14.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dortmund
Der Architekt Rainer Brand besaß eine Villa im noblen Stadtteil Dortmund-Kirchhörde. Hier fanden sich schicke Häuser auf großen Grundstücken mit altem Baumbestand.
»Da schickt man nicht einfach ein Rollkommando hin«, hatte Zimmerman gepoltert, als Olav Thorn ihn genau dazu aufgefordert hatte.
Letztlich hatte sich Zimmermann aber dazu überreden lassen, dem Architekten und Ex-Mann von Elke Kröger einen Besuch abzustatten. Leider war es dafür nötig gewesen, Zimmermann in all die Spuren und Hintergründe einzuweihen, die Olav mühsam hatte herausfinden müssen. Es war Olav schwergefallen, seinem cholerischen, angeberischen Kollegen diese Indizien auf dem Silbertablett zu präsentieren, denn natürlich bestand die Gefahr, dass Zimmermann im Falle einer erfolgreichen Verhaftung in seinem Zuständigkeitsbereich den Erfolg für sich beanspruchte.
Olav hatte genau eine Minute darüber nachgedacht, bevor er Zimmermann angerufen und ins Bild gesetzt hatte. Er wäre nicht besser als dieser, wenn er auf solche Äußerlichkeiten Wert legte.
Es ging darum, weitere Opfer zu verhindern und für die bereits Getöteten Gerechtigkeit herzustellen.
Nur darum, nicht um Ruhm und Ehre.
Also fuhren sie, eine Stunde nachdem Leonie die Initialen aus dem schwarzen Koffer mit den übergroßen Rollen durchgegeben hatte, in Zimmermanns Wagen zu der Adresse in Dortmund-Kirchhörde. Ihnen folgten zwei Einsatzbeamte in einem zivilen Fahrzeug.
»R.B.«, sagte Zimmermann zum wiederholten Male. »Das trifft auf so viele Namen zu.«
»Ja«, stimmte Olav ihm zu. »Es könnte auch für Richard Branson stehen, diesen britischen Milliardär, der unbedingt auf den Mars will. Aber ich bezweifle, dass Branson einen Koffer vermisst, der hier bei uns dazu benutzt wurde, um Leichenteile zu transportieren. Hingegen kann ich mir vorstellen, dass die Initialen zu einem Mann gehören, der mit einer Frau verheiratet war, die verschwunden ist und nachweislich Kontakt zu Ulf Wolters hatte, der ebenfalls verschwunden ist, dessen Name aber im schlimmsten Serienmörderfall seit Jahrzehnten auftaucht. Ein Mann, auf dessen Website steht, dass sein größter Kunde die Best-Western-Hotelkette ist, was zu einem im ersten Koffer aufgefundenen Papierschnipsel passt, den der Täter übersehen haben könnte.«
Sofort nach Leonies Anruf hatte Olav nach Rainer Brand gegoogelt und auf dessen Architektenpräsenz im Internet genau diese Information gefunden. Best Western, der Schnipsel Papier, die Initialen, die Verbindung zu Elke Kröger und Ulf Wolters – es passte alles zusammen!
Zimmermann schien sich da nicht so sicher zu sein.
»Was hat jetzt dieser Richard Branson damit zu tun?«, fragte er.
Viel fehlte nicht, und Olav hätte vor Verzweiflung aufgeschrien. Er tat es nicht, und da Zimmermann sich in diesem Moment auf den Verkehr konzentrieren musste, blieb er ihm die Antwort einfach schuldig.
»Ist trotzdem alles ziemlich dünn«, schob Zimmermann hinterher. »Und ich nehme es Ihnen persönlich übel, dass Sie mir nicht gleich von dieser vermissten Elke Kröger berichtet haben. Macht man das so bei euch in Bremen? Informationen zurückhalten?«
Auch darauf ging Olav nicht ein. Stattdessen zeigte er durch die Windschutzscheibe.
»Da ist es!«
Ein Geldpalast tauchte vor ihnen auf. Weiß, groß, quadratisch, zweigeschossig, mit hohen, schlanken Fenstern und einem Vorbau, der auf protzigen Säulen ruhte. Kein Neubau, sondern eine aufwendig renovierte, stuckverzierte Stadtvilla. Das weitläufige Grundstück war von einer Buchenhecke umgeben, die ihr braunes, vertrocknetes Laub noch hielt. Einige riesige Buchen und Eichen streckten ihre knorrigen, kahlen Äste über das Haus.
Hinter zwei Fenstern in der Vorderseite brannte Licht.
»Wie schön, jemand zu Hause«, sagte Zimmermann.
Direkt bis vor die Villa fahren konnte er nicht, da die Einfahrt durch ein Metalltor versperrt war. Zimmermann parkte den Dienstwagen am Straßenrand, und sie stiegen aus. Wasser tropfte von den Ästen der Bäume, der Schnee verwandelte sich in Matsch. Die Temperatur lag mittlerweile knapp über dem Gefrierpunkt, aber für den Nachmittag hatten die Wetterfrösche einen Schneesturm und katastrophale Straßenverhältnisse angekündigt.
