5.
Freitag, 20. Dezember 2019 Bremen
Olav Thorn ging auf das Best-Western-Hotel in Bremen zu, in dem der Busfahrer Holger Lühring von seinem Arbeitgeber untergebracht worden war. So, wie Olav es angeordnet hatte, war dafür gesorgt worden, dass der Mann bis mindestens zum Dreiundzwanzigsten in der Stadt blieb.
Olav stand schon vor der Tür des Hotels, als er innehielt und auf diesen schreienden kleinen Wicht in seinem Hinterkopf hörte, der ihm mit schriller Stimme zurief, er habe gerade etwas Wichtiges übersehen.
Zurück auf dem Bürgersteig, wurde Olav klar, was der Wicht meinte.
Die Leuchtreklame über dem Eingang des Hotels!
Olav zog sein Handy hervor und suchte das Foto des Papierfetzens hervor, den der Spurentechniker Lackmann in dem Gestängeschacht des Koffers gefunden hatte, in dem die Leichenteile in Bremen angekommen waren.
Er verglich die Buchstaben mit der Leuchtreklame.
Ein B und ein Irgendwas, das durchaus Teil eines W sein könnte.
BW – Best Western.
Vor allem der blaue Kreis, das Logo der Hotelkette, war eindeutig.
Der Fetzen Papier in dem Koffer stammte von einem Best-Western-Hotel.
Olav starrte das Logo an und fragte sich, wie ihn diese Erkenntnis weiterbringen sollte. Es gab sicher Hunderte Hotels der Kette in Deutschland und ein Vielfaches weltweit. Letztendlich konnte der Koffer gestohlen sein, und der Fetzen Papier hatte gar nichts mit dem Täter zu tun. Dennoch würde er diese Spur verfolgen müssen.
Aber zuvor war eine andere Spur dran.
Und bei der konnte ihm der Busfahrer Holger Lühring weiterhelfen, der kein gutes Haar an seinem Arbeitgeber ließ und darauf hingewiesen hatte, dass er sich ausgebeutet fühlte. Ein Mann also, der zu wenig Geld hatte, aber in Bezug auf seinen Arbeitgeber keine moralische Barriere hatte und jede Chance nutzen würde, an mehr Geld zu kommen.
Wie vereinbart, wartete der massige Mann in der Hotellobby auf ihn. Er trug dieselbe Kleidung wie an dem Abend, an dem er ihn auf der Polizeistation im Hauptbahnhof vernommen hatte. Er schien sich unwohl zu fühlen. Sein rechtes Bein wippte auf und ab, und die Finger der rechten Hand trommelten einen nervösen Rhythmus auf der Armlehne des Klubsessels, in dem er es sich bequem gemacht hatte.
Er blieb auch bei der Begrüßung sitzen. Eine unhöfliche Geste, die Olav, der auf Höflichkeit viel Wert legte, registrierte.
»Haben Sie sich einigermaßen von dem Schock erholen können?«, fragte Olav. Er wollte eine angenehme Gesprächsatmosphäre schaffen, bevor er zum Grund seines Besuchs kam.
»Nee, nicht wirklich, dafür müsste ich nach Hause. Und wie ich gesehen habe, geht der Scheiß noch weiter!«
Er deutete auf den Fernseher in einer Ecke an der Wand. »Gerade haben sie gebracht, dass in Berlin auch Leichenteile in einem Youbus gefunden wurden. Damit scheide ich als Täter ja wohl aus.«
Was für eine merkwürdige Aussage, dachte Olav. »Hatten Sie denn das Gefühl, wir würden Sie verdächtigen?«
»Warum bin ich sonst noch hier?«
»Weil ich noch Fragen hinsichtlich Ihrer Fahrgäste habe«, entgegnete Olav.
»Wäre das nicht telefonisch gegangen?«
»Ach, wissen Sie, am Telefon wird man schnell mal belogen und merkt es nicht, weil der Blick in die Augen fehlt.«
Olav gab diesem Satz zwar eine lapidare Betonung, sah sein Gegenüber aber fest an.
