19.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dresden
»Haben Sie das schon gehört? In einem Fernreisebus wurde jemand getötet! Und das so kurz vor Weihnachten. Ich kann nicht verstehen, warum die Menschen so grausam zueinander sind. Und … ehrlich gesagt habe ich Angst. Was, wenn der Mörder in diesem Bus sitzt und auf der Suche nach einem neuen Opfer ist?«
Jennyfer Schumacher hatte sich die Ohrhörer ihres Smartphones in die Ohren stecken wollen, behielt sie aber noch in der Hand, weil sie nicht unhöflich wirken wollte. Der Mann auf dem Sitz neben ihr schien sich wirklich Sorgen zu machen, daher hielt sie es für angebracht, ihn ein wenig zu beruhigen.
Dabei war Jennyfer müde, wollte einfach nur Musik hören und einschlafen. Fünf Stunden dauerte die Fahrt, und diesen Schlaf hatte sie dringend nötig.
»Da haben Sie etwas falsch verstanden«, klärte sie den Mann auf. »So, wie ich es gehört habe, wurde niemand getötet. In einem Koffer wurden Leichenteile gefunden.«
»Um Gottes willen!« Der Mann schlug sich eine Hand vor den Mund.
»Ja, aber man vermutet wohl, dass jemand die Leichenteile aus einem Krankenhaus gestohlen hat. Ein Scherzbold, der den vielen Weihnachtsreisenden einen Schrecken einjagen will.«
»Bei mir hat es geklappt. Beinahe wäre ich nicht in den Bus gestiegen. Ich bin wirklich froh, dass Sie meine Sitznachbarin sind und nicht irgendein finster dreinblickender Typ.«
Jennyfer hatte ihren Sitznachbarn vorhin von ihrem Fensterplatz aus tatsächlich lange draußen in der Kälte stehen sehen mit seinem großen grünen Trekkingrucksack. Erst kurz bevor der Busfahrer mit dem Einladen der Gepäckstücke fertig gewesen war, hatte er sich hineingetraut. Jetzt den Grund für dieses Zaudern zu erfahren, belustigte sie ein bisschen, aber Jennyfer verkniff sich ein Lächeln. Es war schließlich nicht fair vorauszusetzen, dass alle Männer mutig seien.
Jenny hatte von dieser Sache im Radio gehört, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Heutzutage wimmelte es auf der Welt von Verrückten, und es gab nichts, was Menschen einander nicht antaten. Aber dass sie selbst irgendwie in Gefahr geraten konnte, glaubte sie nicht.
»Ich bin übrigens Marco«, sagte ihr Sitznachbar und streckte ihr die Hand hin.
Jennyfer ergriff sie. Sie war zur Höflichkeit erzogen, es gehörte sich nicht, eine dargebotene Hand nicht zu schütteln, auch wenn die Person fremd war.
»Jenny«, stellte sie sich vor. »Und vor mir müssen Sie sich nicht fürchten. Ich bin Krankenschwester. Wenn ich Ihnen ein Körperteil amputiere, narkotisiere ich Sie vorher fachgerecht, dann spüren Sie nichts.«
Für einen Moment froren die Gesichtszüge ihres Sitznachbarn ein, und Jenny konnte erkennen, dass er darüber nachdenken musste, ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubte oder nicht.
Er hatte schöne Augen, fand Jenny. Wenn er wie jetzt nachdenklich und erschrocken zugleich schaute, glaubte man, einen kleinen Jungen vor sich zu haben, dessen unschuldiges Weltbild die ersten Risse bekam.
»War ein Scherz«, sagte Jenny rasch. Zusätzlich berührte sie ihn kurz an der Hand, die auf der Armlehne zwischen ihnen lag. Sie wusste aus ihrem Beruf, wie wichtig Berührungen waren, um Ängste abzubauen.
Marco schluckte trocken. »Das war nicht lustig.«
»Ach komm, so gefährlich sehe ich doch nicht aus, oder?«
Sein Lächeln war zaghaft. Das gefiel Jenny. Sie mochte keine Männer, die zu sehr von sich selbst überzeugt waren.
