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Freitag, 20. Dezember 2019 Dresden
Seit einer halben Stunde trieb Rico sich am Omnibusbahnhof herum und beobachtete die ankommenden und abfahrenden Busse. Er fror entsetzlich. Die Kälte kroch durch seine ungefütterten Sportschuhe die Beine hinauf, Zehen und Füße spürte er schon gar nicht mehr. Seine Nase lief ununterbrochen, und die Rotze fror in seinem ungepflegten Bart fest.
Und dann sah er die Geldsäcke in ihren langen, warmen Mänteln und stellte sich vor, wie sie sich abends in ihre Daunendecken kuschelten, umgeben von Mauern, zwischen denen es behaglich warm war. So wie früher sein Zuhause, als seine Eltern noch lebten und alles in Ordnung gewesen war.
Geld war nicht gerecht verteilt auf dieser Welt, und solange sich das nicht änderte, durften sich die, die nichts hatten, bei denen bedienen, die zu viel hatten. So sah Rico das, deshalb verursachte Klauen auch kein moralisches Dilemma bei ihm. Hatte es noch nie.
Die Sache mit den Koffern war simpel und effektiv.
Hier in Dresden herrschte am Vormittag immer ein heilloses Durcheinander, wenn die Fern- und Reisebusse eintrafen. Alle Fahrgäste stürmten zu den Laderäumen und wollten ihre Koffer haben, es konnte ihnen gar nicht schnell genug gehen, und die Busfahrer waren überfordert. Manchmal befand sich zusätzliches Personal vor Ort, dann musste man vorsichtig sein oder besser die Finger davon lassen.
So brauchte er es bei Flixbus heute gar nicht zu probieren, da liefen zwei Aufpasser herum, die das Be- und Entladen beaufsichtigten.
Doch jetzt kam einer der auffälligen silbernen Busse von Youbus um die Ecke. Rico mochte das Emblem mit dem Zeigefinger im O. Das war cool und sprach ihn an. Er verspürte Lust, selbst so ein Ungetüm zu lenken. Vielleicht sollte er sich mal bei dem Verein bewerben. Wenn die ihm den Busführerschein bezahlten – warum nicht!
Am Gate von Youbus gab es keine Aufpasser. Zumindest hatte Rico noch nie einen gesehen. Wahrscheinlich wollten die einfach Kosten sparen. So richtig gut schien es bei denen nicht zu laufen, wenn man betrachtete, wie viele Busse von Flixbus hier unterwegs waren und wie wenige von Youbus.
Umso besser für Rico.
Er wartete ab, bis klar war, an welchem Gate der Bus stoppte, dann setzte er sich in Bewegung. Die Kapuze seines Hoodies über dem Kopf, die Schultern nach vorn gezogen, die Hände tief in den Taschen, ging er langsam und ohne Hast auf den Bus zu. Der hielt in diesem Moment, und die Luftdruckbremsen stießen ihr gewohntes Zischen aus. Hinter den Scheiben sah Rico die Gesichter der Fahrgäste. Der Bus schien voll besetzt zu sein. Zu den Feiertagen war die ganze Welt unterwegs.
Rico achtete darauf, nicht ins Blickfeld des Fahrers zu geraten. Er durfte sich nicht vor der Windschutzscheibe oder im Winkel der Rückspiegel aufhalten, dann war alles in Ordnung.
Während Rico darauf wartete, dass der Fahrer ausstieg und die Ladeklappen öffnete, träumte er schon von seinem Koffer. Gefüllt mit warmer Kleidung, Handschuhen mit Fell und gefütterten Stiefeln, die ihm passten. Mit der Größe war das immer so eine Sache, man wusste ja nicht, wem der Koffer gehörte. Bei den letzten vier Koffern hatte Rico Pech gehabt. Nur Frauensachen, nichts, was er selbst gebrauchen konnte. Einiges davon hatte er verkaufen können, den Rest einfach weggeschmissen. Er schämte sich noch immer für die lange Unterhose, die er jetzt gerade trug. Sie war aus Merinowolle und hielt echt warm, aber es war ein Frauenteil. Unter seiner Cargohose sah das zwar niemand, aber er wusste, er lief in einer Frauenunterhose herum, und das setzte Rico schwer zu. Jeder Mann hatte schließlich seinen Stolz, selbst wenn er auf der Straße lebte.
Die ersten Fahrgäste drängten sich an die Ladeluke. Rico setzte die Kapuze ab, nahm die Hände aus den Taschen und mischte sich unter sie. Es wurde geschoben und gedrängelt, wie immer wollte jeder der Schnellste sein, vor allem bei dieser Kälte. Dennoch war vergleichsweise wenig los, da nur ein einziger Bus an diesem Gate hielt.
Rico musste sich sputen. Sollte der Fahrer ihn entdecken, wäre er geliefert.
Also drängte er sich nach vorn durch, fing sich dabei ein paar böse Blicke ein und schnappte sich einen Koffer. Er war sogar noch umsichtig genug, nicht den violetten oder den giftgrünen zu nehmen, da seiner Erfahrung nach Frauen diese auffälligen Farben bevorzugten.
Als er den schwarzen Koffer am Griff packte und mit sich zog, spürte er schon, dass er heute wieder kein Glück haben würde. Der Koffer war viel zu leicht, um ordentlich bestückt zu sein. Aber es war zu spät, er hatte nur diesen einen Versuch. Die Fahrgäste beäugten ihn bereits misstrauisch, und eine Dame sagte: »Ist das überhaupt Ihr Koffer? Sie waren doch gar nicht im Bus.« Dann rief sie lauthals: »Der klaut einen Koffer!« Sie zeigte mit dem Finger auf ihn, und alle schauten ihn an.
Rico machte, dass er davonkam.
Wäre das Gepäckstück schwer gewesen, hätte er es zurücklassen müssen, aber mit dem leichten Koffer konnte er rennen, jedenfalls eine kurze Strecke.
»Hey. Bleib stehen, oder ich reiße dir den Kopf ab!«, rief der Fahrer.
Rico hörte ihn hinter sich schnaufen. Der Mann arbeitete im Sitzen und hatte einen ordentlichen Bauch. Wie lange würde er mithalten können?
Ricos Fitness hielt sich leider auch in Grenzen, überdies hatte er noch nicht gefrühstückt, nur einen Kaffee getrunken, und dieses Rasseln auf der Brust, das er seit einigen Tagen spürte, behinderte ihn zusätzlich beim Laufen.
Lass den Koffer fallen, dachte Rico.
Bevor er das tat, sah er über die Schulter zurück, da er seine Beute nicht einfach aufgeben wollte. Auf einen Kampf mit dem Fahrer würde er es nicht ankommen lassen, aber vielleicht fiel der Typ ja schon zurück.
Irrtum!
Er war schneller als gedacht. Wie eine Dampfmaschine arbeitete er sich vor.
Doch in diesem Moment übersah er die Bordsteinkante, die Rico übersprungen hatte, blieb mit dem rechten Fuß daran hängen und stürzte aus vollem Lauf nach vorn. Noch während er fiel, veränderte sich der Gesichtsausdruck des bulligen Fahrers. Aus Wut wurde Verblüffung und schließlich Angst. Er wollte seinen Sturz mit den Armen auffangen, doch dafür war er zu schwer. Seine Arme knickten unter ihm weg, und er schabte einen halben Meter mit dem Gesicht über das Pflaster. Dabei schrie er auf, und Rico sah Blut spritzen.
Rico nahm den leichten Koffer in die andere Hand und gab Fersengeld.