7.
Donnerstag, 19. Dezember 2019 Berlin
Die wummernden Bässe der Technomusik versetzten die Körper auf der Tanzfläche in ekstatischen Rhythmus. Unter zuckenden und wirbelnden Lichtern tanzten sie eng an eng, warfen die Arme in die Höhe, wiegten sich im Takt, verloren sich in der Musik.
Doch Carmen Schmidt konnte nicht mehr.
Nach einer Stunde Tanzen war sie fertig und drängte sich durch die verschwitzten, halb nackten Körper bis zum Rand des Dancefloors. Dabei sah sie sich nach Anja um, die bis vor ein paar Minuten noch in ihrer Nähe getanzt hatte, konnte sie aber nicht entdecken.
Carmen stieg in den ersten Stock des Klubs hinauf. Dort hatte man von einer umlaufenden Galerie Ausblick auf die Tanzfläche. Die kurze Nacht, der Schock der Verfolgung und die lange Shoppingtour forderten ihren Tribut: Carmen sehnte sich nach einem Bett. Heute Nacht würde sie abermals bei Anja schlafen und morgen nach einem späten Frühstück zu ihren Eltern aufbrechen, um mit ihnen Weihnachten zu feiern. Ganz klassisch im Kreise der Familie.
Carmen ergatterte einen Platz an der Balustrade, hielt nach Anja Ausschau und entdeckte sie mitten auf der Tanzfläche.
Anja sah verdammt gut aus und bewegte sich fantastisch – das war schon immer so gewesen. Sie hatte ein ausgeprägtes Körpergefühl, deshalb war sie auch in jeder Sportart, die sie ausübte, gut, aber das war es nicht allein. Sie schien beim Tanzen ihre Gedanken abstellen und sich der Musik hingeben zu können, ganz so, als verschmelze sie mit den Klängen. Oft tanzte sie mit geschlossenen Augen und bemerkte die anerkennenden oder gierig lüsternen Blicke der Jungs oder die neidvollen der Mädchen nicht einmal.
Als Carmen sich abwenden wollte, um Anja von der Tanzfläche zu holen, bemerkte sie den Typen auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie.
Was genau sie aufmerksam werden ließ, hätte Carmen nicht zu sagen gewusst. Vielleicht war es einfach nur sein Blick. Dieser starre, fixierende, beinahe schon durchdringende Blick.
Und der galt ihr! Kein Irrtum!
Der Typ starrte sie unverwandt an. Eine Hälfte seines Gesichts verschwand im Halbdunkel, die andere wurde immer wieder vom aufblitzenden Licht eines blauen Scheinwerfers angestrahlt. Auf den schmalen Lippen lag ein leichtes Lächeln, aber vielleicht bildete Carmen sich das auch nur ein.
Sie stieß sich von der Galerie ab, taumelte zwei Schritte rückwärts und prallte mit einer Frau zusammen. Die zischte ihr ein »Pass doch auf!« entgegen und verschwand in Richtung Sektbar. Carmen wollte nur noch weg. Sie eilte die Treppe hinunter und kämpfte sich zur Mitte der Tanzfläche durch, wo sie Anja an der Schulter packte und zu sich herumriss.
Carmens Gesichtsausdruck alarmierte ihre Freundin.
Da sie sich wegen der lauten Musik nicht unterhalten konnten, gab Carmen ihr durch Zeichen zu verstehen, dass sie mit hinauskommen sollte. An der Garderobe ließen sie sich ihre warmen Jacken geben, und keine fünf Minuten nachdem Carmen den Mann an der Galerie entdeckt hatte, standen sie draußen in der eiskalten Nachtluft. Von der Musik drangen nur noch die wummernden Bässe zu ihnen.
»Was ist denn los?«, fragte Anja, die sich die Arme um den Körper schlang. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Hab ich auch! Der Typ, der uns gestern Nacht verfolgt hat … Ich glaube, der ist da drin.«
»Im Klub?«
Carmen berichtete ihrer Freundin, wie er ihr aufgefallen war.
»Lass uns reingehen und ihn zur Rede stellen«, sagte Anja entschlossen.
Carmen schüttelte den Kopf. »Ich will lieber nach Hause.«
»Jetzt schon? Bist du sicher?«
Carmen nickte.
»Okay, dann lass uns ein Taxi nehmen. Erstens ist das sicherer, und zweitens friere ich mich gerade zu Tode.«
Beinahe fluchtartig stürzten sie auf den nächsten Taxistand zu. Anja riss die hintere rechte Tür auf und ließ Carmen zuerst einsteigen. Nach einem langen Blick zurück zum Klub rutschte sie hinterher.
Anja nannte dem Fahrer ihre Adresse, dann lehnte sie sich zurück und nahm Carmens Hand. »Wie sicher bist du?«
Carmen zuckte mit den Schultern. Sie spürte ihr Herz rasen, kam sich jetzt aber ein wenig kindisch vor, weil sie so überreagiert hatte.
»Ich weiß nicht … Die Art, wie er mich da drinnen angestarrt hat … Das war wirklich beängstigend.«
Anjas langer, fragender Blick ließ Carmen an sich selbst zweifeln. Litt sie etwa unter Verfolgungswahn?
»Vielleicht hast du dir einen Stalker eingefangen«, sagte Anja schließlich.
»Mal den Teufel nicht an die Wand!«
»Ach und wennschon! Bei mir zu Hause bist du sicher, und in dem Klub war es sowieso zu voll. Wir kuscheln uns ins Bett, trinken Prosecco und schauen uns irgendeinen Film auf DVD an, was meinst du?«
Carmen rang sich ein Lächeln ab und stimmte nickend zu.