno der Erinnerung in Gang. Plötzlich war alles wieder präsent, der ganze Horror der vergangenen Nacht, als dieser schwarze Schemen in ihr Schlafzimmer eingedrungen war, das Monster von unter dem Bett, das es nicht gab, nicht geben durfte, weil es gegen jedes Naturgesetz verstieß und damit nicht in ihr Weltkonzept passte. Trotzdem war es mit energischen Schritten an ihr Bett getreten, hatte sie gepackt und ihr eine Nadel in den linken Unterarm gejagt.
Dort endete Sylvias Erinnerung, und die Realität übernahm.
Plötzlich roch es intensiv nach Kaffee, und Sylvia spürte, wie der Eindringling den Sitz der Bänder kontrollierte, die sie an die Matratze hefteten. Er schien nicht vollkommen zufrieden und zog sie noch ein wenig fester an, was schmerzhaft war, und Sylvia stöhnte hinter dem Knebel auf.
Sie spürte, wie er sich zu ihr auf die Bettkante setzte, dann hörte sie ihn Kaffee schlürfen. Mit einer sanften Berührung wurde ihr das Haar aus der Stirn gestrichen.
Sylvia sagte nichts und bewegte sich auch nicht. Seine Hüfte berührte ihren Oberschenkel, sie spürte seine Körperwärme und nahm durch den Kaffeeduft hindurch den Geruch von altem Schweiß in Polyesterkleidung wahr.
Die Situation war so unrealistisch, dass Sylvia sicher war, in den nächsten Minuten abermals aus einem Traum zu erwachen.
Aber da waren die von den Gurten hervorgerufenen Schmerzen, der Knebel im Mund, der Kaffee- und Schweißgeruch, das Gewicht, das die Matratze spürbar eindrückte … Nein, so detailliert konnte ein Traum nicht sein.
Die Türklingel ertönte. Kaffee schwappte aus der Tasse und platschte auf Sylvias Unterarm.
Der Eindringling verharrte reglos, schien nicht einmal mehr zu atmen.
Sylvias Gedanken rasten. Sie wusste nicht, wer sie um diese Zeit besuchen kam. Bestellt hatte sie nichts, also fiel der Paketlieferdienst wohl aus. Vielleicht ihr Vermieter, aber eigentlich gab es nichts zu besprechen, die Miete wurde immer pünktlich überwiesen. Wer auch immer das sein mochte, Sylvia musste ihn oder sie auf sich aufmerksam machen! Vielleicht war dies ihre einzige Chance zu überleben.
Ohne zu überlegen, schrie Sylvia in ihren Knebel, so kräftig sie nur konnte. Ob diese Schreie außerhalb ihres Kopfes überhaupt wahrnehmbar waren, vermochte sie nicht einzuschätzen, aber es musste wohl so sein, denn der Eindringling versetzte ihr einen heftigen Schlag mit der Faust ins Gesicht. Von der Nase ausgehend, explodierte der Schmerz, Tränen schossen ihr in die Augen und Blut aus der Nase. Für einen Moment war Sylvia benommen und nahm ihre Umgebung nur noch wie durch einen Filter wahr.
Sie spürte ihn vom Bett aufstehen und hörte ihn einen Moment später die knarrenden Treppenstufen hinuntergehen.
Als der Schmerz ein wenig nachließ, klopfte es unten an der Wohnungstür.
»Frau Hartge?«, sagte eine männliche Stimme. »Hier ist die Polizei. Sind Sie zu Hause?«
Und wieder schrie Sylvia in den Knebel, mit aller Kraft, die sie noch aufzubringen vermochte.