Es war ein riesengroßes, einschüchternd prächtiges Haus. Der unbekannte Onkel, dem es gehörte, war ein Edler, hatten sie ihm gesagt.
Er konnte es gar nicht recht glauben, dass hier die Verwandtschaft seiner Mutter lebte. Auberons Sippe, hatten sie betont. Und er solle dankbar sein, dass sein Onkel bereit war, ihn aufzunehmen. Ihn, einen Jungen aus dem Schattenwald, ein Bettlerkind – auch wenn seine Mutter wahrhaftig die Tochter eines Junkers war.
War. Gewesen war? Das war die richtige Art, es auszudrücken, auch wenn der Gedanke immer noch so wehtat, als hätte man einen Teil seines eigenen Körpers aus ihm herausgeschnitten. Warum blutete er nicht? Lebte er überhaupt noch oder lief er wie eine bloße Hülle durch die Welt? Ausgehöhlt, trocken und leer vor Trauer fühlte er sich. Aber da war auch noch ein anderes Gefühl, und er hatte es nicht richtig deuten können, bis er das Anwesen seiner Verwandten erblickte, auf dem er von nun an leben würde – der arme Verwandte, das bedauernswerte Waisenkind. Da wusste er, welches Gefühl es war, das sich wie ein scharfer Dorn in sein Inneres bohrte.
Zorn.
Purer, glühender Zorn pulsierte durch seine Adern und hämmerte in seinen Schläfen. Zorn schnürte ihm die Kehle zu und hinterließ den kalten Geschmack von Eisen und Asche in seinem Mund. Zorn summte in seinen Ohren, verschleierte seine Augen und ließ seine Hände nach etwas suchen, das sie zerquetschen konnten, zerschmettern, zerreißen.
Der dunkelhaarige Elf namens Munir hatte ihn hierhergebracht. Munir war auch bei ihm gewesen, als er aus seinem betäubten Schlaf erwacht war und sich voller Schrecken in einer fremden Umgebung, eingesperrt hinter einer geschlossenen Tür, wiedergefunden hatte. Es war das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass er sich in einem rundum geschlossenen Raum befunden hatte, durch dessen Mauerwerk weder Luft noch Licht eindringen konnte. Er erinnerte sich voller Scham daran, dass er geschrien und nach seiner Mutter gerufen und blind um sich geschlagen hatte, als der dunkle Elf ihn besänftigend berühren wollte.
Scham, Trauer, Zorn. Das waren die Gefühle, die an ihm zerrten, seit ...
Er schreckte vor dem Gedanken zurück wie vor weiß glühendem Eisen.
Seit ...
Es gelang ihm nicht, den Gedanken zu fassen; er entschlüpfte, als wäre er eine Forelle, die sich durch seine Finger schlängelte, wenn er sie im strömenden Bach zu greifen versuchte.
Es war einfacher, an etwas anderes zu denken: Seit er aus dem betäubten Schlaf erwacht war und sich in einer fremden Welt wiedergefunden hatte. Allein unter Fremden, die ihn mit unfreundlichen oder teilnahmslosen Augen betrachteten und kalte oder gleichgültige Worte an ihn richteten.
Das Zimmer, in dem er erwacht war, gehörte zu einem Nebengebäude des königlichen Schlosses. Aber das fand er erst viel, viel später heraus, erst nachdem er gelernt hatte, seine Furcht zu beherrschen und die Beklemmung, die ihm diese steinernen Räume verursachten, in einen Winkel seines Bewusstseins zu verbannen.
Er hatte seinen Namen nicht mehr gewusst, als er zwischen den Mauern erwachte. Der dunkle Elf verriet ihm, wie er hieß: Ivaylo.
Er sagte diesen Namen vor sich hin, aber er wollte ihm nichts bedeuten. Ivaylo. Der Name war ihm gleichgültig, und er entschied, dass dies nicht sein richtiger Name sein konnte.
Eine Zeit lang musste Munir ihn »Junge« rufen, und »Du, ich rede mit dir«, damit er dem dunklen Elfen seine Aufmerksamkeit schenkte. Dann träumte er eines Nachts, und in dem Traum sah er seine Mutter, die ihn anlächelte, über sein Haar strich und ihn mit ihrer singenden Stimme »Ivaylo« nannte.
