10.
Freitag, 20. Dezember 2019 Berlin
Der Fahrgast von Sitz 20, Reihe 5, Hermann Ulbricht, lebte in einer Gegend Berlins, in der die Häuser gediegen und die Straßen nicht nur Straßen, sondern Alleen waren.
Leonie hatte sich mit dem Einsatzteam aus sechs Beamten zweihundert Meter entfernt in der Feuerwehreinfahrt zu einem Hinterhof für eine kurze Besprechung um ihr Auto versammelt. Ein kalter Wind pfiff ihnen um die roten Ohren, der Himmel hatte sich wieder zugezogen, und der Wetterdienst sagte weitere Schneefälle voraus.
»Der Busfahrer erinnert sich sehr genau an diesen Mann«, erklärte Leonie. »Er fand sein Benehmen vor und während der Fahrt auffällig. Darüber hinaus passt ein Verhaltensmuster des Mannes zu einem Tipp, den ich vom Bremer Kollegen Olav Thorn bekommen habe. Das muss nichts heißen, kann aber auch alles bedeuten. Also, lasst uns vorsichtig sein.«
»Und wenn er wieder nicht da ist?«, fragte Hans Drilling, der Leiter der Suchgruppe.
»Dann bleibt ein Team hier, bis er auftaucht, und ich setze eine Fahndung in Gang. Alles klar? Auf geht’s!«
Leonie führte den Tross an. Der lähmende Frust und die Gedanken an die beiden toten jungen Frauen rückten für den Moment in den Hintergrund, und sie spürte so etwas wie Jagdfieber. Dabei wusste Leonie, sie durfte nicht zu viel Hoffnung in diese Spur setzen. Ansgar Thalmann, der Busfahrer, war kein verlässlicher Zeuge. Zum einen stand er unter Schock, und außerdem war ihm Hermann Ulbricht vielleicht einfach nur unsympathisch, weil er keine Snacks gekauft und unfreundlich geguckt hatte.
Und dennoch …
Sie mussten den Fall schnell lösen.
Vor allem der Opfer wegen, und damit es keine weiteren gab, aber sie konnte sich nicht von egoistischen Gründen frei machen. Wenn sie den Täter nicht schnappten, würde sie über Weihnachten arbeiten und Solveig die Feiertage bei ihrem Vater verbringen müssen. Es war nicht abzusehen, wie sehr sie das entzweien würde. Und auch wenn Leonie manchmal dachte, es wäre einfacher, allein zu sein, liebte sie ihre Tochter und wünschte sich so sehr, dass es mit ihr klappte. Leonies eigene Eltern waren ihr stets fremd geblieben, weil sie sich nie die Zeit genommen hatten, ihr eigenes Kind kennenzulernen, und Leonie war auf dem besten Wege, genauso zu werden.
Zwänge. Das Leben bestand aus Zwängen, und die machten alles kaputt.
Sie erreichte Hausnummer 17.
Ein prachtvolles, vierstöckiges Gebäude mit hohen Fenstern, weiß verputzt und mit Stuck verziert. Es wirkte sehr gepflegt. Rechts und links der Eingangstür standen Koniferen in Töpfen, die mit Lichterketten geschmückt waren.
Hans Drilling trat neben Leonie.
»Erdgeschoss links«, sagte er. »Wir müssen klingeln, sonst kommen wir nicht rein.«
Nacheinander drückte er das ganze Dutzend Klingelknöpfe. Der ersten Person, die sich über die Gegensprechanlage meldete, erzählte er etwas von einer Paketlieferung, ein Summton erklang, und Drilling drückte die Tür auf.
Sie durchquerten den geschmackvollen Eingangsbereich, und Drilling wies auf die Wohnungstür links. Dort gab es eine zweite Klingel sowie ein vergoldetes Namensschild.
Leonie drückte auf den Knopf.
Auf der Treppe erschien eine Bewohnerin, die das Paket in Empfang nehmen wollte. Sie beschwerte sich über den Auflauf und drohte, die Polizei zu rufen. Da Leonie und ihre Kollegen zivil gekleidet waren, konnte die Frau nicht wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Ein Beamter trat ihr entgegen, zeigte seinen Ausweis und bat sie, zurück in ihre Wohnung zu gehen.
Da ihnen nicht geöffnet wurde, überlegte Leonie, ob es übertrieben wäre, die Wohnungstür aufzubrechen.
Sollte Ulbricht ihr Täter sein und eventuell in seiner Wohnung ein weiteres Opfer gefangen halten, würde Leonie es sich nie verzeihen, wenn sie sich keinen Zugang verschaffte und einfach nur abwartete. Genauso wenig konnte sie es riskieren, ihn mit dem nächsten Bus weiterfahren zu lassen. Allerdings sprach für ihn, dass die Reise des Täters in Dortmund begonnen hatte. Genau genommen war das aber kein wirklich gutes Argument, da sie nichts über ihren Täter wussten. Vielleicht war seine Mordtour ja hier zu Ende und der Zettel im Koffer, der auf ein weiteres Opfer schließen ließ, nur eine falsche Fährte.
Diese Gedankenspiele nützen nichts, und ich kann nicht warten, entschied Leonie. Bei einem Unschuldigen einzudringen wäre weniger folgenreich, als den Täter nicht zu greifen.
»Aufmachen!«, sagte sie mit entschlossener Stimme und trat von der Tür zurück.
Doch das war leichter gesagt als getan. Der Kollege bekam das Sicherheitsschloss nicht auf. Wenn sie keine rohe Gewalt anwenden wollten, musste sie sich etwas einfallen lassen.
»Fragen Sie nach einem Hausmeister«, wies Leonie eine Beamtin an.
Die Prozedur nahm noch einmal nervenaufreibende fünfzehn Minuten in Anspruch, dann erschien ein junger Mann in dunkelblauer Arbeitskleidung und stellte sich als Gebäudeverwalter vor. Er verfügte über einen Generalschlüssel, ließ sich aber erst einmal Leonies Ausweis zeigen und telefonierte dann mit seinem Chef, bevor er die Tür öffnete.
Mit gezogenen Dienstwaffen betraten Leonie und ihr Kollege die Wohnung.
»Hier ist die Polizei!«, rief Drilling.
Im selben Moment huschte eine Person durch den Türausschnitt am Ende des Flures.
Zeitgleich rissen beide ihre Waffen hoch.