7.
Samstag, 21. Dezember 2019 Hammertal
»Guten Morgen, junge Frau.«
»Guten Morgen, alter Mann.«
Rica kam in dicken Wollsocken, Schlafshorts und einem schulterfreien weißen Top die Treppe herunter. Ihr Haar war schlafzerzaust, was Jan besonders an ihr liebte, und ihre Stimme klang ein klein wenig rau.
Er erwartete sie am Ende der Treppe. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Sie schmeckte nach Pfefferminze, hatte sich also schon die Zähne geputzt.
»Gut geschlafen?«, fragte Olav.
»Sag du es mir.«
»Na ja, du hast nicht herumgewühlt und warst still. Ich denke mal, ja.«
»Ich fühle mich auch ausgeschlafen. Muss daran liegen, dass wir erst um drei im Bett waren. Wie lange bist du schon wach?«
»Eine Stunde oder so.«
In Wahrheit waren es zwei Stunden, aber das sagte Jan nicht, weil Rica sich immer Sorgen machte, dass er nicht genug schlief. Damit hatte sie ja auch recht, aber was sollte er tun? Wach im Bett liegen und grübeln war auch keine Lösung, und solange der wenige Schlaf keine körperlichen Auswirkungen hatte, war alles in Ordnung.
»Rieche ich Kaffee und Rühreier?«, fragte Rica, löste sich von ihm und spähte Richtung Küche.
»Du hast die Nase eines Bluthunds.«
»Ich weiß, deshalb brauchst du mich ja auch. Apropos Hund … Wo ist mein Freund Ragna?«
»Dein Freund Ragna wollte nach unserem Morgenspaziergang nicht wieder mit rein. Ich denke, er gräbt Stollensysteme in den Garten.«
Rica trat an das große Südfenster und hielt nach dem Hund Ausschau. Vor dem Licht war ihre Silhouette noch schmaler, und sie wirkte verletzlich. Das war sie auch, wie Jan wusste, aber nicht nur. Rica hatte bewiesen, dass sie genauso gut auch stark und kämpferisch sein konnte. Wer sie aufgrund ihrer geringen Körpergröße und ihres anmutigen Wesens unterschätzte, beging einen schweren Fehler. In dieser kleinen Frau steckte ein eiserner Überlebenswille, der in Extremsituationen ungeheuerliche Kraft freisetzte. »Keine Stollensysteme«, sagte sie. »Aber dafür einen neuen Krater.«
Jan kehrte in die nach allen Seiten offene Küche zurück.
»Wir füllen sie im Sommer mit Wasser. Dann haben wir acht bis zehn wunderschöne Pools.«
Er legte die Rühreier mit Lachs, die er auf der Herdplatte warm gehalten hatte, auf zwei Teller und stellte sie auf den Tisch. Dazu gab es Vollkornbrot, Käse und Joghurt.
Rica kam vom Fenster zurück, setzte sich auf ihren blauen Lieblingsstuhl und zog die nackten Beine an den Körper. Wenn er sie so sitzen sah, war Jan immer wieder erstaunt über ihre Beweglichkeit. Sie schien keine Knochen zu haben.
Nachdem er auch den Kaffee geholt hatte, setzte Jan sich zu seiner Frau an den Tisch.
»Danke fürs Frühstück, mein Traummann«, sagte sie.
»Immer wieder gern.«
Ein paar Minuten aßen sie schweigend, bis Rica die Frage stellte, die natürlich gestellt werden musste.
»Wie gehen wir jetzt weiter vor wegen Elke Kröger?«
Jan wartete mit einer Antwort, bis er heruntergeschluckt hatte. »Dass es eine Verbindung zu diesen merkwürdigen Fällen von Leichenteilen in Fernbussen gibt, verleiht der Sache eine neue Brisanz. Vielleicht steckt doch jemand ganz anderes dahinter.«
»Nicht Ulf Wolters?«
»Ich sehe kein Motiv, warum er Elke töten und dann auf so eine Tour gehen sollte. Da glaube ich schon eher an die These dieses Kommissars, dass es sich bei Wolters um das erste Opfer handelt. Vielleicht sind die beiden, Elke und Ulf, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen.«
»Was hältst du von Thorn?«
»Scheint ein gerader Typ zu sein, und allein das ist heutzutage schon selten genug. Und er wird nicht lockerlassen, bis der Fall gelöst ist.«
»Wir auch nicht, oder?«
»Wir auch nicht. Und deshalb nehmen wir heute den Termin im Reisebüro wahr. Du kommst mit, ich brauche deine Zauberhände an Elkes Computer.«
»Sonst nirgendwo?«
»Überall sonst auch, aber heute besonders dort.«
Sie warf ihm einen Blick zu, der Jan überlegen ließ, den Termin bei Karl-Otto Kröger zu verschieben und noch einmal mit Rica ins Bett zu gehen.
Sie spießte ein Stück Lachs auf ihre Gabel, beugte sich vor und schob es ihm in den Mund. Dabei sahen sie sich in die Augen.
An diesem Morgen war das Onyxschwarz leicht durchscheinend, und Jan sah, was Rica für ihn empfand. Sah, dass sie seinen Wunsch teilte, wieder nach oben ins Bett zu gehen, und Jan fragte sich, wie er jemals wieder ohne diesen Blick leben sollte.
Hoffentlich würde er es niemals herausfinden müssen.