Er erwachte mit Tränen auf den Wangen und fühlte, dass ein Teil von ihm zurückgekehrt war. Noch war er nicht wieder heil, aber die Erkenntnis, dass er Ivaylo war und dass seine Mutter ihn so gerufen hatte, ließ ihn zum ersten Mal seit der Zeit, als das Böse geschehen war, wieder lächeln.
Doch das Lächeln schwand mit dem eisernen Band, das sich fest um sein Herz legte. Das Gesicht seiner Mutter, ihre Stimme, ihre Berührung – aber wo war sie? Was war geschehen, das ihn von ihr getrennt hatte?
Wie hieß seine Mutter?
Der dunkle Elf, Munir, fand ihn, wie er in der Ecke des Steinzimmers kauerte, die Faust gegen den Mund gepresst. Er hatte die ganze Nacht dort gehockt, und als Munir ihm aufhalf, versagten Ivaylos Beine ihm den Dienst. Es war, als wären zwei tote Stöcke an seinen Leib gebunden worden, und Munir musste ihn aufheben und auf sein Bett legen wie einen Kranken oder Verwundeten.
Ivaylo konnte weder sprechen noch mit einer Bewegung auf Munirs besorgte Fragen antworten. Starr und reglos lag er auf seinem Lager und starrte die Balkendecke des steinernen Zimmers an. Sein gedankenloser Blick wanderte über Risse und Fugen, verfolgte die Maserung des Holzes, und Ivaylo verlor sich in der finsteren Tiefe der Astlöcher und seiner Seele.
Munir, der dunkle Elf, holte ihn schließlich zurück ans Licht. Ivaylo wusste nicht, was die Erstarrung gelöst hatte, aber eines Morgens fingen tanzende Stäubchen in den Lichtfäden, die durch den Fensterladen fielen, seinen Blick ein. Ivaylo glaubte, seinen Namen zu hören, und er wandte den Kopf, der so lange bewegungslos auf dem Kissen geruht hatte. Er blinzelte gegen die Trockenheit in seinen Augen und räusperte sich.
»Guten Morgen, Ivaylo«, sagte der dunkle Elf. Munir saß auf einem Hocker neben dem Bett und auf seinen Knien lag ein Buch. Der Elf sah müde aus, obwohl das Licht und der Gesang der Vögel dem frühen Morgen gehörten. »Da bist du wieder.« Er klappte das Buch zu und legte seine Hand wie zum Schutz darüber, und Ivaylo erkannte, dass Munir ihn mit der Hilfe des Buches aus dem dunklen Inneren seines Ichs zurückgeholt hatte.
Ein neues Gefühl gesellte sich zu den anderen: Neugier.
Ivaylo versuchte, sich aufzusetzen. Er war schwach wie ein geknickter Schilfhalm. Munir, der das Buch sorgsam in ein dunkles Tuch eingeschlagen hatte, legte es auf den kleinen Tisch am Fenster und kam zu Ivaylo. Der Junge duldete den Arm, den der Elf um seine Schultern legte, und ließ sich aufhelfen.
»Langsam, dass dir nicht schwindlig wird«, sagte Munir. »Du hast lange gelegen.«
Ivaylo bewegte die Schultern, damit der Elf seinen Griff löste. Es war ihm unangenehm, berührt zu werden. Er murmelte einen Dank und schloss die Augen, denn tatsächlich hatte der Raum begonnen, sich um ihn zu drehen.
Der Junge hörte, wie Munir hinausging und wenig später zurückkehrte. Dann berührte etwas Kühles seinen Mund. Der Rand eines Bechers. Flüssigkeit schwappte gegen seine Lippen, und er öffnete den Mund, um zu schlucken. Es war Wasser, so rein und klar, als tränke er aus dem Bach neben dem Haus.
Ivaylo riss die Augen auf. Er stieß Munirs Hand weg und etwas Flüssigkeit schwappte auf seine Brust. »Da ist etwas in dem Wasser«, sagte er und die Anspannung ließ seine Stimme gepresst klingen.
