1.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dortmund
Statt fünf hatte die Fahrt von Dresden nach Dortmund sechseinhalb Stunden gedauert. Immer wieder war es auf der frisch verschneiten Autobahn zu längeren Staus gekommen, und wenn der Verkehr geflossen war, dann nur langsam.
Jennyfer Schumacher hatte die Fahrt in einem unregelmäßigen Rhythmus aus Wach- und Schlafphasen verbracht und fühlte sich einigermaßen fit, als der Bus nur noch eine Viertelstunde vom Dortmunder Busbahnhof entfernt war.
Ihr Sitznachbar Marco schlief noch.
Jenny war überrascht gewesen, als Marco sie nach seiner Erzählung von Tromsö tatsächlich aufgefordert hatte zu schlafen. Er hatte sie gebeten, einmal in das Lied hineinhören zu dürfen, von dem sie schwärmte, also hatte sie ihm einen der beiden Ohrhörer gegeben, und es hatte etwas Intimes gehabt, wie er ihn sich ins Ohr gesteckt und mit geschlossenen Augen der ersten Minute des Liedes gelauscht hatte.
»Wunderschön«, hatte er mit etwas trauriger Stimme gesagt und ihr den Ohrhörer zurückgegeben. »Und jetzt schlaf gut.«
Dann war er plötzlich still gewesen, in sich gekehrt, dabei hätte Jenny nichts dagegen gehabt, ihm noch ein paar Minuten zu lauschen. Marco hatte eine angenehme Stimme und konnte gut erzählen. Sein Reisebericht war frei von Angeberei gewesen, nicht er selbst, sondern das Land und die Leute standen bei ihm im Vordergrund, und als Jenny ihn nach Fotos gefragt hatte, hatte er ausweichend gesagt, er habe sie nicht auf seinem Handy.
Jenny betrachtete ihn von der Seite.
Sein rechtes Lid zuckte auch im Schlaf, und die Finger der rechten Hand krallten sich krampfhaft um die Mittellehne. Ein tiefenentspannter Mensch war Marco nicht, das war Jenny schon aufgefallen. Er war einfühlsam, gleichzeitig aber auch unsicher und irgendwie ruhelos.
Da Marco auch im Innenstadtverkehr mit seinen ständigen Ampelstopps nicht wach wurde, rüttelte Jenny ihn leicht am Arm und sprach ihn an.
Es dauerte einen Moment, bis er die Augen aufschlug. Mit verständnislosem Blick sah er sie an und sagte: »Du hast versprochen, mich überallhin mitzunehmen!«
Seine Stimme klang verändert. Wie die eines kleinen Jungen.
»Ich bin’s, Jenny. Deine Sitznachbarin. Wir sind in Dortmund und halten gleich.«
Nervös blinzelnd fand Marco in die Realität zurück.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»In ein paar Minuten in Dortmund am Bahnhof.«
Er rieb sich die Augen, sah sich um. »Schon da?«, stammelte er.
»Schon ist gut. Wir haben anderthalb Stunden Verspätung. Da fällt mir ein, ich muss schnell meinen Bruder anrufen, damit er losfährt.«
Jenny zog ihr Handy hervor und rief Kilian an. Er ging sofort ran und sagte, er würde das Auto freischaufeln und losfahren. Vielleicht würde sie ein paar Minuten auf ihn warten müssen, bei den Straßenverhältnissen.
»Ich kann dich mitnehmen«, bot Marco an, der das Gespräch verfolgte.
»Warte mal kurz«, sagte Jenny, deckte das Mikro ab und sah Marco an. »Wohin fährst du?«
»Solange dein Ziel in der Stadt liegt, ist es egal. Ich muss nach außerhalb. Richtung Hagen.«
»Und es macht dir nichts aus? Dann müsste mein Bruder bei dem Wetter nicht ins Auto steigen, das wäre mir schon recht«, sagte Jenny. Kilian war ein risikobereiter Fahrer, bei dem sie schon bei guten Straßenverhältnissen nicht gern mitfuhr.
