13.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dortmund
Jan und Rica mussten lange nach einem Parkplatz in der Nähe des Reisebüros Kröger suchen, und als sie endlich einen fanden, hatten sie sich ein ganzes Stück von der Adresse entfernt.
»Und wenn wir auf dem PC nichts finden oder ich das Passwort nicht umgehen kann?«, fragte Rica, nachdem sie ausgestiegen waren.
»Weiß ich auch noch nicht. Vielleicht fühlen wir den gruseligen Kröger-Geschwistern noch einmal auf den Zahn.«
»Warum? Was denkst du?«
»Ich denke, der Umstand, dass sie nach ihrer Schwester suchen lassen, bedeutet nicht, sie vermissen sie auch. Mich wundert der spärliche Informationsfluss und dass sie Karl-Otto Kröger nichts von dem neuerlichen Termin erzählt haben. Und warum haben die uns nicht gleich von diesem Ulf Wolters erzählt? Irgendwas stimmt da nicht, und dass sie die Polizei außen vor lassen, ist auch merkwürdig. Lass uns erst mal mit dem Jüngsten der Kröger-Geschwister sprechen. Vielleicht sind wir dann schon schlauer.«
Das Wetter war nasskalt, der Schnee matschig, sie mussten aufpassen, nicht auszurutschen. Bald waren ihre Stiefel und die Schienbeine der Hosen klatschnass.
Nach einer Viertelstunde erreichten sie das Reisebüro Kröger.
Einen einträglichen Eindruck machte der Laden nicht.
Er lag in einer langen Front verschiedener kleiner Geschäfte. In der Mitte befand sich eine Eingangstür aus Aluminium, wie sie in den Siebzigerjahren modern gewesen war, rechts und links je ein großes Schaufenster. Beide Fenster waren zwar mit Plakaten und allerlei Utensilien wie Schwimmflügeln, Sandspielzeug und einer Luftmatratze dekoriert, doch die Plakate waren von der Sonne verblichen. Das gelbe Tuch, mit dem der Boden drapiert war, ebenso.
Die Öffnungszeiten hingen auf einem Schild in der Tür aus.
Samstags von acht bis zwölf.
Jan presste die Nase an die Scheibe und legte die Hände seitlich ans Gesicht, um das Licht abzuschirmen und nach drinnen schauen zu können.
Im Ladenlokal gab es zwei Arbeitsplätze. Einen Schreibtisch links, einen rechts. Beide waren verwaist. Hinter den Schreibtischen zogen sich weiße Regale an der Wand entlang, die mit einer Vielzahl bunter Ordner gefüllt waren. In der Mitte, dort, wo man zwischen den beiden Schreibtischen hindurchgehen konnte, gab es eine Tür, die vermutlich in ein Hinterzimmer führte.
»Sieht so aus, als wäre niemand da«, sagte Jan. »Dabei hat Kröger mir den Termin doch bestätigt. Ich ruf ihn noch mal an.«
Jan zog sein Handy hervor und wählte die Festnetznummer, die Constanze Kröger für ihn notiert hatte.
In dem halbdunklen Ladenlokal leuchtete auf der altmodischen Telefonanlage ein rotes Lämpchen auf, und einen Moment später hörten Jan und Rica durch die einfach verglasten Scheiben hindurch das Klingeln.
Die Tür zwischen den Schreibtischen ging auf, und ein Mann kam heraus. Er hielt ein Handy in der Hand, drückte darauf, und das Klingeln erlosch. Anrufweiterleitung, dachte Jan und erinnerte sich daran, dass die älteren Kröger-Geschwister der Meinung waren, Karl-Otto habe kein Handy. In dieser Familie schien man sich untereinander nicht wirklich gut zu kennen. Ein weiterer Hinweis auf die Kluft zwischen den beiden älteren und den beiden jüngeren Geschwistern.
Und vielleicht war auch etwas dran an dem Tratsch, dass Karl-Otto und Elke nicht von demselben Vater stammten wie Constanze und Heinrich.
Der circa fünfunddreißig Jahre alte Mann, der ihnen die Tür aufschloss, hatte zumindest keinerlei Ähnlichkeit mit seinen älteren Geschwistern.
»Wir haben bereits geschlossen«, sagte er und warf einen verwirrten Blick auf Rica. Das kannte Jan schon, und er nahm es nicht übel.