Munir sah ihn an, ohne den Becher abzustellen. »Was meinst du?« Sein Gesicht war so gelassen und freundlich wie immer, aber Ivaylo glaubte, in den Tiefen der farblos hellen Augen lauernde Wachsamkeit zu erkennen.
Möwenaugen, dachte der Junge. Die großen silbergrauen Vögel gehörten nicht zu den Waldbewohnern, aber er hatte einmal mit Calixto einen langen Ausritt unternommen, der sie aus dem Schattenwald hinaus ins freie Land geführt hatte. Gegen Abend waren sie an die Küste gelangt und hatten sich dort zwischen den Felsen einen Schlafplatz aus trockenem Gras bereitet. Dort saßen sie, während die untergehende Sonne eine rotgolden schimmernde Straße auf die Wellen zeichnete. Sie malten sich aus, wie sie auf dieser Straße hinüber ins Ferne Land wanderten, und über ihnen kreisten die Vögel und begrüßten mit heiseren Stimmen den Abend.
Während Ivaylo in die hellen Möwenaugen des Elfen blickte, kehrten die Erinnerungen zurück wie Wellen, die an einen Strand schwappten und sich wieder zurückzogen.
Calixto. Sein allerbester Freund. Sie waren zusammen kreuz und quer durch den Schattenwald gezogen und hatten jeden Winkel darin erkundet. Sogar in den Feuersumpf im dunkelsten Herzen des Waldes hatten sie sich gewagt und sie waren lachend, mit angesengten Haaren und rußverschmierten Gesichtern nach Hause zurückgekehrt.
Warum hatte er sich nicht mehr an Calixto erinnern können? Wo waren die Erinnerungen an seine Eltern und sein Leben im Schattenwald? Sie tauchten auf und verschwanden wie die Nebelgeister, die in der Abenddämmerung zwischen flechtenbärtigen Baumriesen ihr Unwesen trieben.
Calixto, wie er mit nackter Brust im Schnee vor ihrem Hausbaum stand. Er lachte, als Ivaylos Mutter Audra ihm eins von Farrans warmen Hemden gab, und bedankte sich. Ivaylo sah die Röte in seine breite Stirn steigen. Audra wartete, bis Calixto das Hemd übergestreift hatte, dann ging sie zurück ins Haus und die Jungen ritten durch den tiefen Schnee bis zur Koboldkuppe. Dort zog Calixto das Hemd aus, rieb seine Wange daran und faltete es sorgfältig zusammen, ehe er es in seinem Beutel verwahrte. »Ein schönes Hemd«, sagte er. »Findest du nicht auch, Wolfsjunge? Ich hatte noch nie so etwas Weiches. Es soll unter meinem Kopf liegen, wenn ich schlafe.«
»Wo bist du?«, riss Munirs dunkle Stimme ihn aus seinen Erinnerungen.
»Im Schattenwald«, erwiderte Ivaylo und bemerkte da erst, dass seine Wangen nass waren vor Tränen.
»Erinnerst du dich wieder?«, fragte der Elf. Er beugte sich gespannt vor.
Ivaylo bewegte den Kopf in einer langsamen Verneinung. Die Bilder von ihm und Calixto, von seiner Mutter und dem Haus, in dem sie lebten, wurden erneut undeutlich und begannen zu verblassen.
Er bemühte sich mit aller Macht, sie festzuhalten, aber sie zerflossen wie eine dünne Schneedecke unter dem Licht der Frühlingssonne.
Der Junge kehrte zurück in die Welt der Steinmauern und der fremden Blicke. Er griff nach der Hand des dunklen Elfen und umklammerte sie so fest, dass es den anderen schmerzen musste. Aber Munir schien nichts zu bemerken.
»Was ist mit mir?«, fragte Ivaylo. »Warum fliehen mich meine Erinnerungen? Warum bin ich hier, wo ich nicht hingehöre, und nicht im Schattenwald, bei meinen Eltern und meinen Freunden?«
Munir erwiderte den Druck seiner Hand. »Deine Eltern sind fortgegangen«, sagte er. »Ich bin ... ich bin dein Onkel. Ich kümmere mich um dich.« Sein Blick wich dem des Jungen aus.
