18.
Samstag, 21. Dezember 2019 Dortmund
Die Oesterholzstraße ging vom Borsigplatz ab und war dicht bebaut. Die Fassaden waren größtenteils heruntergekommen, vielfach besprüht oder beschmiert, es gab noch einige alteingesessene Geschäfte, aber auch viele Leerstände. Ein grauer, trister Ort, dem der heftige Schneefall guttat. Frisches Weiß legte sich auf schmutzige Straßen und verblichene Dächer, bedeckte die Autos und die wenigen schäbigen Grünflächen.
»Hierher hat Elke ein Taxi bestellt?«, fragte Rica mit Blick auf die Gruppe Männer, die sich unter einen Dachüberstand drängten. Jogginghosen, Laufschuhe, Lederjacken, finstere Blicke und breite Schultern. Bei einem von ihnen bemerkte Jan die charakteristische Ausbuchtung einer Waffe im Hosenbund.
Die Häuser waren mehrgeschossig, so auch Nummer 27, die Adresse, die Rica im PC von Elke Kröger gefunden hatte. Das Haus war gesichtslos und schäbig. In einem der Fenster, die zur Straße gingen, brannte eine kleine Lampe.
»Wenn Elke sich hier vor ihren Geschwistern versteckt hat, war es ein genialer Schachzug. Niemals hätten die Krögers sie hier gesucht. Diese Gegend ist weit unter der Würde dieser Wichtigtuer«, sagte Jan und zollte Elke innerlich Respekt für die Entscheidung, sich hier eine Wohnung zu mieten, um ein Leben außerhalb des Dunstkreises ihrer Geschwister zu führen.
»Sie wusste, sie muss aus der Lebensrealität ihrer Geschwister verschwinden, wenn sie eine Chance haben will.«
»Warum ist sie nach der Scheidung überhaupt zu ihnen zurückgekehrt?«, fragte Rica.
Jan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht auf Druck der Geschwister. Vielleicht hatte sie auch keine andere Wahl. Brand wird ihr kein Geld hinterhergeworfen haben, mindestens bis zur Scheidung wird sie mehr oder weniger mittellos gewesen sein.«
In einer Nebenstraße fand Jan einen Parkplatz für seinen großen Defender. Mit gesenkten Köpfen liefen sie durch den stärker werdenden Schneesturm zu dem Haus zurück. Vor der Tür schützte sie ein kleines Vordach.
Eines der zwölf Klingelschilder war mit dem Namen Wolters beschriftet.
Wer diese Wohnung angemietet hatte und bezahlte, wussten Jan und Rica nicht, aber der Name auf dem Klingelschild ließ vermuten, es handelte sich hier um das Liebesnest von Elke und Ulf. Ein Ort, den weder Constanze noch Heinrich oder Karl-Otto kannte.
»Klingeln wir?«, fragte Rica.
Sie fror, ihre Lippen waren blau.
Jan probierte die Haustür. Sie war nicht verschlossen, also gingen sie hinein. Im Hausflur war es zumindest trocken und windstill, sodass sie ihre Kapuzen absetzen konnten. Uringelbe Fliesen zierten die Wände bis auf halbe Höhe. Rechts gab es eine Doppelreihe grauer Briefkästen, manche davon zerbeult. Aus dem Schlitz des Briefkastens, auf dem der Name Wolters stand, quollen Werbeflyer hervor.
Rica und Jan wechselten wortlose Blicke, dann stiegen sie die Treppe hinauf, bis sie im obersten Stockwerk die Wohnungstür fanden. Auf der Klingel daneben stand ebenfalls der Name Wolters.
Rica sah Jan fragend an. Er nickte, und sie klingelte.
Das Läuten drinnen klang furchtbar altmodisch.
Niemand rührte sich.
Jan war nicht hergekommen, um unverrichteter Dinge wieder abzufahren. Er zog sein Werkzeug hervor und wollte sich dem altmodischen Schloss widmen, probierte zuvor aber den Kartentrick aus und war erfolgreich. Die Tür war nicht abgeschlossen, sondern nur zugezogen.
Kaum aufgedrückt, schlug ihnen schwer nach Metall riechende Luft entgegen. Es war so kalt in der Wohnung, dass sie ihren Atem sehen konnten.
»Es riecht nach Blut«, sagte Rica.
»Willst du hier warten?«, fragte Jan, und Rica nickte.
Also schlich er allein in die Wohnung.
Die eisige Luft strömte durch die gekippten Fenster. In Küche, Wohn- und Schlafzimmer fand Jan niemanden. Hinter der einzigen verschlossenen Tür vermutete er das Bad. Mit der Hand auf der Klinke verharrte er einen Moment. Der Blutgeruch kam nicht von ungefähr, und da er alle anderen Räume inspiziert hatte, musste die Quelle hinter dieser Tür liegen. Jan richtete sich darauf ein, Elke Kröger zu finden. Tot. Wahrscheinlich hingerichtet von ihren eigenen Geschwistern, die es nicht dulden konnten, dass sie der Familie Schande brachte. Irgendwie hatten sie diese Wohnung wohl doch gefunden.
Oder getötet von Ulf Wolters, der sich nur zu diesem Zweck mit ihr eingelassen hatte.
Wer konnte das wissen.
Jan stieß die Tür auf.
Der Anblick war grauenhafter als alles, was er bisher je gesehen hatte.