9.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dresden
Marco Hantelmann lag nackt auf dem Bett des Hotelzimmers, Arme und Beine zu den Seiten gespreizt und an das kupferfarbene Metallgestell des Bettes gefesselt. Seinen Körper hielten schwarze Koffergurte an Ort und Stelle. Er schien sich heftig und lange gewehrt zu haben, denn die Gurte hatten tief in die Haut eingeschnitten.
Hände und Füße fehlten.
Immer wieder blitzte das Kameralicht des Polizeifotografen auf, und jedes Mal zuckte Leonie Grün zusammen. Der Anblick der übel zugerichteten Leiche setzte ihr zu, sie musste sich zusammenreißen, ihren Magen kontrollieren und ihre Wut auf diesen monströsen Täter zügeln, obwohl sie sie einfach nur hinausschreien wollte.
Zu spät, schoss es ihr durch den Kopf. Ein paar Stunden zu spät.
Der Mann mit der Fellmütze war nicht der Täter.
Marco Hantelmann lag vor ihr, als fünftes Opfer dieser Serie.
Zwar hatte Leonie dafür gesorgt, dass in Dresden jeder Polizist Hantelmanns Gesicht kannte und jeder zur Verfügung stehende Beamte damit beauftragt worden war, sämtliches Videomaterial der Stadt auszuwerten, aber gefunden worden war der Mann durch eine Abfrage der Hotelbuchungen. Er hatte dieses Zimmer unter seinem Namen gebucht. Ein Doppelzimmer. Der Angestellte des Hotels erinnerte sich allerdings nur an Hantelmann, nicht an die zweite Person.
Auf die Idee, die Hotels abzufragen, war die Dresdner Kollegin Irina Krämer gekommen. Leonie wäre es selbst nicht eingefallen, da der Täter seinen Opfern bisher in deren private Wohnungen gefolgt war. Er hatte seine Vorgehensweise also geändert. Sie konnten sich bei diesem Mann auf nichts verlassen, es war der ungewöhnlichste Fall, den Leonie je erlebt hatte, und er ging an die Substanz.
Sie musste raus aus dem Hotelzimmer, hielt den Anblick der amputierten Leiche nicht länger aus. Auf dem Gang vor dem Zimmer drängte sie sich an der Dresdner Kollegin vorbei, die sich gerade mit zwei Beamten der Spurensicherung besprach. Ihren fragenden Blick erwiderte Leonie nicht. Sie brauchte frische Luft und ein paar Minuten für sich.
Auf dem Bürgersteig vor dem Hotel spürte sie den kalten Wind kaum. Es war, als hätte sich ihr Körper von den Sinneswahrnehmungen und Emotionen getrennt, um weiterhin funktionieren zu können.
Die Sehnsucht nach zu Hause, nach ihrer Tochter schwappte wie eine Welle über Leonie hinweg. Sie zog ihr Handy hervor und rief Solveig an.
Zu ihrem Erstaunen ging sie ans Telefon. Das war heute früh nicht so gewesen, da hatte Solveig sie mit einer »Ich kann gerade nicht«-SMS abgewimmelt.
»Wie geht es dir?«, fragte Leonie.
»Wann kommst du zurück?«, überging ihre Tochter die Frage.
»Ich weiß es nicht, der Fall brennt gerade.«
»Papas Freundin ist bei ihm. Ich kann da nicht bleiben. Ich muss mir die ganze Zeit anhören, wie sie es miteinander treiben.«
»Du hast doch sowieso dauernd deine Ohrhörer drin.«
»Außerdem kochen die beiden nicht. Ich ernähre mich schon den ganzen Tag von Süßigkeiten.«
»Sol, bitte … Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, außer, du bist alt genug, dir selbst etwas Vernünftiges zu kochen.«
»Ja, herzlichen Dank. Genau die Unterstützung hab ich mir gewünscht. Dann kann ich ja gleich ganz bei Papa bleiben.«
Ohne sich zu verabschieden, legte Solveig auf.
Leonie schloss die Augen und kämpfte die Tränen nieder. Sie hatte sich ein anderes Gespräch gewünscht, es hätte ihr gutgetan, wenn Solveig sich einmal, nur ein einziges Mal erkundigt hätte, wie es ihr ging. Aber vielleicht erwartete sie auch zu viel von einem pubertierenden Teenager.
Ihr Handy klingelte, und sie hoffte, es sei Solveig, die sich entschuldigen wollte, doch im Display erkannte Leonie Olav Thorns Nummer. Sie meldete sich, und das Erste, was er fragte, war:
»Wie geht es dir?«
Es war nicht dasselbe, wie wenn Solveig es getan hätte, aber es war nicht schlecht. Ganz und gar nicht schlecht.
Leonie berichtete ihm vom Leichenfund im Hotelzimmer.
»Hantelmann war nicht unser Täter. Der ist wahrscheinlich schon längst weitergereist«, endete sie.
»Ich weiß«, sagte Olav, »und zwar nach Dortmund, so wie du es vorausgesehen hast.«
Jetzt war Leonie an der Reihe, ihm zuzuhören. Sie nahm die Informationen auf und spürte, wie sie sich immer weiter von ihren Emotionen entfernte. Vielleicht war das nicht schlecht. Vielleicht konnte sie diesen Fall nur so überstehen. Kühl, pragmatisch, professionell.
Olav erzählte ihr von dem leicht abgewandelten Text auf dem Notizzettel.
»Er macht eine Pause?«, sagte Leonie.
»Hoffentlich. Aber deshalb rufe ich dich nicht an. Ich bin da auf etwas gestoßen, was mir bedeutsam erscheint.«
»Erzähl!«
Leonie hörte ihm konzentriert zu.
»Wie groß war Carmen Schmidt?«, fragte Olav schließlich.
»Ich weiß es nicht genau, aber sicher nicht größer als eins sechzig.«
»Das passt. Hör zu, du musst das sofort überprüfen. Gut möglich, dass der Täter hier einen kapitalen Fehler begangen hat, der uns zu ihm führt. Beeil dich!«
»Ich bin schon unterwegs.«