2.
Freitag, 20. Dezember 2019 Altena
Jan Kantzius betrachtete vom Wagen aus die alte Kaufmannsvilla. Sie lag eine knappe Autostunde von Dortmund entfernt außerhalb der Ortschaft Altena in einer landschaftlich reizvollen, hügeligen, von der Lenne durchflossenen Gegend.
Die Kröger-Kinder hatten das Haus von ihren frühzeitig verstorbenen Eltern geerbt, so viel wusste er bereits. Die Zigarrenfabrik der Krögers war dereinst in Altena ansässig gewesen, nach einem verheerenden Brand, bei dem der alte Kröger ums Leben gekommen war, heute aber nicht mehr als eine verfallene Industrieruine.
Jan hatte keine Ahnung, wie viel von dem einstigen Vermögen der Familie geblieben war. Sollte Geld da sein, setzten die Geschwister es zumindest nicht zur Pflege des Hauses ein. Die Villa bröckelte vor sich hin, strahlte aber immer noch etwas von der früheren Noblesse aus. Der parkähnliche Garten war verwildert.
Jans erstes Gespräch mit den Kröger-Geschwistern hatte in einem Restaurant in Hagen stattgefunden. Dass die Familie ihn heute hierher eingeladen hatte, war seiner spontanen Bitte um ein erneutes Gespräch geschuldet.
Jan stieg aus, schloss seinen alten Defender ab, lief über die Straße und betrat durch eine quietschende schmiedeeiserne Pforte das Grundstück. Dabei fühlte er sich an ein altes Gruselschloss erinnert.
In dieses Bild fügte sich Constanze Kröger nahtlos ein. Sie erwartete ihn oben auf der Treppe, trug ein graues Wollkleid mit grauer Strickjacke und schwarzen Schuhen und wirkte so verhärmt und abweisend wie schon bei ihrem ersten Gespräch. Sie hatte das Gesicht eines Raubvogels, länglich, spitz, mit weit hervorstoßender Nase und einem Blick, der mühelos durch jede Oberfläche zu dringen schien.
»Herr Kantzius«, begrüßte sie ihn. »Haben Sie schon gefrühstückt? Wir sind gerade dabei und würden Sie gern einladen.«
»Gegen einen Kaffee habe ich nichts einzuwenden.«
Die Älteste der Kröger-Geschwister, sie mochte Mitte fünfzig sein, bat ihn herein und führte ihn in den Speisesaal. Eine beginnende Skoliose krümmte ihren Rücken, und Jan starrte auf hervorstechende Wirbel, als er ihr folgte. Ihre hochhackigen schwarzen Schuhe klackerten auf dem Fliesenboden, ein Geräusch, das in den hohen, weitläufigen Räumen widerhallte. Im Speisesaal stand ein riesiger Tisch verloren mitten im Raum, die Luft war kalt und klamm, und niemand saß daran.
Jan blieb vor einem Gemälde an der rechten Wandseite stehen. Darauf war ein Paar in den Vierzigern abgebildet. Der Mann, ganz Patriarch, mit strengem Blick und steinerner Miene, ragte hoch auf neben der Frau, die in einem Rollstuhl saß. Eine Decke lag auf ihren Beinen. Ihr Gesicht war weicher, freundlicher, mit dem Anflug eines Lächelns darin.
»Sind das Ihre Eltern?«, fragte Jan.
»Ja. Hier entlang, bitte.« Constanze Kröger schien nicht gewillt, über das Bild oder ihre Eltern reden zu wollen.
Sie führte ihn in die Küche. Die war um einiges kleiner, gemütlicher und, dank des Kaminofens, gut geheizt. Es roch nach Brötchen und Kaffee. Schwedenlichter an den hohen Fenstern verbreiteten weihnachtlich besinnliche Stimmung.
Am Tisch saß Heinrich Kröger, mit neunundvierzig der Zweitälteste der Geschwister. Er sah keineswegs jünger aus als seine Schwester, die Zeit war nicht nett mit ihm umgegangen. Ein grauer Haarkranz rahmte eine schorfige Glatze, die Tränensäcke untermalten feuchte, farblose Augen, die Schultern waren schmal und knochig, die langen Finger knotig. Kröger saß im Rollstuhl. Den Grund dafür kannte Jan nicht, aber nachdem er das Bild der Eltern an der Wand nebenan gesehen hatte, mutmaßte er, es müsse sich um eine vererbte Krankheit handeln. Auch Constanze schien davon betroffen zu sein. Ihre Wirbelsäule sah wirklich schlimm aus.
»Herr Kantzius«, begrüßte er Jan. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Jan folgte der Einladung, und Constanze Kröger goss ihm aus einer silbernen Thermoskanne Kaffee ein. Der roch abgestanden und schmeckte auch so.
»Ihr jüngerer Bruder ist heute nicht dabei?«, fragte Jan.
»Nein. Karl-Otto kümmert sich um das Geschäft in der Stadt. Einer muss es ja tun, nachdem Elke ausgefallen ist.«
Jan wusste, dass die beiden jüngeren Kröger-Geschwister in Dortmund ein Reisebüro betrieben.
