6.
Donnerstag, 19. Dezember 2019 Berlin
Neunzehn Uhr vorbei, noch kein Feierabend in Sicht, und Olav Thorn war froh, endlich ein paar Minuten für sich allein zu haben. Der Nachmittag war anstrengend gewesen. Seine Kollegin Leonie Grün, mit der er sich seit einem verspäteten Mittagessen duzte, war kein einfacher Mensch. Sie schien ständig unter Strom zu stehen, konnte kaum einmal stillsitzen, irgendwas zappelte immer an ihr, selbst beim Mittagessen hatte sie mit den Fingern auf der Tischplatte herumgetrommelt, mit dem Besteck ans Glas geschlagen oder telefoniert – erstaunlich oft und erstaunlich unhöflich mit ihrer Teenagertochter.
Schließlich hatte Leonies Nervosität ihn angesteckt, dagegen hatte er sich nicht wehren können.
Jetzt, im Videoraum des Berliner Präsidiums, fühlte er sich ausgelaugt und gleichzeitig hibbelig. Aber er war für die nächste Stunde allein, Leonie schrieb ihren Tagesbericht, da würde er schon wieder zu alter Ruhe zurückfinden.
Eine Mitarbeiterin hatte das Videomaterial des Berliner Omnibusbahnhofs vorbereitet. Drei Kameras hatten den Youbus aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen, und in diesem gut ausgestatteten Raum genoss Olav den Vorzug, die Aufnahmen auf drei Bildschirmen anschauen zu können, ohne hin- und herschalten zu müssen.
Olav holte seine neue Lesebrille hervor. Sie steckte sauber und ordentlich in dem Etui, das er im Brillenfachgeschäft dazubekommen hatte. Er faltete die Bügel auseinander und betrachtete sie. Fünfhundert Euro. Aber das war es nicht, was ihn daran störte, wobei er sich schon darüber wunderte, wie ein bisschen Kunststoff und Glas so viel Geld kosten konnten. Nein, was diesen Gegenstand so befremdlich erscheinen ließ, war der deutliche Hinweis, den er darstellte. Du wirst alt, sagte er. Deine Augen leiden an einer altersbedingten Degeneration. Die besten Jahre liegen hinter dir, sagte er.
Olav seufzte und setzte die Brille auf.
Konzentrier dich, sagte er sich und ließ das erste Video ablaufen.
Eigentlich geschah genau das Gleiche wie einen Tag zuvor in Bremen. Der Youbus fuhr in nächtlicher Dunkelheit das Gate an. Es herrschte dichtes Schneetreiben. Die Sicht war schlecht. Kaum öffneten sich die automatischen Türen, strömten die Fahrgäste aus dem Bus, und da auch dieser Busfahrer beim Ausladen der Gepäckstücke nicht hinterherkam, griffen die Fahrgäste selbst zu. Ein paar Minuten herrschte an den Ladeluken dichtes Gedränge, dann zogen die Menschen mit ihren Gepäckstücken nach und nach davon.
Zuallererst versuchte Olav, den Mann zu finden, der sich auf den Bremer Videoaufnahmen so zackig und zielstrebig bewegt hatte. Fehlanzeige. Wenn er sich nicht absichtlich völlig anders bewegt hatte, war er nicht an Bord dieses Busses gewesen. Das war ernüchternd und frustrierend, war Olav sich doch relativ sicher gewesen, in diesem Mann den Täter identifiziert zu haben.
Aufmerksam ging er die Aufnahmen weiter durch. Beobachtete vier Pärchen, Männer und Frauen, die zusammen weggingen. Wegen des Wetters trugen auch sie Mütze, Kapuze und Schal, und die Sicht war ohnehin zu schlecht, um von den Gesichtern etwas erkennen zu können.
Olav nahm eine kleine junge Frau wahr, die einen unglaublich großen, grünen Rucksack schultern wollte. Beim Aufsetzen an der Ladeluke war sie auf die Hilfe eines Fahrgastes angewiesen, und als sie einen Moment später durch den Bildausschnitt der anderen Kamera ging, war sie noch damit beschäftigt, den Rucksack ordentlich auf ihrem Rücken zu positionieren. Sie verschwand dahinter, nur ihre Beine waren noch zu sehen.
Etwas an der Aufnahme ließ Olav aufmerksam werden, doch bevor er sie wieder zurückspulen konnte, um der Sache auf den Grund zu gehen, fiel ihm auf dem anderen Bildschirm der ältere Mann auf.
Er trug einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut und benahm sich anders als die anderen Fahrgäste. Als Einziger schien er Zeit zu haben, denn er stieg als Letzter aus dem Bus und wartete an den Ladeluken, bis der Busfahrer ihm seinen Koffer aushändigte. Dann ging er davon, langsam, zögerlich, sich immer wieder umschauend. Er war vielleicht siebzig Jahre alt, groß und hager und wirkte in seiner schwarzen Kleidung wie ein Leichenbestatter. Zudem wie ein äußerst beherrschter, korrekter Mensch, der Zettel kongruent falten und auf Pünktlichkeit bestehen würde.
Olav machte sich eine Notiz, um Leonie später darauf hinzuweisen, unter den Fahrgästen auf einen älteren Herrn zu achten.
Schließlich brannten seine Augen hinter der verdammten Brille. Er setzte sie ab und rieb sich über die Lider, bis Tränen kamen.
Dann lehnte er sich in dem bequemen Drehstuhl zurück, schloss die Augen wieder und gönnte sich eine Pause.
Erst jetzt spürte er, wie müde er war.