Lühring hätte allen Grund gehabt, jetzt sauer zu sein und ihn anzumachen, doch das tat er nicht. Er schluckte trocken und rieb sich mit den Händen über die Knie.
»Was denn für Fragen?« Er klang kleinlaut.
»Beim jetzigen Ermittlungsstand müssen wir davon ausgehen, dass der Täter an Bord Ihres Busses war. Wir haben mittlerweile aber alle Fahrgäste vernommen«, log Olav, »niemand kommt infrage. Und das passt nicht. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt, ob jemand unbefugt im Bus gewesen sein könnte.«
»Unbefugt? Wie das denn? Nein, nein, auf keinen Fall. Alle, die drin waren, standen auf der Liste, und ich habe die Fahrkarten überprüft.«
»Wie geht das vor sich mit dem Überprüfen der Karten? Beschreiben Sie es mir bitte.«
»Na ja, mittlerweile buchen alle übers Internet, bis auf ein paar alte Herrschaften, die am Ticketschalter oder im Reisebüro ihre Karten kaufen. Aber auf dieser Tour gab es nur elektronische Tickets auf dem Handy. Die scanne ich ein, und fertig. Da kann sich keiner ohne Fahrkarte reinschleichen.«
Lühring war in seinem Element und wirkte wieder etwas selbstsicherer.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, kann man die Tickets nur online, im Reisebüro oder am Ticketschalter erwerben?«
»Genau.«
»Nicht bei Ihnen am Bus?«
Olav sah dem Mann an, dass er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte, und wie schon in der Nacht im Bahnhof zögerte er seine Antwort hinaus.
»Also … Theoretisch geht das schon, macht aber niemand.«
»Was heißt, es geht theoretisch?«
»Na ja, man kann sozusagen im letzten Moment eine Karte beim Fahrer kaufen. Die ist dann aber deutlich teurer als online, deshalb macht das niemand, außerdem ist es risikoreich, weil ja nicht gewährleistet ist, dass es noch freie Plätze im Bus gibt.«
»Aber diese Tickets werden dann auch registriert, oder?«
»Ja, über das interne Buchungssystem. Das läuft über den Scanner, da kann ich Daten händisch eingeben.«
»Herr Lühring, ich stelle diese Frage ein einziges Mal, und von Ihrer Antwort hängt ab, ob ich strafrechtlich gegen Sie ermitteln und Sie Ihrem Chef melden werde oder nicht.«
Lühring schluckte trocken. Schweißtropfen standen auf seiner Glatze.
»Haben Sie für die Fahrt ein Ticket am Bus verkauft und das Geld für sich selbst eingesteckt?«
Lühring wollte lospoltern und alles abstreiten, aber Olav brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Und bedenken Sie, es geht hier darum, einen Mörder zu fassen, der Menschen Hände und Füße amputiert und sie verbluten lässt. Es geht nicht darum, Sie zu diskreditieren. Wenn Sie mir die Wahrheit sagen, verspreche ich, Stillschweigen zu bewahren. So etwas nennt man Zeugenschutz.«
Der große, schwere Mann musste über seine Antwort nachdenken. Aber die Wahrheit wollte hinaus, das war nicht zu übersehen.
»Hab ich«, sagte Lühring und senkte den Kopf. »Ich verdiene so wenig, das reicht vorn und hinten nicht, und wenn jemand keine Quittung will … So was kommt vielleicht zwei-, dreimal im Monat vor …«
»Sie haben einer Person am Bus ein Ticket verkauft?«
Lühring nickte schuldbewusst.
»Bitte, verraten Sie mich nicht. Ich bin auf den Job angewiesen«, flehte er und hatte tatsächlich Tränen in den Augen.
»Ich brauche die genaueste Personenbeschreibung, zu der Sie fähig sind.« Olav sprang auf. »Und zwar jetzt sofort, auf dem Präsidium!«