»Nach unserem ersten Gespräch vergangenen Samstag gingen wir davon aus, Sie würden Elke schnell finden«, eröffnete Heinrich Kröger das Gespräch mit einem Vorwurf.
»Wenn es so einfach wäre, hätten Sie sie selbst finden können, nicht wahr?«
Jan erntete missbilligende Blicke.
»Zumindest kann ich zu diesem Zeitpunkt den Ex-Mann Ihrer Schwester ausschließen – sowie einen weiteren Mann, zu dem sie über das Internet Kontakt aufgenommen hatte. Beide hatten kein Motiv, Elke etwas anzutun.«
»Rache ist immer ein Motiv«, sagte Heinrich.
»Rache ist ein Gericht, das heiß serviert werden muss. Die Scheidung liegt fünf Jahre zurück, der Kontakt zu dem anderen Herrn war im Mai. Glauben Sie mir, von denen beiden steckt keiner dahinter.«
»Und was genau ist dann der Grund für Ihren Besuch heute?«
»Informationen. Wenn ich erfolgreich sein soll, dürfen Sie beide nicht so zugeknöpft sein.«
»Ich muss doch schon bitten!«, versetzte Heinrich.
»Was ich brauche, sind Informationen aus Elkes Privatleben. So detailliert wie möglich.«
»Unsere Privatsphäre ist ein hohes Gut!«, entgegnete Kröger erbost.
»Die Familie ist das Wichtigste, wissen Sie«, fuhr Constanze beschwichtigend dazwischen. »In der heutigen Zeit gibt es keinen sichereren Ort als die Familie, aber man muss sie mit aller Kraft gegen äußere Einflüsse verteidigen, und das ist uns über all die Jahre auch gelungen, bis Elke …«
Heinrich Kröger räusperte sich, und seine Schwester verstummte.
»Elke hat einen anderen Weg gewählt und sich dadurch selbst in Gefahr gebracht«, sagte er. »Das tat sie gegen unseren Willen, aber natürlich gehört sie weiterhin zur Familie, und wir tun alles dafür, sie zu finden. Deshalb bezahlen wir Sie, Herr Kantzius.«
Der letzte Satz war eindeutig als Vorwurf gedacht, doch diesen Schuh würde Jan sich nicht anziehen. Er hatte den Kröger-Geschwistern gleich gesagt, dass sich solche Ermittlungen hinziehen könnten und sie besser zusätzlich noch die Polizei einschalten sollten. Jan wusste zwar, dass die Polizei bei einer erwachsenen Frau, die erst seit ein paar Tagen verschwunden war, nicht wirklich aktiv werden würde, aber auf die Möglichkeit hinweisen wollte er die Krögers dennoch. Doch davon wollten sie nichts wissen. Es war ihnen peinlich, fremde Menschen im aus ihrer Sicht unsteten Liebesleben ihrer Schwester herumwühlen zu lassen. Sie fanden, es werfe ein schlechtes Licht auf sie und ihren Familiennamen. Einen Privatdetektiv wie Jan mit der Suche zu beauftragen hatte sie viel Überwindung gekostet. So kühl und distanziert die beiden auch wirkten, musste ihnen doch etwas an ihrer Schwester liegen.
»Und deshalb bin ich hier«, sagte Jan. »Schon bei unserem letzten Gespräch hatte ich Sie darum gebeten, noch einmal darüber nachzudenken, zu wem Ihre Schwester Kontakt hatte. Sie sagten, sie wüssten zwar, dass Elke sich nach ihrer Scheidung und einer langen Trauerzeit im Internet auf die Suche nach einem neuen Partner gemacht hat, Ihnen mögliche Kandidaten aber nicht vorgestellt hatte …«
»Weil wir das nicht wollten«, fiel Heinrich ihm ins Wort. »So weit kommt es noch, dass wir diese Menschen hier bewirten.«
»Hat Ihre Schwester nicht mal einen Namen fallen lassen? Jeder Hinweis könnte mir weiterhelfen. Denken Sie bitte noch einmal nach.«
»Herr Kantzius«, hob Heinrich Kröger an. »Sie müssen uns nicht zum Nachdenken auffordern, das haben wir bereits ausführlich getan, bevor wir Sie engagiert haben. Die Namen dieser Herren sind uns nicht bekannt, die werden Sie für Ihr nicht gerade zurückhaltendes Honorar schon selbst herausfinden müssen. Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal darauf hinweisen, dass ich Elkes Ex-Mann an die erste Stelle der Verdächtigenliste setze.«
»Das sagten Sie bereits bei unserem ersten Gespräch, aber ich teile Ihren Verdacht nicht. Welchen Grund sollte Rainer Brand haben, seiner Ex-Frau jetzt noch etwas anzutun?«
»Geld«, sagte Heinrich Kröger.
