Etwas hatte ihn geweckt. Er lag mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit und sein Herz klopfte heftig und angstvoll. In seinen Ohren verklang geisterhaft der Nachhall eines Schreis. Hatte er selbst ihn ausgestoßen oder war er von dem Schrei aus dem Schlaf gerissen worden?
Er lag still und lauschte. Sein Bett wiegte sich im ruhigen Rhythmus des Astes und das dichte, vom Wind bewegte Laub rauschte leise. Er hörte den dunklen Ruf eines Nachtvogels, das erschreckte Quaken und das Platschen, mit dem ein Frosch ins Wasser sprang. Zweige knackten, als ein größeres Tier, ein Reh oder Einhorn, an seinem Baum vorbeilief.
Er richtete sich auf und blickte durch die locker geflochtene Wand nach draußen. Der Mond stand hoch am Himmel und warf sein kühles Licht über den Wald. Doch so aufmerksam er auch spähte, der Junge konnte nicht erkennen, was ihn geweckt hatte. Sein Herzklopfen beruhigte sich langsam und er kroch zurück unter seine Decke, streckte sich auf dem süß duftenden, raschelnden Lager aus und schloss die Augen.
Der Traum, aus dem er so hart gefallen war wie vom Ast eines Baums, war zum Greifen nah. Er wollte ihn weiterträumen, denn es war ein schöner Traum gewesen, voller Licht und Musik, Schönheit und Lachen. Er war mit seinen Eltern auf einem Ball des Elfenkönigs und tanzte dort mit einer seiner Cousinen.
Der Junge kniff fest die Augen zusammen, um den Traum zurückzuholen. Hatte er Cousinen? Er konnte sich im Halbschlaf nicht daran erinnern. Ihm lag eigentlich nicht viel daran, mit Elfenmädchen zu tanzen, aber trotzdem war es ein schöner Traum gewesen, und wäre da nicht der Schrei gewesen, der ihn geweckt hatte ...
Er fuhr hoch. Dieses Mal war er sicher, etwas gehört zu haben. Seine Mutter? Rief sie seinen Namen?
Er sprang aus dem Bett und lief den Ast entlang zur Knotenleiter. Seine nackten Zehen krümmten sich um das faserige Seil. Er verharrte und lauschte wieder. Es war ruhig wie zuvor, aber jetzt wusste er, dass er sich auch den ersten Schrei nicht eingebildet hatte. Dort unten ging etwas vor sich, und es war nichts Gutes.
So leise er konnte, hangelte er sich am Knotenseil entlang Ast für Ast zum Boden. Im Haus, das in den Baum und um ihn herum geflochten war, schimmerte Licht.
Er ließ sich auf das Dach des Wohnraums fallen und wartete einen Moment lang mit angehaltenem Atem. Er hörte Stimmen, fremde Stimmen. Sie klangen aufgebracht. Dazwischen die Stimme seiner Mutter, erregt, ängstlich, bittend. Dann wieder eine fremde Männerstimme, kalt und herrisch. Er konnte nicht verstehen was die Stimme sagte.
Der Junge kroch über das Geflecht des Daches und suchte nach einer Öffnung, die er ein wenig erweitern konnte, um hineinzublicken. Er richtete sich auf und spähte in die Dunkelheit. Dort bewegte sich etwas in der Nähe des Stalls. Er hörte Schnauben und ein gedämpftes Wiehern und ließ sich wieder auf die Knie sinken. Reittiere, die den Fremden gehören mussten. Er kannte die Stimmen von Schneeflocke und Morgentänzerin, Mandelblüte und der kleinen Sonnenfliege. Keine der Stuten wieherte so dunkel.
Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Geschehen unter seinen Füßen. Er hörte die Stimme seines Vaters, der laut und wütend sagte: »Ihr könnt uns nicht einfach töten! Wir gehören immer noch zu Auberons Sippe!«
Der Junge hielt den Atem an. Töten. Sein Vater hatte »töten« gesagt. Er tastete nach seinem Gürtel, aber natürlich trug er nur das lose Hemd, das er in kühlen Nächten zum Schlafen anzog. Kein Gürtel. Kein Messer am Gürtel. Und sein Bogen hing unten im Zimmer neben den Waffen seines Vaters.
Er bückte sich und bohrte seine Finger zwischen zwei dünneren Zweigen ins Flechtwerk. Er zerrte daran, um ein Guckloch zu schaffen, aber die Zweige gaben nur wenig nach und drohten zu brechen. Der Junge biss sich auf die Lippe und atmete tief und hastig ein. Mit Gewalt würde er nichts erreichen. Er beugte sich über das Geflecht und legte seine Hände behutsam darauf. Er zwang sich, die lauter werdenden, bösen Stimmen aus seinem Kopf auszusperren, und bat den Baum flüsternd darum, seine Zweige für ihn ein wenig biegsamer zu machen.
