18.
Die riesigen Reifen summten auf Asphalt, während der Reisebus durch die Nacht glitt. Ein beständiges, einschläferndes Geräusch. Seit zwei Stunden waren sie unterwegs, die meisten Fahrgäste schliefen bereits, nur eine einzige Leselampe brannte noch. Er hatte seine Wahl längst getroffen, wusste aus den Gesprächen, was er wissen musste, und so konnte auch er seine Gedanken schweifen lassen.
Er steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und spielte über sein Smartphone seine Lieblingsmusik ab. Musik, wie sie Menschen nicht erschaffen konnten, nur die Natur war dazu in der Lage. Sanft brandeten Wellen gegen den Strand, schwollen an und wieder ab, und der leise Gesang von Walen klang wie das ferne Versprechen auf Abenteuer am Rande des Horizonts. Die Komposition nahm ihn mit auf eine Reise in sein Inneres, und so wie immer, wenn er diese Musik hörte, war er nicht länger an die Erde gebunden. Mit ausgebreiteten Armen glitt er in Küstennähe über den Ozean dahin, orientierte sich an der Linie, an der Blau und Weiß sich trafen und die Schaumkrone sie miteinander verband.
Dann rumpelten die Reifen durch ein Schlagloch, und er schlug die Augen auf. Er öffnete sie aber nicht wirklich, nur in seinen Träumen, und er fand sich zu Hause wieder, zwischen diesen vier Wänden, die, mit den schönsten Bildern von den exotischsten Plätzen der Welt behangen, doch nur Grenzen waren, die ihn gefangen hielten, einsperrten, seine Wünsche und Sehnsüchte erstickten. Warum hatte er das nicht viel früher bemerkt? Wieso hatte er all das hingenommen und seine Hoffnungen auf eine Zukunft gerichtet, die vollkommen anders sein würde?
Wie sich herausgestellt hatte, war er auf eine Lüge hereingefallen. Und in dem Moment, als er diese schreckliche Wahrheit verstanden hatte, waren die Wände seines Zimmers noch enger zusammengerückt. Worein er bisher seine Träume projiziert hatte, drohte ihn nun zu ersticken. Unerträglich war das, einfach unerträglich!
Also sprang er auf und riss die Bilder von den Wänden. Zerfetzte sie in einem Anfall der Raserei und gebar dabei eine unermessliche Wut auf die, die ihn belogen hatten.
Dafür mussten sie büßen!
»Hey!«
Eine Berührung an der Schulter. Wie konnte das sein?
»Hey, wachen Sie auf!«
Jemand rüttelte an ihm und zog ihm einen der Kopfhörer aus dem Ohr. Auch der andere fiel heraus, das Meeresrauschen endete abrupt, und er wurde wach. Große Augen starrten ihn an.
»Sie wecken den ganzen Bus auf«, sagte sein Sitznachbar.
Es dauerte, bis er begriff, wo er sich befand und dass er nur geträumt hatte.
»Entschuldigung … ein Albtraum«, sagte er.
Sein Sitznachbar nickte, lehnte den Kopf gegen die Scheibe und versuchte, in den Schlaf zurückzufinden, aus dem er gerissen worden war.
Ein Albtraum.
Ein einziger Albtraum, sein ganzes Leben.
Aber nun nicht mehr.
Er warf einen Blick über den Gang. Seine Reisebegleitung für die nächste Etappe hatte er bereits ausgesucht. Sie war perfekt, so wie auch schon die erste. Aus Gesprächen hatte er entnehmen können, dass sie allein unterwegs war und keine Eile hatte, da sie keinen Anschlussbus erreichen musste oder in einen Zug umstieg.
Der Zielbahnhof war ihre Endstation.