13.
Mittwoch, 18. Dezember 2019 Bremen
Nach seinem Gespräch mit der Fallanalytikerin telefonierte Olav Thorn wegen der Videoaufnahmen vom Busbahnhof mit der Bahnhofspolizei und bekam die Auskunft, die Daten seien auf dem Weg zu ihm.
Kurz darauf ging ein Anruf aus der KTU ein, und Olav eilte in den Anbau hinüber, in dem die Abteilung für Spurensicherung untergebracht war. Es war mittlerweile weit nach neunzehn Uhr. In den Gängen und Büros des Präsidiums war es bereits merklich stiller, die allermeisten Mitarbeiter waren längst zu Hause bei ihren Familien.
Lackmann, der Chef der Abteilung, erwartete ihn in seinem Büro. Grelles Deckenlicht ließ den hageren, hoch aufgeschossenen Mann mit den markanten Geheimratsecken leichenblass erscheinen. Auf der Nase reflektierte eine randlose, runde Brille das Licht.
»’n Abend, Herr Lackmann«, sagte Olav Thorn. »Noch kein Feierabend in Sicht?«
Der Blick über den oberen Brillenrand hatte etwas Tadelndes. »Ohne Ihren Koffer samt Inhalt wäre ich längst dort.«
»Na ja, mein Koffer ist das streng genommen nicht.«
Lackmann erhob sich, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und führte Olav in einen Nebenraum. Auf einem Metalltisch stand mittig der schwarze Reisekoffer, daneben lagen zwei durchsichtige Plastiktüten sowie das Blatt Papier mit der Notiz darauf.
»Wie auch immer«, setzte Lackmann an. »Ich habe in dem Koffer etwas gefunden, was zum Besitzer führen kann.«
»Ach.«
»Schauen Sie hier.« Lackmann schaltete den an einem Gelenkarm unter der Decke befestigten Scheinwerfer ein. Dann zog er das Aluminiumgestänge heraus, an dem man den Koffer hinter sich herziehen konnte, und deutete auf den Schacht, in dem das Gestänge bei Nichtgebrauch verschwand.
»Da drinnen steckte ein Fetzen Papier, ganz tief unten, wahrscheinlich ist es beim Gebrauch abgerissen und mit dem Teleskopgestänge nach unten gerutscht.«
»Machen Sie mir doch ein Weihnachtsgeschenk und sagen Sie mir, dass der Name des Täters darauf steht.«
Lackmann verzog keine Miene, sondern referierte weiter. »Folgendes Szenario stelle ich mir vor: Der Besitzer des Koffers übernachtet im Hotel, checkt am nächsten Morgen aus, lässt seinen Koffer wegen eines Termins aber noch im Hotel stehen. In jedem Hotel gibt es dafür Räume, und die größeren Hotels binden zum Zweck der Wiedererkennung eine Banderole um den Griff des Koffers – oder um den Griff des Teleskopgestänges.«
»So weit kann ich folgen.«
Mit einer zackigen Bewegung versenkte Lackmann das Gestänge, trat beiseite und deutete auf den Fetzen Papier, der auf der Arbeitsplatte zwischen zwei Glasträgern lag.
»Schauen Sie.«
Doch Olav erkannte erst einmal nichts, da der Fetzen viel zu klein war.
Ein wenig umständlich zog er die neue Brille hervor und setzte sie auf.
Jetzt endlich konnte er die Buchstaben entziffern. Er sah etwas mehr als die Hälfte eines blauen Kreises mit einem weißen Buchstaben darauf. Einem B.
»Ein B und … Was soll das sein?«
Lackmann seufzte. »Ich tippe auf den abgerissenen Teil eines weiteren Buchstabens.«
Darüber musste Olav nachdenken. Einen Koffer nahm man auf Reisen mit, dafür war er da, und natürlich übernachtete man auf Reisen in Hotels. Auch das war normal. Aber selbst wenn der Besitzer des Koffers irgendwann mal in einem Hotel übernachtet haben sollte, von dessen Banderole dieser Fetzen stammte, erkannte Olav nicht, wie ihn das weiterbringen sollte, wenn sie nicht mehr hatten als ein B und irgendwas.
»Wie lange lag der Fetzen nach Ihrer Meinung im Koffer?«
»Kann ich nicht sagen.«
Olav nahm sein Handy heraus, zoomte den Fetzen heran und machte ein Foto davon. »Haben Sie eine Idee, von welchem Hotel er stammen könnte?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Ohne Ergebnis. Und letztendlich ist es ja auch Ihre Aufgabe, das herauszufinden.«
»Sicher, aber ich schätze und nutze sehr gern die Kreativität meiner Mitmenschen.«
Hartmann verzog das Gesicht, als handele es sich bei Kreativität um eine ansteckende Krankheit.
»Sei’s drum«, sagte Olav. »Gibt es sonst noch etwas, das mir weiterhelfen kann?«
»Am Koffer selbst befinden sich keine weiteren Auffälligkeiten. Er ist handelsüblich, schon länger im Gebrauch und weist diverse Abnutzungserscheinungen auf. Herauszufinden, wo er gekauft wurde, dürfte schwierig bis unmöglich sein. Ebenso die Gefrierbeutel. Sie stammen von der Marke Toppits und sind quasi in jedem Supermarkt erhältlich.«
»Keine Prints, nehme ich an.«
»Das Koffermaterial eignet sich nicht dazu, Fingerabdrücke zu extrahieren. Auf den Plastikbeuteln haben wir keine gefunden, aber Talkumspuren, genau wie an dem Blatt Papier.«
»Der Täter hat also Einmalhandschuhe benutzt.«
»Welcher halbwegs intelligente Täter tut das nicht?«
»Na, da haben wir schon mal einen Rückschluss auf seinen Intelligenzquotienten.«
Für diesen Schlaumeiersatz fing Olav sich einen tadelnden Blick ein.
»Okay, vielen Dank!«, sagte Olav und verließ eiligst die KTU.
In Gedanken war er längst bei den Videoaufnahmen vom Busbahnhof.