Zimmermann wies die beiden Kollegen an, zunächst im Wagen zu bleiben.
In einem der aus Ziegelsteinen gemauerten Pfeiler befand sich eine Gegensprechanlage mit Klingel. Olav ließ dem Lokalmatador Zimmermann den Vortritt. Der klingelte und beugte sich schon mal hinab, um ins Mikro zu sprechen, doch es tat sich nichts. Er klingelte erneut. Wieder nichts. Nach dem dritten Klingeln erlosch das Licht hinter den beiden Fenstern, aber es meldete sich niemand.
»Wohl doch niemand da«, resümierte Zimmermann.
»Und das Licht?«
»Zeitschaltuhr?«
»Vielleicht ist da drinnen aber auch jemand in Panik geraten, weil er uns gesehen hat«, schlug Olav vor.
Zimmermann klingelte noch zweimal, aber es wurde ihnen nicht aufgetan.
Unschlüssig kaute er auf der Unterlippe. Er schien zu keiner Entscheidung fähig zu sein.
»Ich steige jetzt über das Tor«, sagte Olav.
»Nein! Dazu besteht überhaupt keine Veranlassung!«
»Meiner Meinung nach schon. Die Indizien sprechen für sich. Aber bleiben Sie gern hier, Zimmermann. Das macht sich später gut, wenn ich Rainer Brand als den Fernbuskiller festgenommen habe.«
Die Unterlippe wurde noch stärker malträtiert, und man sah Zimmermann an, wie angestrengt er nachdachte.
Olav würde sich von ihm nicht aufhalten lassen.
Er stellte einen Fuß in die unterste Strebe des Metalltors, packte die oberste, zog sich hoch und schwang ein Bein über das Tor, sodass er rittlings obenauf saß. Dann zog er das andere Bein nach und sprang ab. Als er sich aufgerichtet hatte, starrte Zimmermann ihn durch die Streben hindurch an.
»Warten Sie, ich komme«, sagte er.
Das dauerte allerdings einen Moment. Zimmermann war schwer und ungelenk, und als er auf dem Boden aufschlug, glaubte Olav eine Erschütterung zu spüren, gefolgt von einem schmerzgepeinigten Aufschrei.
Ungeachtet dessen drang Olav weiter auf das Grundstück vor. Dabei achtete er auf Videokameras, konnte aber keine entdecken. Seine Aufregung stieg, und sein Herz schlug in schnellem Rhythmus. Dass Rainer Brand ihnen nicht öffnete, stattdessen sogar das Licht im Haus löschte, konnte eigentlich nur eines bedeuten:
Er war der reisende Mörder.
Möglicherweise versuchte er gerade zu fliehen. Das Grundstück war riesig und unübersichtlich, und die Rückseite des Hauses konnte Olav noch nicht einsehen.
»Bleiben Sie vorn!«, rief Olav seinem Kollegen zu, ohne sich umzudrehen.
Zimmermann war zurückgefallen, wahrscheinlich hatte er sich beim Aufprall verletzt. Egal. Olav würde das hier notfalls auch allein durchziehen. An der rechten Ecke der Villa blieb er stehen, zog seine Waffe und spähte um die Ecke.
Frei!
Er rückte weiter vor. Warf schnelle Blicke durch die Fenster, die er passierte, doch die waren mit Gardinen verhängt. Licht brannte hinter keinem. Schließlich erreichte er die hintere Ecke des Hauses, verharrte erneut und verschaffte sich einen Überblick. Das rückwärtige Grundstück war riesig und von Büschen und Bäumen bestanden. Die hatten zwar kein Laub, aber die Tannen und Koniferen dazwischen boten genug Deckung. Olav hielt nach Fußspuren Ausschau. Davon gab es einige, und es war nicht auszumachen, welche davon frisch waren und geradewegs vom Haus auf die hintere Grundstücksgrenze zuführten.
Mit einem Satz schnellte Olav um die Ecke und brachte sich in Schussposition. Er hatte freien Blick auf eine ausgedehnte, überdachte Terrasse, auf der unter Kunststoffhauben Gartenmöbel und ein Gasgrill Winterschlaf hielten.
Niemand zu sehen.
Langsam schob Olav sich auf die Terrassentür zu. Als er sie erreichte, stoppte er und warf einen Blick ins Haus hinein. Auch hier gab es vor den bodentiefen Fenstern Gardinen, aber sie waren nicht ordentlich zugezogen, und durch den Spalt konnte Olav hineinspähen. Er sah Eichenparkett, einen hellen Läufer, Ledermöbel. An der Wand das schwarze Rechteck eines großen Flat-Screen-Monitors. Keine Menschen.
Plötzlich schob sich ein Schemen an dem Spalt vorbei, und Olav zuckte erschrocken zurück.
Was war das gewesen?
Ein Mensch?
Mit heftig klopfendem Herzen wagte Olav sich erneut ans Fenster vor. Im selben Moment wurde die Terrassentür auf- und die Gardinen beiseitegerissen, und ein Mann stürmte heraus. Er trug einen Bademantel, mit der rechten Hand schwang er einen Schürhaken, und der erste Hieb verfehlte Olavs Kopf nur knapp.