15.
Freitag, 20. Dezember 2019 Bremen/Weyhe
Olav Thorn spürte, wie ihm das Koffein durch die Blutbahnen schoss. Es war seine zehnte Tasse Kaffee an diesem Tag, und er fühlte sich, als sei die Müdigkeit im Kopf eingeschlossen, umringt vom Koffein, das den Rest seines Körpers immer zappeliger werden ließ, während seine Gedanken träger wurden.
Zudem pochte sein Herz spürbar in seiner Brust. Er wusste, er war gesund, die letzte Routineuntersuchung lag noch nicht allzu lange zurück, aber so musste es sich wohl anfühlen, wenn man kurz vor einem Herzinfarkt stand.
Einen Namen! Er hatte endlich einen Namen!
Ulf Wolters.
Auf diesen Namen war ein Ticket für den Youbus von Dortmund nach Bremen gekauft, aber nicht genutzt worden. Und Gregor Koch hatte auch gleich noch eine Adresse dazu geliefert. Nämlich die des Bremer Versicherungsmaklers Ulf Wolters.
Der Mann hatte eine Website mit einem Foto von sich, und mit ein bisschen gutem Willen und Fantasie – na gut, sehr viel Fantasie – gab es eine gewisse Ähnlichkeit zu der Skizze, die mittlerweile mithilfe des Busfahrers Holger Lühring entstanden war. Ob das Gesicht auf dieser Skizze zu dem Mann mit der Fellmütze passte, war nicht klar, da dessen Gesicht auf keiner Aufnahme direkt zu sehen war. Diese vage Ähnlichkeit wäre nichts als ein Strohhalm gewesen, aber die Sache mit dem Ticket war eindeutig.
Dem Büro des Versicherungsvertreters hatte Olav bereits einen Besuch abgestattet. Auf einem handgeschriebenen Schild in der Eingangstür stand, dass wegen Betriebsferien vom vierzehnten Dezember bis einschließlich zwölften Januar geschlossen war und man sich in dringenden Fällen an die Hauptstelle der Versicherung in Köln wenden solle.
Der gute Herr Wolters gönnte sich einen Monat Weihnachtsurlaub, der wohl erzwungen war. Denn bei der Recherche hatte Olav eine weitere Info gefunden: Wolters hatte wegen wiederholter Geschwindigkeitsübertretungen seinen Führerschein abgeben müssen – und zwar genau in diesem Zeitraum.
Falls er verreist sein sollte und seine Familie und Freunde davon wussten, würde ihn in der Zeit niemand vermissen. War er womöglich mit einem Youbus unterwegs? Aber welcher Täter bucht ein Ticket unter seinem eigenen Namen? Ebenso gut könnte Ulf Wolters ohne Hände und Füße irgendwo herumliegen, ohne dass eine Vermisstenanzeige aufgegeben worden wäre.
Olavs Gedanken sprangen hin und her.
Opfer oder Täter? Wie sollte er Wolters einordnen?
Wolters hatte ein Ticket gebucht und es nicht genutzt. Was dafür sprach, dass er das erste Opfer war. Der Täter hatte ihn vor Fahrtantritt getötet und nur Wolters’ Gliedmaßen auf die Reise geschickt. Wenn der Täter sich beim Einchecken am Bus als Wolters ausgegeben hätte, also dessen Ticket vorgezeigt hätte, wäre der Name bei den Ermittlungen schnell aufgefallen, weil Wolters nicht erreichbar war. Hatte der Täter sich durch diese Finte einen Zeitvorsprung sichern wollen, um seine Reise fortsetzen zu können? Und hatte der Täter das Ticket vielleicht sogar selbst auf den Namen Wolters gebucht, um sich einen freien Platz zu sichern? In dem Fall würde er wollen, dass die Polizei auf den Namen Wolters stieß.
Olav war gespannt, was ihn erwartete.
Wolters’ Privatadresse lag außerhalb der Stadt in dem kleinen Ort Weyhe.
Es ging auf achtzehn Uhr zu, als Olav mit seinem Wagen das Ortsschild passierte. Sein Navi führte ihn schon nach wenigen Minuten wieder aus dem Ort heraus auf ein ehemaliges Gehöft zu, das am Ende einer privaten Zufahrtsstraße lag. Im Scheinwerferlicht sah Olav weiße Holzzäune, Stallungen, ein altes Wohnhaus mit Fachwerk und Dutzende alte Eichenbäume, die ihre knorrigen, kahlen Äste schützend über das Haus streckten. Oder bedrohlich, je nachdem, wie man es sehen wollte.
In der dünnen Schneeschicht auf der Zufahrt waren Reifenspuren zu erkennen.
Olav fuhr nicht in die Einfahrt hinein. Er parkte seinen Wagen in einer nahe gelegenen Bushaltestelle, stieg aus, zog seine mit Daunen gefütterte Outdoorjacke an, stellte den Kragen hoch und stapfte los. Sein Oberkörper blieb warm, aber der steife Ostwind blies mühelos durch seine Jeans und ließ ihn frösteln. Hier draußen, in der ungeschützten Lage, war der Wind noch stärker, Olav hörte ihn durch die kahlen Kronen rauschen. Nicht weit entfernt blinkten am dunklen Abendhimmel die roten Signalleuchten eines Windparks, und Olav empfand die ganze Szenerie des offenbar verlassen daliegenden Hofes als unheimlich.
Zwischen den Bretterzäunen zu seiner Rechten und Linken stapfte er die Auffahrt hinauf auf das Haus zu. Nirgendwo brannte ein Licht. Die Reifenspuren endeten am Postkasten, der an der Wand eines Stallgebäudes angebracht war, und wendeten auf dem Platz vor dem Haus.
