19.
Samstag, 21. Dezember 2019 Altena
Olav stellte seinen Wagen vor der Toreinfahrt zur Villa der Familie Kröger in Altena ab, stieß die Autotür auf und sprang hinaus.
Das alte, schmiedeeiserne Tor stand offen, und Olav beobachtete eine hochgewachsene Frau, die einen Rollstuhl mit einem Mann darin auf einen grauen VW Caddy zuschob. Die Hecktüren des Caddy standen offen, zwei Rampen aus Aluminium waren an den Wagen gelehnt.
Olav hielt auf die beiden zu und zog seinen Dienstausweis hervor.
»Kommissar Olav Thorn«, rief er ihnen zu. »Spreche ich mit den Kröger-Geschwistern?«
Zwei Meter hinter dem Caddy hielt die Frau den Rollstuhl an. Sie wirkte erschrocken, der Mann im Rollstuhl eher verärgert.
»Was wollen Sie?«, polterte er.
Olav zwang sich, ruhig zu bleiben. Seit er den Architekten gegen die Wand gedrückt hatte, war seine Wut nicht merklich abgeflaut, der Frust auch nicht, und er konnte nicht schon wieder so einen unhöflichen Menschen ertragen.
»Sie haben eine Schwester namens Elke? Stimmt das?«
»Ja …«, antwortete die grau gekleidete Frau.
»Die möchte ich sprechen.«
»Sie … sie ist aber nicht da.«
»Wann kommt sie wieder?«
»Zuerst einmal sagen Sie uns, was Sie von Elke wollen«, fuhr der Mann im Rollstuhl dazwischen.
Olav wollte ihm antworten, beobachtete aber, wie der Frau die Gesichtszüge entglitten. Sie ließ den Rollstuhl los, schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, schüttelte den Kopf und ließ die Hände fallen, als habe sie keine Kraft mehr.
»Ich wusste, dass es falsch ist, wir hätten gleich die Polizei rufen sollen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Constanze!«, fuhr der Mann im Rollstuhl sie an.
Doch die Frau ließ sich nicht den Mund verbieten. »Elke ist verschwunden. Wir vermissen sie seit einer Woche. Ist ihr etwas zugestoßen? Haben Sie sie gefunden?«
Obwohl Olav wegen des Verschwindens von Jennyfer Schuhmacher unter extremem Zeitdruck stand, hatte er sich diesen kurzen Moment genommen, um herauszufinden, ob die Krögers ihn anlügen würden. Versucht hatten sie es, doch die Fassade der Frau war rasch zusammengebrochen, und jetzt schien sie sogar froh zu sein, endlich die Wahrheit aussprechen zu dürfen.
»Nein, wir haben Ihre Schwester nicht gefunden«, sagte Olav. »Aber ich bin hier, weil ich eine Spur verfolge, die uns zu ihr führen kann.«
»Woher weiß die Polizei davon?«, fragte der Mann, bei dem es sich um Heinrich Kröger handeln dürfte. »Das ist Privatangelegenheit!«
»Darf ich fragen, wohin Sie wollen?«, überging Olav den unhöflichen Kerl.
»Ich bringe meinen Bruder jeden Samstag zu seiner Rheumatherapie«, antwortete Constanze Kröger.
»Wohnt Ihre Schwester in diesem Haus?«, fragte Olav.
»Ja schon …«
»Ich muss ihr Zimmer sehen.«
»Wenn Sie keinen Durchsuchungsbeschluss haben, sehen Sie hier gar nichts«, keifte Heinrich Kröger.
Olav trat einen Schritt auf ihn zu. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich ermittle in einem Mordfall, in den Ihre Schwester womöglich verwickelt ist, und es besteht akute Lebensgefahr. Ich darf doch wohl annehmen, dass Sie Ihrer Schwester helfen wollen.«
»Nehmen Sie an, was Sie wollen, aber wir helfen ihr nicht, wenn wir Sie in Elkes Zimmer lassen. Da ist sie nämlich nicht. Was für ein Mordfall soll das denn sein?«
Olav hatte nicht vor, Heinrich Kröger Rede und Antwort zu stehen. Dafür reichte die Zeit nicht. Sein Kollege Zimmermann war in der Stadt geblieben, um die Suche nach der vermissten Jennyfer Schuhmacher zu koordinieren, was Olav für eine gute Idee gehalten hatte, und die einzige Spur, die er hatte, der Koffer von Elke Kröger, führte hierher, in diese Villa, und er würde sich nicht abweisen lassen.
Bevor Olav Kröger Bescheid stoßen konnte, fiel sein Blick in das Heck des Caddy, der zu einem Rollstuhltransporter umgebaut worden war. Da die Rückbank fehlte, konnte er bis vorn durchschauen.
An der Rückenlehne des Vordersitzes stand ein großer grüner Trekkingrucksack.
Olavs Herz setzte einen Schlag aus, dann holperte es in doppelter Geschwindigkeit weiter. Er schob sich an dem Rollstuhl vorbei und erklomm das Heck des Caddy.
»Hey, was fällt Ihnen ein!«, keifte Heinrich.
Olav beachtete ihn nicht. Er packte den Rucksack an den Schultergurten und zog ihn aus dem Wagen heraus.
»Wem gehört dieser Rucksack?«, fragte er, und der bedrohliche Klang seiner Stimme ließ sogar den garstigen Heinrich verstummen.
Die Kröger-Geschwister starrten ihn verständnislos an.
»Wem?«, brüllte Olav.
Constanze zuckte zusammen.
