8.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dortmund
Bald gehe ich wieder auf Reisen. Dann packe ich meinen Koffer, und auf die Reise geht …
Immer wieder schossen Olav Thorn diese beiden Sätze durch den Kopf.
Etwas hatte sich geändert, eine Kleinigkeit nur, aber Olav wusste, sie war von Bedeutung.
Bald.
Der Täter würde nicht sofort, sondern bald wieder auf die Reise gehen. Er beabsichtigte, eine Pause einzulegen, und das ausgerechnet in Dortmund. Also kam er doch von hier, war hier zu Hause oder hatte zumindest die Möglichkeit, irgendwo unterzuschlüpfen. Und zwar nicht nur für eine Nacht, wie er es bei seinen anderen Opfern getan hatte, sondern für einen unbestimmten, längeren Zeitraum. Bedeutete dies, er hatte sich im Bus von Dresden nach Dortmund kein neues Opfer gesucht?
Wahrscheinlich.
Hoffentlich!
Seine Rundreise, wie Leonie sie anhand der Karte skizziert hatte, war beendet. Vorerst. Aber er hatte vor, seinen Koffer wieder zu packen, irgendwann.
Olav hockte in einem freien Büro im Dortmunder Präsidium. Es war eine bessere Besenkammer, ein Fenster gab es nicht, dafür aber einen PC mit Internetanschluss. Den benötigte Olav, um sich die Videoaufnahmen vom Dortmunder Busbahnhof anschauen zu können. Das System funktionierte zum Glück wieder.
Kollege Zimmermann war unverkennbar froh gewesen, Olav auf diese Art und Weise loszuwerden. Zimmermann war nicht der Typ Ermittler, der sich ins Büro setzte und auf Videoaufnahmen nach Details suchte, er stürmte lieber mit offenem Visier auf das Schlachtfeld in der Hoffnung, den Täter zufällig mit einem Schwerthieb zu erledigen oder aber ihn mit lautem Kriegsgebrüll zu vertreiben.
Tja, sei’s drum. Olav war das nur recht. So konnte er hier vor Ort seine eigenen Ermittlungen weitertreiben. Olav wusste, er war auf der richtigen Spur, ihm fehlte nur noch der entscheidende Hinweis, wo er nach Ulf Wolters und dem Täter suchen sollte – im besten Fall handelte es sich um ein und dieselbe Person.
Das stand noch nicht fest. Der genetische Abgleich der Leichenteile mit dem Material aus Wolters’ Badezimmer ließ auf sich warten. Morgen vielleicht, war Olavs letzte Information.
Weil das Videomaterial der Dortmunder Überwachungskameras ebenfalls auf sich warten ließ, schaute Olav sich noch einmal die Aufnahmen aus Bremen und Berlin an, danach die aus Dresden, die hatte er bislang noch nicht zu sehen bekommen.
Bei den Bremer Aufnahmen war leider nicht zu sehen, wer da als Erstes seinen Koffer bekam, man konnte nur den Busfahrer Holger Lühring dabei beobachten, wie er den besagten Koffer auslud. Olav sah sich den Koffer genauer an. Er war groß und schwarz, wie die meisten anderen auch, hatte aber auffällig große Räder und einen weißen Schriftzug im oberen Bereich. Olav reizte die Technik aus, konnte den Schriftzug jedoch nicht vergrößern.
Das brachte ihn nicht weiter.
Also die Berliner Aufnahmen. Dort fiel ihm wieder der alte Mann mit schwarzem Hut auf. Da aber mittlerweile feststand, dass er nicht der Täter war, ignorierte Olav ihn und konzentrierte sich auf die anderen Reisenden. Er erinnerte sich an den Mann, der Pünktlichkeit verlangt hatte. Diese Spur hatten sie nicht weiterverfolgt, aber wie sollten sie auch, es war ja nur eine Frage gewesen, gestellt von einem Unbekannten. Und so eine Frage kam im Reiseverkehr sicher häufig vor.
Wenn doch nur nicht dieses Schneetreiben geherrscht hätte! So war die Sicht einfach zu schlecht, er konnte keine Gesichter erkennen. Alle verbargen sich hinter Kapuzen, Mützen und Schals.
Erneut fiel ihm die kleine Frau mit dem großen grünen Trekkingrucksack auf, von der er leider auch nicht das Gesicht erkennen konnte. Auch von dem Mann nicht, der ihr an der Ladeluke des Busses dabei half, den Rucksack zu schultern. Dieser Mann entfernte sich kurz darauf in eine andere Richtung als die Frau.