»Nein, tust du nicht … Ich war nur … Irgendwie hab ich mich da wohl ein bisschen reingesteigert. Bist du wirklich Krankenschwester?«
»Ja, bin ich. OP-Schwester. Und mein Vater ist Anästhesist. Ich kenne mich also wirklich aus mit dem Narkotisieren.«
»Na, dann bin ich ja in den besten Händen«, sagte Marco. »Fährst du nach Dortmund, weil du von dort kommst und über die Feiertage deine Familie besuchst?«
Jenny spielte mit den Kopfhörern in ihrer Hand herum und hoffte, er würde dieses Zeichen verstehen. Sie hatte gerade ein neues Lieblingslied für sich entdeckt, das zwar schon ein bisschen älter war, sie aber faszinierte, und wenn sie einmal in ein Lied verschossen war, konnte sie es stundenlang in Dauerschleife hören, wurde ein bisschen süchtig danach. »Wunderfinder« von Alexa Feser war so ein Lied, und sie sehnte sich danach, es zu hören. Nur leider schien ihr Sitznachbar einer von der gesprächigen Sorte Mann zu sein.
»Ja genau«, antwortete sie. »Meine Mutter lebt nicht mehr. Meine beiden Geschwister und ich treffen uns jedes Jahr bei meinem Vater, ist so etwas wie eine Tradition. Außerdem fühl ich mich dann wieder wie ein kleines Kind, weil ich in meinem alten Zimmer schlafe.«
»Das klingt toll. Weihnachten ist doch dafür gedacht, im Kreise seiner Familie zu feiern, nicht wahr? Ich verstehe all die Menschen nicht, die sich jedes Jahr wieder darüber beschweren, wie stressig es ist, die Familie zu treffen. Freuen sollten sie sich! Es gibt nichts Wertvolleres als Familie!«
Jenny lächelte tapfer und verkniff sich einen Kommentar über ihren Vater, der zu viel trank, seitdem er in Pension war, weil er keine Aufgabe mehr hatte. Er war zuvor schon sehr dominant gewesen, wurde nun unter Alkohol oft herrisch und verletzend, und es war nicht leicht, es mit ihm auszuhalten. Jenny wäre wahrscheinlich nicht zu ihm gefahren, wenn nicht auch Kilian und Marcia, ihr jüngerer Bruder und ihre ältere Schwester, dort wären. Sie verstanden sich gut und bekamen immer irgendwie ein halbwegs harmonisches, lustiges Weihnachtsfest hin.
Auch wenn Mama schmerzhaft fehlte.
»Und du?«, fragte Jenny, bevor ihr Sitznachbar auf die Idee kam, sie weiter zu ihrer Familie auszuquetschen. »Auch heim zu den Eltern?«
»Ja, auf jeden Fall! Das wird ein Wahnsinnsfest! Wir sind eine riesige Familie! Okay, nicht alle sind wirklich lustig oder nett, aber im Großen und Ganzen klappt es ganz gut. Holt dich jemand vom Busbahnhof ab?«
»Mein Bruder«, sagte Jenny, bevor sie darüber nachdenken konnte, dass es ihren Sitznachbarn eigentlich gar nichts anging, wer sie abholte.
»Warum fragst du?«, schob sie nach.
Marco machte eine Bewegung mit dem Kinn zum Fenster.
»Schau dir das an. Am besten lässt du deinen Bruder schon mal wissen, dass wir nicht pünktlich ankommen.«
Jenny warf einen Blick aus dem Fenster. Im Scheinwerferlicht der anderen Fahrzeuge sah sie, dass es wieder zu schneien begonnen hatte. Und das nicht zu knapp.
»Wie schön!«, sagte sie. »Ich liebe Schnee.«
»Ja, ich auch. Ich war letztes Jahr einen Monat in Tromsö in Norwegen, ganz weit oben, da fällt so viel Schnee, das kannst du dir nicht vorstellen. Soll ich davon erzählen, oder möchtest du lieber Musik hören.«
Er deutete auf die Ohrhörer, mit denen Jenny immer noch herumspielte.
»Erzähl’s mir«, sagte sie. »Und dann höre ich Musik. Ich bin nämlich hundemüde und muss ein bisschen Schlaf nachholen.«
Irgendwie gefiel es Jenny zu sehen, was für eine Freude sie Marco damit machte. Er strahlte übers ganze Gesicht und wurde ihr richtiggehend sympathisch.