»Ich weiß nicht … Karl-Otto hatte den Wagen vorher.«
»Ihr Bruder?«
»Ja, er fährt damit immer zum Geschäft.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er ist vor einer Viertelstunde zurückgekommen, wollte gleich weiter, aber ich brauche den Wagen ja, und wir haben nur den einen. Er war sowieso schon sehr spät dran.«
»Wo ist Ihr Bruder jetzt?«, wiederholte Olav seine Frage mit scharfer Stimme.
»Ich weiß nicht … Im Haus, nehme ich an.«
»Wo im Haus?«
»Sein Zimmer ist im ersten Stock, die zweite Tür rechts. Was ist denn nur los?«
Olav setzte sich in Bewegung, aber Heinrich lenkte seinen Rollstuhl in den Weg.
»Sie betreten nicht unser Haus!«
Olav umrundete ihn, schritt auf das Haus zu und zog dabei seine Waffe – zum zweiten Mal an diesem Tag, nachdem er sie jahrelang nicht gebraucht hatte.
»Constanze, ruf die Polizei! Wir haben Rechte! Dieser Mann darf hier nicht einfach eindringen.«
Die Haustür stand offen. Olav stürmte die mit dickem, abgewetztem Teppich belegte Treppe hinauf. Unten schimpfte Heinrich lautstark. Sollte er doch! Olav ließ sich nicht von ihm aufhalten. Es würde viel zu lang dauern, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken. Lieber nahm Olav die Konsequenzen in Kauf, als in diesem Fall noch ein Menschenleben zu riskieren.
Gefahr war im Verzug.
Dieser grüne Trekkingrucksack war nicht irgendein Rucksack. Er gehörte Carmen Schmidt, dem Berliner Opfer. Genau diesen Rucksack hatte Olav auf den Videofilmen gesehen. Klar, er konnte sich täuschen, die Aufnahmen waren nicht besonders gut, und Rucksäcke wie diesen gab es viele. Aber solche Zufälle nicht!
Oben angekommen, stieß Olav die besagte Tür auf. Dahinter lagen zwei große, durch einen offenen Durchgang miteinander verbundene Räume. Vor den hohen Fenstern hingen dunkle Vorhänge, die Möbel waren antik und sicher teuer, wirkten aber entsetzlich altmodisch. Die gesamte Einrichtung schien aus einem anderen Jahrhundert zu stammen. Im zweiten Raum stand ein wuchtiges Mahagonibett, doch das war es nicht, was Olavs Blicke auf sich zog.
Die Wände waren über und über behangen mit Landschaftsfotografien, offensichtlich ausgeschnitten aus Prospekten oder Urlaubskatalogen. Olav erkannte den Uluru in Australien, die Ruinenstadt Machu Picchu in Peru, die Pyramiden von Gizeh, die weißen Felsspitzen Kappadokiens und viele andere ferne Ziele auf der ganzen Welt. Eine drei Meter hohe Weltkarte mit einer Trittleiter davor zierte die Wand gegenüber dem Bett, sie war übersät mit kleinen Fähnchen, die in allen Kontinenten steckten.
Olav vernahm hinter sich ein Geräusch und fuhr mit der Waffe in der Hand herum.
Constanze Kröger war ihm gefolgt.
»Ist er nicht da?«, fragte sie.
»Nein.« Olav deutete in das Zimmer. »Was ist das hier?«
»Karl-Otto wollte schon immer gern verreisen, das hat er von unserer Mutter, die hat es nie lange zu Hause gehalten, bis … na ja, bis sie dann nicht mehr reisen konnte. Sie hat Karl-Otto mit auf Reisen genommen, als er noch ganz klein war. Immer nur ihn und Elke. Ich glaube nicht, dass er sich wirklich daran erinnert …«
Constanze Kröger ließ ihren Blick über die Bilder schweifen und erkannte wohl selbst, dass es irgendeine Form von Erinnerung geben musste bei ihrem kleinen Bruder.
»Warum konnte Ihre Mutter nicht mehr reisen?«, fragte Olav.
»Sie war schwer krank. Eine seltene Form der Muskeldystrophie. Irgendwann mussten sie ihr zuerst die Füße und dann die Beine abnehmen. Bevor es noch schlimmer wurde, hat sie sich das Leben genommen. Oben bei der Fabrik, im Fluss …«
»Das tut mir leid«, sagte Olav.
Constanze zuckte mit den Schultern. »Da war Karl-Otto acht Jahre alt. Er hat sie hochgeschoben in ihrem Rollstuhl. Bis an den Fluss, nehmen wir an. Ob es dann seine Hände waren, die dem Rollstuhl den Stoß versetzt haben, oder die unserer Mutter … Wir wissen es nicht.«
»Also kann er dabei gewesen sein?«
Constanze nickte. »Gesprochen hat er nie darüber. Elke hat ihn großgezogen, und sie hat ihm dann diesen Floh ins Ohr gesetzt: Irgendwann machen wir beide eine Weltreise, nur du und ich, hat sie immer gesagt, so wie Mama es mit uns tun wollte, und dann haben sie dieses Spiel gespielt, immer und immer wieder.«
»Welches Spiel?«
»Ich packe meinen Koffer … Sie kennen das sicher. Aber dazu ist es nie gekommen. Zuerst war Karl-Otto zu jung, und nachdem die Fabrik ausbrannte, war kein Geld mehr da.«
»Welche Fabrik?«, fragte Olav.
»Meine Eltern, sie hatten eine Zigarrenfabrik, hier in Altena. Die Ruinen stehen noch, nicht weit von hier. Karl geht oft dorthin, obwohl es gefährlich ist. Immer wieder stürzen Wände ein, deshalb ist auch alles abgesperrt.«
»Ihr Bruder war also nie fort von hier?«
Constanze schüttelte den Kopf.