2.
Nach einem kurzen Telefonat mit seiner Berliner Kollegin Leonie Grün machte Olav sich auf den Weg. Er fragte gar nicht erst bei seinem Chef Kuhnert nach, ob der die Dienstreise nach Berlin genehmigte. Olav wollte nicht warten, bis die Berliner Rechtsmedizin ihm die Untersuchungsergebnisse der Leichenteile zukommen ließ. Nein, er musste so schnell wie möglich wissen, ob von den in einem Youbus aufgefundenen Leichenteilen welche zu denen passten, die hier in Bremen aufgetaucht waren. Außerdem hielt Olav es für besser, persönlich mit seiner Berliner Kollegin zu sprechen. Am Telefon hatte sie kompetent, aber reserviert geklungen, nicht unbedingt interessiert an einer intensiven Zusammenarbeit. Doch die war unabdingbar, so wie sich der Fall entwickelte.
Deshalb übertrug Olav die Leitung der Ermittlung einstweilen an seinen Stellvertreter Gregor Koch und machte sich schnellstens auf den Weg nach Berlin. Wenn alles gut ging, war es eine Fahrt von vier Stunden. Wetter und vorweihnachtlicher Reiseverkehr mussten natürlich berücksichtigt werden, aber wenn Olav etwas gut konnte, dann war es schnell fahren. Er hatte einige Fahrsicherheitstrainings absolviert und bei einem professionellen Rennfahrer Unterrichtsstunden genommen. Und wenn der Verkehr zu dicht wurde, könnte er immer noch auf das Blaulicht zurückgreifen.
Für die Fahrt nach Berlin nutzte er es jedoch zunächst nicht, da er auch so schnell genug vorankam, mehr als hundertachtzig gab der Dienstpassat ohnehin nicht her.
Olav fuhr konzentriert, konnte sich aber trotzdem noch Gedanken zu dem Fall machen.
Er musste zugeben, ihn falsch eingeschätzt zu haben.
Zu keinem Zeitpunkt hatte er gemutmaßt, dass es noch ein weiteres Opfer geben könnte. Stattdessen hatte er sich die Frage gestellt, ob der Täter den Körper seines Opfers weiter zerteilt und mit anderen Bussen auf die Reise geschickt hatte. Nun war ein weiterer Koffer aufgetaucht, aber der enthielt zwei Hände und zwei Füße. Jeweils eine Hand und einen Fuß von einer Frau. Warum? Und wie passte die Sache mit dem Verlobungsring dazu? Und was passierte mit dem Rest der Körper? Waren andere Koffer mit Torso, Kopf und Beinen irgendwo in der Republik unterwegs und nur noch nicht entdeckt worden?
Es war natürlich schlicht unmöglich, an sämtlichen Busbahnhöfen in Deutschland Polizisten nach dem Täter Ausschau halten oder Stichproben beim Gepäck durchführen zu lassen.
Und die Frage, ob der Täter zusammen mit den Leichenteilen im Bus fuhr, bekam noch einmal eine andere Dringlichkeit. Wenn, dann war er jetzt in Berlin und nicht mehr in Bremen. Darauf hatte er seine Berliner Kollegin hingewiesen.
Von dem Mann, der so zackig und zielstrebig den Bus verlassen hatte und Pünktlichkeit verlangte, hatte Olav ihr noch nichts erzählt. Er wünschte sich, seiner Kollegin eine Personenbeschreibung liefern zu können, doch das gaben die Videoaufnahmen nicht her. Vielleicht würden sie mit denen aus Berlin ja mehr Glück haben.
In diesem Moment fiel ihm auf, dass noch immer kein Rückruf aus Dortmund eingegangen war. Olav hatte dort nach Videoaufnahmen des abfahrenden Youbusses gefragt. Er rief noch einmal an, musste es aber lange durchklingeln lassen, bis endlich jemand abnahm.
»Zimmermann.«
»Hier noch mal Olav Thorn, Kripo Bremen. Darf ich fragen, wie weit Sie mit der Überprüfung der Angehörigen der Fahrgäste des Youbusses sind?«
Erneut musste Olav sich von dem Kollegen die Litanei darüber anhören, wie viel er gerade zu tun habe, dass er kein Personal übrig habe dafür und deshalb eine Telefonkraft die Angehörigen anrief. Wer innerhalb von drei Tagen nicht erreichbar war, zu dem würde eine Streife geschickt werden.
Noch während der Dortmunder Kollege in seinem arroganten Tonfall sprach, spürte Olav, wie ihm der Kamm schwoll. Seine Toleranzschwelle war hoch, die hatte er sich im Lauf der Jahre antrainiert, und im Umgang mit Menschen versuchte er stets, deren positive Merkmale in den Vordergrund zu stellen, doch bei Zimmermann konnte er beim besten Willen nichts Positives finden.
»Hören Sie!«, unterbrach er den Mann in dessen Larmoyanz. »Wie es aussieht, haben wir es hier mit einer Serie zu tun. Es gibt weitere Leichenteile in einem Bus in Berlin.«
»Echt? Krass!«
»Ja genau. Und deshalb müssen wir Klarheit haben darüber, woher die Leichenteile stammen. Nicht, dass am Ende ein überarbeiteter Ermittler als Sündenbock dasteht, der es einem Serientäter ermöglicht hat, weiter seinem blutigen Handwerk nachzugehen.«
Es wurde für einen Moment still am anderen Ende.
»Wir tun hier, was wir können«, kam es schließlich zurück. »Und Dortmund ist nicht Bremen.«
»Was ist mit den Videoaufnahmen vom Busbahnhof in Dortmund?«, überging Olav die Anspielung auf die vergleichsweise kleine Hansestadt. »Ich habe auf den Bremer Aufnahmen einen ersten Verdächtigen ausgemacht und muss die Bilder vergleichen.«
»Tja, das System ist im Arsch. Schon seit zwei Tagen.«
»Nicht Ihr Ernst?«
»Doch. Meinen Humor würden Sie eh nicht verstehen.«
»Da bin ich mir sicher. Hören Sie … Irgendwo liegen die Leichen zu den Körperteilen, sehr wahrscheinlich in Ihrem Zuständigkeitsbereich. Ich schätze, Ihr Humor wird Ihnen vergehen, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass wir Opfer hätten retten können, wenn es bei den Ermittlungen nicht irgendwo gehakt hätte. Rufen Sie mich an, sobald Sie etwas haben!«
Olav legte auf.
Atmete tief durch.
Reflektierte sich selbst.
Erkannte, dass er in dem Gespräch wie ein Diktator etwas verlangt hatte, nicht höflich darum gebeten, und dass Zimmermann aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Lebensumstände gar nicht anders konnte, als so zu reagieren, wie er reagiert hatte.
Sein Ärger legte sich. Aber etwas fehlte noch.
»Idiot!«, sagte Olav laut
Jetzt ging es ihm besser.