Das war es auch schon. Alle Fahrgäste waren gleichermaßen unverdächtig und verdächtig.
Bei den Dresdner Aufnahmen herrschte zwar auch halbdunkles Zwielicht, aber wenigstens schneite es nicht. Auf den ersten Blick sah Olav den Mann, der den Koffer geklaut hatte. Als der silberne Youbus einfuhr, stand er etwas abseits, die Hände in den Taschen seines Hoodies, die Kapuze auf dem Kopf, das Kinn gesenkt. Er schien zu wissen, wo sich die Kameras befanden, denn er gab sich nicht die Blöße, sein Gesicht zu zeigen. Olav hatte Mitleid mit dem Wicht, der viel zu dünn angezogen war. Er fror sicher erbärmlich, trat immer wieder von einem Bein aufs andere und zog die dürren Schultern hoch.
Der Bus hielt, die Türen gingen auf, und es kam Bewegung in die Sache. Als Erster stieg vorn der Busfahrer aus, ein gedrungener, bulliger Typ, der Schwierigkeiten hatte, in seine Steppjacke zu kommen. Dann strömten die Fahrgäste heraus, teilten sich auf, eine Hälfte blieb auf der der Kamera zugewandten Seite des Busses, die andere verschwand hinter dem Bus. Der Dieb setzte sich in Bewegung, hielt sich erst am Rand der Menschentraube aus Fahrgästen auf, nahm aber plötzlich die Hände aus den Taschen und arbeitete sich zielstrebig durch die Leiber bis an die Ladeluke vor.
Genaueres konnte Olav in dem Gewusel nicht erkennen, aber es kam zu einem Tumult, aus dem der Dieb flüchtete, nur hatte er jetzt einen Koffer in der Hand. Obwohl der Mann krank und wenig sportlich wirkte, legte er plötzlich ein beeindruckendes Tempo an den Tag. Der Koffer mit den großen Rollen flog hinter ihm her, sprang über die Bordsteinkante, dann verschwand der Dieb aus dem Bild.
Einen Moment später erschien der Busfahrer und stürzte über die Bordsteinkante.
Olav sah sich die Szene einige Male an, bis er nicht mehr auf Dieb und Busfahrer achtete, sondern auf die anderen Menschen im Bild.
Wer von ihnen hatte den Koffer mit Leichenteilen im Bus platziert?
Die Bilder verrieten es nicht.
Aber es gab noch zwei weitere Perspektiven von anderen Kameras. Sie zeigten allerdings nicht den betreffenden Bus, sondern ein anderes Gate, an dem ein Bus von Flixbus parkte, sowie einen freien Bereich vor der Haltestelle.
Menschen zogen durch die Bilder. Welche davon aus dem Youbus oder dem Flixbus stammten, war nicht zu sagen. Olav sah sich die Aufnahmen wieder und wieder an, beobachtete Reisende, die mit Koffer oder Rucksack von dannen zogen, sah Menschen einander begrüßen, andere verabschiedeten sich voneinander.
Irgendwas an der Aufnahme der dritten Kamera, die den freien Bereich zeigte, weckte Olavs Aufmerksamkeit, aber er kam nicht drauf, was es sein könnte.
Frust und Verzweiflung wuchsen.
Endlich kamen die Daten vom Dortmunder Busbahnhof rein, und Olav widmete sich ihnen.
Der Youbus fuhr ein, die Fahrgäste stiegen aus, an den Ladeluken herrschte das gleiche Gedränge wie auf den anderen Aufnahmen. Doch endlich begriff Olav, was ihn schon bei den Dresdner Aufnahmen hatte aufmerksam werden lassen.
Er spulte zurück, sah sich die betreffende Sequenz wieder und wieder an, bis er sich ganz sicher war.
»Scheiße«, stieß Olav aus, der sonst nie Schimpfwörter benutzte. »Kann das sein?«
Also noch mal die Dresdner Aufnahmen. Jetzt, wo er wusste, wonach er Ausschau halten musste, war es offensichtlich.
Einen Moment saß Olav mit offenem Mund da und dachte nach. Er war perplex und wusste nicht, wie er mit dieser Information umgehen sollte.
Dann griff er zum Handy und rief Leonie an.
Sie war am richtigen Ort und konnte helfen.