Die sanfte Beschwörung glühte warm unter seinen Händen. Das Zweiggeflecht folgte leise raschelnd den Bewegungen seiner Finger und formte sich zu einer Öffnung.
Der Junge warf sich auf den Bauch und presste das Gesicht an das entstandene Loch. Er schaute auf die Fremden hinab, die sich bedrohlich vor seinen Eltern aufgebaut hatten.
Sein Vater stand hoch aufgerichtet vor ihnen und schützte mit ausgestrecktem Arm seine Mutter vor den Schwertern, die sich auf sie beide richteten.
Der Junge hob die Faust an den Mund und erstickte ein Stöhnen. Was konnte er tun?
»Du hast die Stirn, dich auf Auberon zu berufen?«, sagte einer der Fremden. Der Junge sah, dass es fünf waren. Drei von ihnen waren bewaffnet und in strenge, schwarze Gewänder gekleidet, die ihre hellen Haare aufleuchten ließen. Der Junge sah, dass einer der drei eine Frau sein musste, denn sie trug das lange Haar nicht wie die beiden anderen zu einem dicken Knoten gebunden, sondern hatte es in einen Zopf geflochten.
Die beiden unbewaffneten Männer standen etwas abseits und schienen zu beratschlagen. Einer war hochgewachsen und breitschultrig, hatte schulterlanges rotblondes Haar, das im Licht der Kerzen schimmerte wie dunkles Gold, und trug einen blaugrünen Mantel aus weichem Samt über derbem Reitleder. Der andere war in graues Tuch gekleidet, hatte einen mitternachtsdunklen Mantel nachlässig über die Schulter geworfen und fuhr sich mit den gekrümmten Fingern seiner linken Hand immer wieder über seinen kurz geschorenen, dunklen Kopf, als wäre er unruhig oder in Gedanken verloren.
Der Junge konnte ihre Gesichter nicht erkennen, weil sie genau unter ihm standen. Er hörte den Hellhaarigen leise sagen: »Wir können sie nicht einfach laufen lassen. Es tut mir leid, alter Freund, aber es wäre eine fatale Dummheit, wenn wir sie nicht hier und jetzt töten.«
»Ich habe dich noch nie um etwas gebeten«, entgegnete der andere und seine tiefe Stimme klang wie eine Glocke. »Soll ich mich vor dir niederwerfen und deine Knie umfassen, wie es in den alten Geschichten geschrieben steht?«
Der Blonde lachte leise, aber es klang nicht freundlich. »Du verlangst viel«, sagte er.
»Zu viel?«, entgegnete der Dunkle. »Bedenke doch, was ihr Tod für Konsequenzen hätte. Was ist mit ihrem Kind? Der Junge ist noch halbwüchsig. Willst du ihn etwa auch töten?«
Diese letzten Sätze waren etwas lauter erklungen als der vorangegangene gedämpfte Wortwechsel.
Der Junge schluckte, denn nun schob seine Mutter den Arm seines Vaters heftig beiseite und trat zu den beiden Männern, ohne die auf sie gerichteten Schwerter zu beachten. »Ich flehe Euch an«, rief sie, »verschont meinen Sohn. Er hat Euch nichts getan, er ist unschuldig und unwissend. Verschont sein Leben, ich bitte Euch.« Sie machte Anstalten, sich vor dem Blonden auf die Knie zu werfen, doch der Dunkle hielt sie fest und hinderte sie daran. »Sei still, Audra«, herrschte er sie an und seine Stimme knarrte vor unterdrücktem Zorn.
Der Junge sah, wie der Dunkle die Hand hob, als wolle er sie schlagen. Er vergaß, dass er sich verbergen wollte, um herauszufinden, wie er seinen Eltern helfen konnte, und zerrte unbeherrscht an den Zweigen des Dachgeflechts. Die drei Bewaffneten hoben die Köpfe. Die Frau zeigte auf das Loch im Dach und rief: »Dort!«
Der Mann neben ihr hob ein langes Rohr an die Lippen und stieß seinen Atem hinein. Etwas schoss heraus und schlug gegen die Schulter des Jungen. Er taumelte, griff danach und sah, wie seine Finger in einer klebrig weißen Masse versanken. Er zog sie heraus, wobei lange Fäden der Masse an ihnen hängen blieben, und sprang auf, aber das weiße Geflecht hatte sich schon über seine Arme und seinen Oberkörper verteilt und spann ihn ein wie eine Spinne die Fliege, die in ihrem Netz gelandet war. Einige Atemzüge später war er vollkommen eingehüllt von weißen, zähen Fäden, die nicht länger klebrig und beweglich waren, sondern sich zu einem eisenharten Gespinst zusammengezogen hatten. Er hörte noch, wie jemand rief: »Schnell, holt ihn da herunter«, bevor das Gespinst seine Augen, Ohren und seinen Mund bedeckte und ihm so die Luft nahm, dass ihm die Sinne schwanden.