Olav verharrte, beobachtete und lauschte.
War es wirklich eine gute Idee gewesen, allein hierherzukommen?
Er zog seine Waffe, hielt sie im gesicherten Zustand verdeckt an seinen Oberschenkel und näherte sich dem Haus. Die große Dielentür bestand aus Butzenfenstern, dahinter war alles dunkel, und da Olav kein Licht machen wollte, konnte er nicht hineinschauen. Es gab ein aus Ton gebranntes Schild am Haus, auf dem der Name Wolters stand – zumindest war er hier also richtig.
Ein Kiesweg führte an der Längsseite des Hauses entlang. Ihm folgte Olav. Auch auf der anderen Seite des Hauses brannte kein Licht, und obwohl er einige Bewegungsmelder entdeckte, blieb es auch im Garten dunkel.
Verreist. Oder tot, dachte Olav.
Da er keine Handhabe hatte, in das Haus einzudringen, und er sich schon mit dem gewaltsamen Zutritt zur Wohnung von Karl Voigt nicht mit Ruhm bekleckert hatte, war Olav drauf und dran, den Einsatz abzubrechen, nach Hause zu fahren und ins Bett zu kriechen. Er würde den Täter heute nicht mehr fassen, und wenn er diese Nacht wieder durchmachte, würde er morgen komplett ausfallen.
Doch dann bemerkte er Licht.
Aus einem Fenster im Obergeschoss fiel es auf verschneiten Rasen hinter dem Haus. Es flackerte hin und her und erlosch, nur um dann einen Moment später erneut den Schnee zum Glitzern zu bringen.
Im Haus funzelte jemand mit einer Taschenlampe herum!
Das änderte alles.
Gefahr war im Verzug. Olav durfte sich Zutritt verschaffen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, doch er fragte sich, ob er der Sache allein gewachsen war. War dies der Moment, vor dem sich jeder Beamte fürchtete? Diese eine Situation, in der Mut wichtiger war als Vorschriften, um einen Fall lösen zu können, in der man sich aber auch bewusst dafür entscheiden musste, sein Leben aufs Spiel zu setzen?
Olav hatte mehr als zwanzig Dienstjahre hinter sich gebracht, ohne je wirklich in Lebensgefahr gewesen zu sein. Es war einige Male knapp gewesen, aber aus Geschehnissen heraus, die er nicht hatte beeinflussen können und die ihm keine Zeit für eine Entscheidung gelassen hatten.
Mutig sein – oder Unterstützung anfordern?
Dumm sein – oder auf Sicherheit setzen?
Der Täter konnte nicht hier sein, oder?
In Berlin hatte er Anja Kleine und Carmen Schmidt getötet, das war Beweis genug.
Andererseits … Mit einem Mietwagen oder einem vorher in Berlin platzierten Wagen könnte er in ein paar Stunden hierhergefahren sein.
Doch, gestand Olav sich ein. Der Täter könnte hier sein.
Den Fall jetzt lösen – oder das Risiko weiterer Opfer eingehen?
Olav traf seine Entscheidung und schlich zu der Nebeneingangstür zurück, die er auf der linken Längsseite des Hauses gesehen hatte. Mit etwas Glück würde er das Schloss aufbekommen.
Doch er musste gar nicht einbrechen: Die Tür war nicht verschlossen. Er fand keine Spuren gewaltsamen Eindringens, also hatte die Person, die da oben herumfunzelte, einen Schlüssel – oder gutes Werkzeug und eine Ausbildung darin, wie man Schlösser knackte.
Die Tür öffnete sich geräuschlos. Olav betrat das dunkle Haus, schloss die Tür hinter sich, blieb stehen und lauschte. Zuerst hörte er nur das Wummern seines Herzens und das Rauschen seines Blutes, dann aber die Schritte im Obergeschoss. Leises Knarren von Bodendielen.
Olav sah sich um. Er befand sich in einem großen Wohnbereich, der in eine Küche überging. All das sah er in dem grünlichen Licht einer kleinen Betriebsleuchte am Kühlschrank und dem rot beleuchteten Lichtschalter neben einer Tür, die vermutlich ins Bad führte.
In den tiefen Schatten dazwischen tanzten Geister. Oben auf dem Parkett offenbar auch.
Olav machte sich auf die Suche nach der Treppe ins Obergeschoss. Geräuschlos bewegte er sich durch die dunkle, kalte Wohnung des Versicherungsmaklers. Hinweise auf Kinder oder ein Familienleben fand Olav nicht. Alles wirkte aufgeräumt, eher wie eine Ausstellungsfläche denn wie ein Ort zum Leben.
Ganz vorn in der ehemaligen Diele, wo das Fenster auf den Hof hinausführte, entdeckte Olav die Treppe. Ein raues, solides Konstrukt aus einem anderen Jahrhundert, breit, aber steil. Als Olav am Fuß der Treppe stand, bemerkte er oben erneut den Lichtschein einer Taschenlampe, der herumtanzte wie ein Derwisch.
Der Hausherr selbst hätte es wohl kaum nötig, hier etwas zu suchen – und vor allem würde er dafür das Deckenlicht einschalten.
Olav setzte den rechten Fuß auf die erste Stufe, belastete ihn und testete, ob das uralte Holz Geräusche von sich gab. Dabei fühlte er sich an die schrecklich knarrende Treppe in Sylvia Hartges Wohnung erinnert, und die Bilder des vor Blut triefenden Bettes, in dem die junge Frau amputiert worden war, kamen wieder hoch.
Zögerlich eroberte er die erste Treppenstufe. Dann bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf, der sämtliche Lichter auslöschte.