»Aber wir sind doch verabredet, Herr Kröger. Erinnern Sie sich nicht? Wir haben uns schon einmal getroffen, zusammen mit Ihren Geschwistern. Ich bin Jan Kantzius, das ist meine Frau Rica. Wir versuchen, Ihre Schwester zu finden. Wir haben telefoniert.«
Krögers Blick blieb noch einen Moment verwirrt, dann fiel der Groschen.
»Ach ja, richtig. O Gott, bitte entschuldigen Sie … Ich bin wirklich durcheinander wegen dieser Sache. Ich habe den Termin tatsächlich vergessen. Diese ganze Büroarbeit, die sonst Elke erledigt … Ich weiß schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich schlafe seit Tagen da hinten auf der Klappcouch, um mir die Fahrerei nach Altena zu sparen.«
Karl-Otto Kröger hatte ein offenes, jungenhaftes Gesicht, gänzlich frei von der zur Schau getragenen Arroganz seiner beiden ältesten Geschwister. Er wirkte sympathisch, wenn auch ein wenig verpeilt, und die schmalen, geröteten Augen sprachen von zu viel Arbeitszeit am PC.
»Kantzius? Was für ein ungewöhnlicher Name«, sagte Kröger mit einem fragenden Blick auf Rica.
»Kommt aus dem Slawischen. Können wir uns drinnen einen Moment unterhalten?«
»Ja natürlich … Bitte, kommen Sie herein.«
Im Laden fiel Jan die Kälte auf, außerdem der Staub auf den Regalbrettern. Er fragte sich, wie viel Geld dieser altmodische Laden im Zeitalter von Internetbuchungen abwarf.
Kröger blieb zwischen den Schreibtischen stehen und schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. In diesem Moment machte er auf Jan einen herzzerreißend traurigen Eindruck. Ein Mann in der Mitte seines Lebens, der weder ein noch aus wusste.
»Wissen Sie schon, was mit Elke … Ich meine … Sie sprachen am Telefon von einer vielversprechenden Spur.«
Jan schüttelte den Kopf. »Nein, wissen wir nicht. Deshalb sind wir ja hier. Können wir uns setzen?«
»Natürlich.«
Karl-Otto Kröger schob zwei Stühle vor den rechten Schreibtisch und setzte sich selbst dahinter.
»Es ist kalt hier drinnen«, stellte Jan fest. »Sie haben nicht geöffnet?«
Kröger schüttelte den Kopf. »Seit zwei Tagen nicht mehr. Ich schaff das einfach nicht ohne Elke. Allein der Bürokram ist schon zu viel … Und dann die Sorge … Ich kann gar nicht klar denken. Aber bitte, sagen Sie nichts Constanze und Heinrich … In ihren Augen muss das Geschäft immer laufen.«
»Von uns erfährt niemand etwas.«
Kröger schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich hätte doch sofort die Polizei rufen sollen. Aber Constanze und Heinrich … Sie wollten das nicht. Wegen des Rufes der Familie. Altena ist ein kleiner Ort, wissen Sie.«
»Das sollte Ihnen egal sein, wenn es um das Schicksal Ihrer Schwester geht«, warf Rica ein.
Das Schuldbewusstsein troff Kröger geradezu aus dem Gesicht. »Ich weiß … ich weiß, ich hätte es tun sollen, hätte mich gegen Heinrich und Constanze durchsetzen sollen, dieses eine Mal, aber sie waren so … Sie haben gesagt, die Leute würden sich über Elke das Maul zerreißen, wenn herauskäme, was sie für einen Lebenswandel habe. Ich will aber nicht, dass jemand schlecht über Elke spricht, denn so eine Frau ist sie nicht.«
»Was für eine Frau ist sie nicht?«
»Heinrich sagt, sie trifft sich mit Männern aus dem Internet, und das ist ihr zum Verhängnis geworden. So ist das, wenn man herumhurt, sagt Heinrich. Und wenn die Polizei das herausfindet, wird alles öffentlich, und dann redet der ganze Ort darüber.«
»Hat Ihr Bruder denn recht?«
»Nein! Elke ist nicht so! Meine Mutter war auch nicht so, auch wenn die Leute das sagen. Sie will doch nur geliebt werden, wie jeder andere Mensch auch.«
Jan musste wieder an den von der Bedienung kolportierten Tratsch denken, dass Karl-Otto und Elke von einem anderen Mann als dem alten Kröger sein könnten.
