3.
Freitag, 20. Dezember 2019 Berlin
Keine halbe Stunde nach dem Anruf erreichte der Tross aus drei Fahrzeugen die Adresse, die Eduard Schmidt Leonie genannt hatte. Eine ordentliche Wohnstraße mit relativ neuen Häusern, aufgeräumt und gepflegt, der Schnee lag wie eine saubere weiße Decke über allem. An den Straßenrändern parkten zugefrorene Autos, Menschen waren keine zu sehen. Doch als die Streifenwagen vor dem Haus zu stehen kamen, sprang ein älterer Herr aus einem aufgetauten VW Tiguan und ruderte mit den Armen.
Schmidt war ein hoch aufgeschossener Mann Mitte sechzig mit einem länglichen Gesicht und viel zu großen Zähnen ohne sichtbares Zahnfleisch. Seine Kleidung schlackerte an ihm herum, ein altmodischer Hut bedeckte seinen Kopf.
Auf der Beifahrerseite stieg seine Frau aus. Sie war klein, rund und dauergewellt, klammerte sich an den Lederriemen ihrer braunen Handtasche und tupfte sich zwischendurch die rot geweinten Augen trocken.
Leonie ging auf die Schmidts zu und stellte sich vor.
»Haben Sie noch einmal versucht, Ihre Tochter telefonisch zu erreichen?«, fragte sie dann.
»Die ganze Zeit, immer wieder, wo waren Sie denn nur so lange?« Frau Schmidt ließ ihrem Mann keine Zeit zu antworten. »Was ist denn nur passiert? Ist meiner Carmen etwas zugestoßen? Bitte, Sie müssen etwas unternehmen! Im Radio sagen sie, in dem Bus waren Leichenteile und ein Mörder … O Gott, bitte nicht … nicht wir …«
Frau Schmidt wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, ihr Mann musste sie stützen.
»Haben Sie einen Wohnungsschlüssel?«, fragte Leonie ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Hier wohnt ja nicht unsere Tochter, sondern deren Freundin, Anja Kleine. Carmen ist über die Weihnachtstage zu Besuch in Berlin, wissen Sie. Sie wollte zuerst zwei Tage bei Anja bleiben und die Feiertage dann bei uns verbringen. Aber der Hausmeister wohnt da drüben, der hat einen Schlüssel, das weiß ich noch vom Einzug, bei dem wir Anja geholfen haben.«
Schmidt zeigte auf das gegenüberliegende Haus gleicher Bauart.
Leonie schickte einen Beamten hinüber und ging mit den anderen im Schlepptau auf das Haus zu, in dem Carmen Schmidt die Nacht verbracht haben sollte. Klingeln und Postkästen verrieten, dass hier sechs Parteien lebten. Auf der Klingel unten rechts stand der Name Anja Kleine.
Nach wenigen Minuten kam der Beamte mit dem Schlüssel und sperrte auf. Der Hausmeister, noch im Bademantel, beobachtete das Geschehen von der anderen Straßenseite aus, die Schmidts vom Gartenzaun.
»Passen Sie auf, dass niemand die Wohnung betritt«, wies Leonie einen der Beamten an. »Die anderen kommen mit rein. Benutzt die Dienstwaffen.«
Bevor die Wohnungstür geöffnet wurde, zogen alle, auch Leonie, ihre Waffen, überprüften und entsicherten sie. Leonie ging nicht davon aus, dass der Täter sich in dieser Wohnung aufhielt, denn falls er hier gewesen sein sollte, hatten die Schmidts ihn längst verschreckt. Aber natürlich musste man auf Nummer sicher gehen.
Auf ein Nicken hin öffnete ein Beamter die Tür.
Die beiden anderen stürmten hinein, riefen laut »Polizei« und sicherten.
»Tote Person«, rief einer.
Im Flur lehnte eine junge Frau an der Wand. Über ihrem Kopf verlief eine Blutspur, die wie ein Hinweispfeil auf sie zeigte. Sie trug enge Jeans und eine dicke Winterjacke, die geöffnet war, darunter blitzte ein mit Pailletten besetztes Oberteil hervor. Die Hände der Frau lagen entspannt auf dem Boden, bei ihren Füßen zeugten schwarze Abstriche der Schuhe auf dem Laminat von einem quälenden Todeskampf. Ihr Gesicht sprach Bände. Die gebrochenen Augen weit geöffnet, ebenso der Mund, aus dem die Zunge herausschaute. An dem langen schlanken Hals waren überdeutlich Würgemale zu erkennen, einzelne Fingerabdrücke, die sich tief ins Fleisch gebohrt hatten. Da hatte jemand mit aller Kraft zugedrückt.
Aber die Leiche hatte Hände und Füße.
Wie passte das ins Bild?