Jan schüttelte den Kopf. »Das Geld hat er vor fünf Jahren bezahlen müssen und bekommt es auch nicht wieder, falls Elke etwas zustößt. Das ist kein Motiv.«
»Wenn Sie das sagen.«
Das klang abfällig, und Jan musste sich zusammenreißen, um Kröger nicht in die Schranken zu weisen.
»Hingegen ist die Suche nach einem Partner im Internet für Frauen alles andere als ungefährlich«, fuhr Jan sachlich fort. »Hier vermute ich den Grund für das Verschwinden Ihrer Schwester. Wenn Sie mir keine Namen nennen können, brauche ich Zugang zu Elkes PC. Wenn sie online auf der Suche war, sollten dort Daten gespeichert sein.«
»Wir haben hier im Haus keinen Computer«, sagte Constanze. »Elke hat nur im Reisebüro einen.«
»Dann brauche ich Ihre Erlaubnis, mir dort Zugang zu verschaffen.«
Die Geschwister sahen sich an, und Heinrich räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Das müssen wir zuvor mit unserem Bruder Karl-Otto besprechen. Er führt ja zusammen mit Elke das Reisebüro und kennt sich dort aus.«
»Geben Sie mir einfach seine Nummer, dann ruf ich ihn an und kümmere mich darum«, sagte Jan herausfordernd.
Die Geschwister sahen sich kurz an, und auf ein kaum merkliches Nicken von Heinrich sprang Constanze auf. Sie zog eine Schublade auf und notierte etwas auf einen Notizzettel.
»Das ist die Nummer des Reisebüros. Ein Handy hat Karl-Otto meines Wissens nicht.«
Jan steckte den Zettel ein. »Bevor ich gehe, gestatten Sie mir noch eine Frage: Ihre Schwester lebt doch in diesem Haus, oder?«
»Das ist richtig, wir leben alle hier.«
»Und trotzdem wissen Sie nichts von etwaigen Verehrern Ihrer Schwester.«
»Wie ich bereits sagte, dulden wir diese Art von Männerbesuchen hier nicht.« Heinrich rollte ein Stück vom Tisch zurück. »War es das für heute?«
»Ja, das war es für heute.«
Jan ließ die Kaffeetasse halb gefüllt zurück, verzichtete auf einen Handschlag zur Verabschiedung und folgte Constanze zur Tür. Am liebsten hätte er diesen Gruselgeschwistern den Fall vor die Füße geworfen, aber das konnte er Rica nicht antun. Wenn ein Fall sie erst einmal interessierte, ließ sie nicht locker und würde auch umsonst arbeiten – gerade wenn es um vermisste Frauen ging.
»Mein Bruder kann sehr … bestimmend sein«, sagte Constanze Kröger, als sie die Haustür erreichten. »Er meint es nicht so.«
»Hm … Ich finde ja, man sollte immer meinen, was man sagt.«
»Unser Leben ist nicht leicht, wissen Sie. Heinrich ist sehr krank.«
»Woran leidet er? Ich habe gesehen, dass auch Ihre Mutter im Rollstuhl saß.«
»Es ist eine Erbkrankheit, eine seltene Form der Muskeldystrophie.«
»Tut mir leid zu hören«, sagte Jan, es folgte ein peinlicher Moment des Schweigens.
»Haben Sie vielleicht noch etwas für mich, das mir weiterhilft, Ihre Schwester zu finden?«, beendete Jan die Stille. »Sie wollen doch, dass ich sie finde, nicht wahr?«
»Ja natürlich. Aber ich weiß nicht …«
Constanze Kröger hielt inne und warf einen Blick zurück, so als müsse sie sich davon überzeugen, dass ihr Bruder ihnen nicht gefolgt war.
»Es gibt da diesen furchtbaren Versicherungsmenschen«, sagte sie unvermittelt.
»Was für ein Versicherungsmensch?«, hakte Jan nach.
»Elke hat ihn einmal wegen der Gebäude- und Hausratversicherung hierher mitgebracht. Er hatte Elke so lange bedrängt, bis sie ihm auch gestatten wollte, sich um unsere privaten Versicherungsangelegenheiten zu kümmern. Da sind diese Menschen ja alle gleich, kennen keinen Respekt oder Anstand. Aber nicht mit uns! Heinrich hat ihn in die Schranken gewiesen.«
»Was wollte er denn überhaupt von Ihrer Schwester? Geschäftlich, meine ich.«
»Nun, er verhandelte mit Elke für seinen Konzern die Bedingungen für die Reiserücktrittsversicherungen. Und dabei sollte es auch bleiben. Es war eine Unverschämtheit, Elkes Gutmütigkeit dahin gehend auszunutzen, sich in unsere Familienangelegenheiten einzumischen.«
»Warum haben Sie sich jetzt an den Mann erinnert?«, fragte Jan.
Constanze zuckte mit den Schultern.
»Ich hatte den Eindruck, meine Schwester mochte ihn.«
»Können Sie mir einen Namen und eine Adresse nennen?«
»Den Namen weiß ich, die Adresse aber nicht. Er ist nicht von hier, sondern aus Bremen.«