»Herr Kröger, gestatten Sie mir die Frage: Gibt es Streit zwischen Ihnen und Ihren Geschwistern? Ich finde es schon etwas befremdlich, dass Sie Geheimnisse voreinander haben, wo es doch um Ihre gemeinsame Schwester geht.«
»Streit …« Karl-Otto schüttelte den Kopf. »Wir … wir verstehen uns nicht gut, das stimmt, aber als Familie muss man zusammenhalten.«
Jan fand, das klang, als sei es dem Mann jahrelang eingetrichtert worden.
»Wie ist es damals zu dem Feuer in der Fabrik gekommen?«
Die Frage fiel Jan spontan ein, aber er fand, in Anbetracht der Umstände und des Tratsches im Ort durfte sie ruhig gestellt werden.
»Ein Kurzschluss im Tabaklager«, antwortete Karl-Otto knapp.
»Wie kam es, dass Ihr Vater dabei ums Leben kam? Er hat doch sicher nicht im Lager gearbeitet, oder?«
»Mein Vater war überall. Immer! Mein Vater hat alles und jeden kontrolliert.«
»Deshalb ist die Firma ohne ihn pleitegegangen?«
»Die war vorher schon so gut wie pleite, er wollte es nur nicht wahrhaben.«
Jan hätte dazu noch viele Fragen stellen können, und er spürte, wie nahe Karl-Otto dieses Thema ging. Doch angesichts dessen, dass die Geschwister Geheimnisse voreinander hatten, schien ihm im Moment eine andere Frage wichtiger: »Sagt Ihnen der Name Ulf Wolters etwas?«
»Der Versicherungsmakler, der einige Male hier war?«
»Genau der.«
»Was ist mit dem?«
»Kann es sein, dass Ihre Schwester und Ulf Wolters eine intime Beziehung pflegten?«
Jan und Rica konnten sehen, was diese Behauptung bei Kröger auslöste. Vielleicht hatte er mal in diese Richtung gedacht, die Wahrheit jedoch ausgeblendet, aber jetzt von Dritten damit konfrontiert zu werden, rückte sie in ein anderes Licht.
»Herr Wolters?«, sagte Kröger. »Hat er Elke etwas angetan?«
Jan schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keine Hinweise, aber sein Name ist bei unseren Ermittlungen aufgetaucht, deshalb frage ich. Hat Elke viel Zeit mit Herrn Wolters verbracht?«
»Ich weiß nicht … Sie waren mal essen, aber geschäftlich. Wissen Sie, um diese Dinge kümmert sich meine Schwester. Geschäfts-, Steuer-, Bank- und Versicherungsangelegenheiten. Ich bin nur für die Reisebuchungen verantwortlich.«
Okay, dachte Jan, das konnte stimmen. Vielleicht hatte Elke eine intime Beziehung vor ihrem kleinen Bruder geheim halten können.
»Was ist denn nur mit Elke passiert?«, fragte Karl-Otto Kröger, seine Stimme zitterte.
»Das wissen wir nicht«, sagte Jan. »Und um das herauszufinden, muss ich einen Blick in Elkes PC werfen. Würden Sie uns das gestatten?«
»Ja natürlich, alles, wenn es denn nur hilft. Das hier ist Elkes Arbeitsplatz, meiner ist der da drüben. Aber ich fürchte, der PC ist mit einem Passwort geschützt.«
»Damit kommen wir zurecht.«
»Wie lange wird es denn dauern?«, fragte Kröger.
»Das kommt drauf an. Haben Sie vielleicht noch Büroarbeit zu erledigen und könnten damit die Zeit überbrücken?«
»Ja schon, aber höchstens noch eine Stunde. Dann brauchen Elke und Heinrich den Wagen, wegen der Therapie, wir haben ja nur diesen einen.«
»Das müsste reichen. Rica?«
Rica nickte, stand auf und begab sich zu Kröger auf die andere Seite des Schreibtisches.
»Wenn Sie meine Kollegin dann an den PC lassen würden?«
Karl-Otto Kröger räumte den Schreibtischstuhl.
Rica setzte sich, verschränkte die Finger ineinander und ließ sie einmal kräftig knacken.
Dann tat sie, worin sie richtig gut war.