Und um wen handelte es sich? Anja Kleine oder Carmen Schmidt? Ähnlichkeit mit dem älteren Pärchen draußen vor dem Haus hatte die junge Frau nicht.
»Scheiße!«, rief einer der Beamten. Unmittelbar darauf kam er aus einem Raum auf der linken Seite des Flures. Kreidebleich, eine Hand vor dem Mund, stürmte er an Leonie vorbei aus der Wohnung.
Der zweite Beamte kam auf Leonie zu. Zutiefst erschüttert sah er sie an.
»Die Wohnung ist sicher«, sagte er mit brüchiger Stimme.
»Rufen Sie die Spurensicherung und den Rechtsmediziner«, wies Leonie ihn an.
Leonie steckte ihre Waffe weg und näherte sich dem Zimmer, aus dem der Kollege Hals über Kopf geflohen war. Nach Olav Thorns Beschreibung von dem Tatort in Bremen ahnte Leonie, was sie erwartete, und sie versuchte, sich darauf vorzubereiten. Doch kaum stand sie in der geöffneten Tür, wurde ihr klar, dass auch sie ohne den Bericht ihres Bremer Kollegen vor diesem Anblick geflüchtet wäre.
Zwischen Tür und Fenster stand ein Bett.
Auf den ersten Blick sah es jedoch so aus, als schwimme dieses Bett in einem See aus Blut. Die Bauart als schneeweißes Kastenbett verstärkte diesen Effekt noch. Auf dem Bett – das Bettzeug war nicht zu sehen – lag eine weitere weibliche Leiche. Sie trug lediglich Unterwäsche, war klein, schlank und hübsch.
Fünf schwarze Nylonbänder verliefen über ihren Schienbeinen, den Knien, der Hüfte, dem Bauch und dem Hals und fesselten sie ans Bett.
An den Enden der Extremitäten war die Leiche amputiert.
Leonie hatte sich dazu zwingen wollen, diesem Anblick standzuhalten, so wie es sich für eine erfahrene Polizistin gehörte, doch was sie da sah, war so ungeheuerlich, so unfassbar für ihren Verstand, dass er sofort körperliche Reaktionen animierte, die Leonie zwangen, sich abzuwenden. Sie spürte ihren Mageninhalt aufsteigen und besaß gerade noch die Geistesgegenwart, nicht nach vorn durch die Haustür zu laufen, wo sowohl die Schmidts als auch ihre Kollegen sie beobachtet hätten. Stattdessen stürmte sie durch die Terrassentür in den kleinen rückwärtigen Garten, stolperte in den Schnee hinaus und erbrach sich auf die unbefleckte weiße Haube eines kugelförmig gestutzten Buchsbaums.
Ihr Magen schmerzte, und ihr Hals brannte, als sie zurücktaumelte und sich unter der Überdachung auf einen Gartenstuhl sinken ließ. Sie nahm eine Handvoll Schnee, wischte sich damit die Lippen ab, nahm etwas in den Mund, ließ den Schnee schmelzen und spuckte ihn zusammen mit dem widerlichen Geschmack aus.
Dann saß sie da und starrte in den Garten hinaus, der weiß und rein und irgendwie jungfräulich erschien, bis auf den hellrötlichen Fleck, den sie auf dem Buchsbaum hinterlassen hatte, und statt wieder hineinzugehen und alles zu veranlassen, was veranlasst werden musste, dachte sie an ihre Tochter Solveig.
Die beiden Mädchen dort oben waren nicht viel älter.
Die Eltern standen vor dem Haus und wussten noch nicht, dass sie niemals wieder ein Wort mit ihrer Tochter wechseln würden. Ebenso die Eltern von Anja …
Grundgütiger!
Leonie zog ihr Handy hervor, rief WhatsApp auf, betrachtete einen Moment das Foto ihrer Tochter und schickte ihr eine Nachricht.
Geht es dir gut? Ich vermisse dich. Komm nach Hause, wann immer du magst.
Leonie wusste, sie brauchte nicht auf eine Antwort zu warten, weil Solveig ihr nicht so bald antworten würde. Trotzdem starrte sie ihr Handy an, sah, dass ihre Nachricht gelesen, aber nicht beantwortet wurde, und es versetzte ihr einen Stich.
Nicht jetzt, sagte Leonie sich. Jetzt musst du funktionieren.
Und das tat sie.
Rief die Spurensicherung, den Rettungswagen, den Rechtsmediziner, ihren Chef und die Polizeiseelsorgerin an. Setzte den ganzen Zirkus in Gang und spürte ihre Selbstsicherheit zurückkehren.
Dann stand sie auf und ging um das Haus herum nach vorn.
Carmen Schmidts Eltern standen am Gartenzaun und sahen ihr mit bangen Blicken entgegen.
Leonie hasste sich dafür, dass sie froh darüber war, nicht ihre eigene Tochter so gefunden zu haben.