Marco zuckte mit den Schultern. »Kein Problem.«
»Hör zu, Kilian«, sprach Jenny ins Handy. »Mein Sitznachbar kann mich mitnehmen und absetzen. Dann musst du nicht extra fahren. Was? Moment, ich frag ihn.«
»Mein Bruder will wissen, wie du heißt?«
»Marco Hantelmann. Ich bin EDV-Experte, wohne in Dresden, meine Familie in Hagen. Taubengasse 11. Soll ich deinem Bruder per WhatsApp ein Foto von meinem Ausweis schicken?«
Kilian hatte alles mitgehört und wollte tatsächlich ein solches Foto, und Jenny wunderte sich, wie besorgt ihr kleiner Bruder sein konnte. Sie war gerührt, als sie das Gespräch beendete.
»Tut mir leid, so kenne ich ihn gar nicht«, sagte sie.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich finde es gut, dass dein Bruder so vorsichtig ist. Denk mal nur an diesen Koffer mit Leichenteilen … Heutzutage kann alles Mögliche passieren. Komm, schick ihm ein Bild von meinem Ausweis, dann ist er beruhigt.«
Jenny winkte ab. »So weit kommt es noch. Ich kann schon noch selbst einschätzen, wem ich vertraue und wem nicht.«
»Und mir vertraust du?«
»Mir scheint, du bist ein anständiger Typ, kein Psychopath, der Leichenteile auf die Reise schickt.«
Sie sahen sich lächelnd an, und Jenny spürte, wie ihr Interesse an Marco wuchs. Das war ihr lange Zeit bei keinem Mann mehr passiert.
Sie einigten sich darauf, dass Marco sie mitnahm und zu Hause absetzte, und als Jenny ihm die Adresse nannte, stellte sich heraus, dass er dafür nicht einmal einen Umweg machen musste.
Zehn Minuten später fuhr der Bus in den Dortmunder Busbahnhof ein. Es schneite immer noch leicht, aber im Gegensatz zu Dresden lag die Temperatur hier im Westen nicht unter, sondern knapp über dem Gefrierpunkt, sodass der Schnee sich mithilfe von Salz, Füßen und Autoreifen in eine schlammige, braune Masse verwandelt hatte.
In der mussten sie alle herumpatschen, während sie auf ihr Gepäck warteten. Jenny froren in ihren dünnen Lederstiefeln schier die Füße ein. Sie trampelte auf der Stelle und umfing ihren Oberkörper mit den Armen.
Marco, der seinen großen grünen Rucksack schon hatte, fragte, wie ihr Koffer aussah.
»Der mit den gelben Sternen«, sagte Jenny.
Da sie als eine der Ersten in den Bus gestiegen war, lag er in der Mitte des Frachtraums. Der Busfahrer war gerade auf der anderen Seite beschäftigt, also ging Marco vor, krabbelte in die Ladeluke über die anderen Koffer hinweg und schnappte sich Jennys Koffer. Kaum hatte er ihn in der Hand, rief der Busfahrer:
»Lassen Sie das! Nur ich darf das Gepäck ausladen!«
Aber es war zu spät. Andere Fahrgäste, die ebenfalls des Wartens leid waren, nahmen sich ein Beispiel an Marco und holten sich ihr Gepäck.
Marco und Jenny liefen lachend davon.
»Danke, du hast mich vor dem Erfrieren gerettet«, rief Jenny.
»Jederzeit wieder! Mein Wagen steht dort drüben.«
Er zeigte zu einem Parkplatz hinüber, der mit Schranken gesichert war.
»Wie kommt es, dass du hier einen Wagen hast, wenn du doch in Dresden lebst?«, fragte Jenny.
»Eigentlich ist das gar nicht meiner, sondern der meiner Schwester. Sie hat ihn hier abgestellt, damit sie mich nicht am frühen Morgen vom Busbahnhof abholen muss. Sie ist Langschläferin, musst du wissen.«
»Ein guter Plan! Hätten Kilian und ich auch drauf kommen können.«
»Das wäre aber schade gewesen. Dann hätte ich auf ein paar weitere Minuten deiner Anwesenheit verzichten müssen.«
Seine Worte ließen Jenny für einen Moment das nasskalte Wetter und ihre eisigen Füße vergessen.