21.
Samstag, 21. Dezember 2019 Bremen
Olav Thorn erwachte mit leichten Kopfschmerzen. Sein erster Blick galt dem altmodischen Wecker auf dem Nachtschrank, den er vor dem Einschlafen herausgekramt hatte, weil sein Handy zerstört war.
Viertel vor acht.
Das waren immerhin fast fünf Stunden Schlaf gewesen. Nicht genug, um auszugleichen, was er in den Nächten zuvor verpasst hatte, aber ausreichend, um einen weiteren Tag zu funktionieren.
Er blieb noch einen Moment liegen, steckte die Hände hinter den Kopf und ließ die Nacht Revue passieren. Dachte über das mysteriöse Pärchen nach, das ihn in Ulf Wolters’ Haus wie einen Anfänger hatte aussehen lassen.
Beide hatten es geschafft, ihre Gesichter vor Olav zu verbergen, sodass er sie nur sehr grob beschreiben konnte. Der Mann war etwas größer als Olav selbst, vielleicht eins neunzig, ein athletischer Kerl mit breiten Schultern und – wenn Olav sich nicht täuschte – langem Haar, das er zu einem Zopf gebunden trug. Viel wichtiger als die äußerliche Beschreibung war aber, was Olav gespürt hatte. Von dem Mann war eine raubtierhafte Bedrohung ausgegangen, so als wäre er jede Sekunde dazu in der Lage und bereit, anzugreifen oder sich zu verteidigen. Olav meinte, feine Wellen mühsam unterdrückter Gewaltbereitschaft gespürt zu haben, sodass die Luft in unmittelbarer Umgebung des Mannes vibrierte. Für so etwas hatte Olav schon immer feine Antennen gehabt, was ihn als Schüler vor Pausenhofprügeleien geschützt hatte. Typen wie diesem Mann war er stets aus dem Weg gegangen. Manche mochten das feige nennen, er selbst nannte es eine kluge Strategie. Dabei war dieser Mann nicht wie diese dummen, von Testosteron gesteuerten Machojungs in der Schule oder in den Klubs gewesen, sondern auf eine kontrollierte und durchaus intelligente Art wehrhaft.
Nicht zu unterschätzen, der Mann.
Seine Frau? War sie die Frau, dessen Ring er trug? Wahrscheinlich schon, sie hatte ihn Schatz genannt. Von ihr konnte Olav sich kein Bild machen, auch nicht auf Basis seiner Gefühle, sie blieb ein dunkler Schemen, der sich geisterhaft durch seine Erinnerung bewegte, so wie sie sich durch die Schatten im Haus des Ulf Wolters bewegt hatte.
Sie hatte noch viel mehr als ihr Mann darauf geachtet, dass Olav sie nicht zu Gesicht bekam.
Dafür musste es einen Grund geben. Wenn sie sich einem Polizisten nicht zeigen wollte, konnte das bedeuten, dass ein Polizist sie leicht identifizieren konnte.
Dennoch war es dem Mann später gleichgültig gewesen, ob Olav ihn finden würde, sonst hätte er den Namen der Frau nicht genannt, nach der die beiden suchten. Vielleicht kannten die Auftraggeber der verschwundenen Elke Kröger seinen Namen ja auch nicht. Sei’s drum, Olav würde ihn herausfinden, dafür war nur ein Anruf notwendig.
Der Fremde hatte ihm vertraut, ihm sogar seine Waffe zurückgegeben und Olav damit eine Menge Scherereien erspart – die peinliche Gerüchteküche des Flurfunks im Präsidium obendrein –, deshalb würde Olav sich an sein Versprechen halten und die beiden nicht anzeigen. Er wollte aber dennoch wissen, mit wem er es zu tun gehabt hatte.
Das Pärchen folgte einer Spur, die direkt zu dem Fall der Leichenteile in Fernbussen führte, und auch wenn es offensichtlich nicht Ulf Wolters war, den der Busfahrer Holger Lühring beschrieben hatte, musste der Versicherungsagent in der Geschichte mit drinhängen. Olav ging davon aus, dass es seine Hände und Füße waren, die der Täter ihnen im ersten Koffer am Bremer Busbahnhof präsentiert hatte. Olav hatte eine Zahnbürste sowie einen Kamm mit Haaren aus dem Bad in Wolters Haus mitgenommen und würde sie für eine Genanalyse ins Labor geben. Aber selbst bei besten Bedingungen – die es über Weihnachten und zwischen den Feiertagen nicht gab – würde es Tage dauern, bis er das Ergebnis bekam.
Wo sollte er jetzt ansetzen? Welcher Spur folgen?
Elke Kröger.
Ein weiterer Name, der mit dem Fall in Verbindung stand.
Eine verschwundene Frau.
Wohin führte das alles bloß?
Olav hielt es nicht länger im Bett aus. Mit einem Satz sprang er auf, kämpfte zwei Sekunden lang gegen Benommenheit und Schwindel an, eilte ins Bad hinüber und duschte.
Seine Morgentoilette erledigte er in aller Schnelle, föhnte sich kaum und achtete auch nicht wie sonst darauf, dass das Haar richtig lag. Es wurde höchste Zeit, ins Büro zu kommen. Er brauchte ein neues Handy, musste Kontakt zu Leonie Grün in Berlin aufnehmen, zu den Kollegen in Dortmund und außerdem diesen einen Anruf erledigen, um herauszufinden, wer dieses Pärchen war.
Olav war noch in Unterhose, als sein Festnetzanschluss klingelte.
Er bildete sich ein, dem Klingelton entnehmen zu können, dass die Kacke schon wieder am Dampfen war.
Die Zentrale war dran und richtete ihm aus, er solle sich dringend bei der Kollegin Grün aus Berlin melden. Deren Handynummer, die Olav nicht im Kopf, sondern nur im Handy hatte, bekam er gleich dazu.
Eine Minute später war Leonie in der Leitung.
»Ein Koffer mit Leichenteilen ist in Dresden aufgetaucht«, sagte sie. »Zwei Hände, zwei Füße, wahrscheinlich weiblich. Ich bin schon auf dem Weg dorthin. Außerdem weiß ich, dass der Mann mit der Fellmütze nicht unser Täter ist.«