»Mein Onkel«, wiederholte Ivaylo. »Ja, sicher.« Der dunkle Elf log ihn an. Er hatte seine Fragen nicht beantwortet und seine Worte warfen nur neue Fragen auf. Warum hätten seine Eltern fortgehen und ihn bei Fremden zurücklassen sollen?
»Ich bin müde«, sagte er. »Lass mich allein.« Er schloss die Augen und beschwor die zerfließenden Erinnerungen, bei ihm zu bleiben. Er hörte, wie Calixto seinen Namen rief, und sah ihn lachen, nussbraune Augen und dichte Locken. Er sah den Morgenhimmel über der Koboldkuppe, hörte das leise Glucksen, mit dem das Wasser des Bachs über Kiesel hüpfte, und den traurigen Ruf eines Milans, der hoch über den Wipfeln seine Kreise zog ... all das verblasste, während er es zu halten versuchte, und verschwand aus seinem Kopf, als hätte es nie existiert.
Munirs Hand legte sich über Ivaylos Augen. Dunkelheit senkte sich über den Jungen und ließ ihn einschlummern. »Hab Geduld«, sagte Munir. »All dies geschieht zu deiner Sicherheit. Deinen Eltern habe ich nicht helfen können, aber du bist hier, und solange du dich nicht erinnerst, kann dir nichts geschehen. Schlaf nun tief und ruhig, mein Junge.«
Ivaylo hörte seine Worte wie das ferne Krächzen von Möwen, das über das Rauschen der Wellen zu ihm drang. Sie bedeuteten nichts. Er schlief.
Auf dem langen Ritt vom Königsstein hinunter in die Ebene wechselte Ivaylo kaum ein Wort mit seinem Begleiter – oder sollte er ihn lieber seinen »Wachhund» nennen? Das Misstrauen wurzelte tief in seiner Seele. Der dunkle Elf hatte ihn belogen und verraten. Hatte Munir ihm nicht versichert, er werde sich um ihn kümmern? Und jetzt brachte er ihn fort, zu Leuten, die Ivaylo nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte.
Sie waren lange vor dem Morgengrauen aufgebrochen. Die Mauern des Königssteins ragten düster und drohend über ihnen auf und verdeckten die Sterne am Himmel. Ivaylo stand zitternd vor Kälte und Müdigkeit im Hof. Munir war wortkarg und ungewöhnlich schroff. »Du kannst doch reiten?«, waren die einzigen Worte, die er an Ivaylo richtete, während sie warteten.
Dann brachte ein gähnender Reitknecht ihre Pferde, und Munir trieb Ivaylo mit einer ungeduldigen Handbewegung an, als der Junge ihm nicht schnell genug aufs Pferd stieg.
Der Sattel war ungewohnt. Ivaylo bewegte sich unbehaglich auf dem harten Leder und sehnte sich nach dem vertrauten Gefühl des festen, warmen Pferdeleibs zwischen seinen Schenkeln. Als sie ihre erste Rast einlegten, waren seine Beine wund gescheuert und seine Muskeln waren steif und schmerzten.
Munir nahm keine Rücksicht darauf. Als wären sie vor irgendetwas auf der Flucht, ließ er nach einer kurzen Pause wieder aufsitzen und weiterreiten.
Ein Stück hinter dem Königsstein schlossen sich ihnen zwei schweigsame Begleiter an. Sie waren mit Schwertern und Bögen bewaffnet und trugen die dunkle Tracht der Jäger Auberons.
Ivaylo verspürte eine unerklärliche Furcht und ein Gefühl wie Abscheu oder sogar Hass, als er die beiden Elfen erblickte. Er konnte es sich nicht erklären, denn er kannte die Jäger nicht. Sie hatten ihm sogar freundlich zugenickt, als sie sich ihnen anschlossen, aber Ivaylo verschloss sein Gesicht wie eine dunkle Kammer und zog sich tief in sein Inneres zurück.
Die Gegend, durch die ihr Ritt sie führte, war ihm fremd. Lichte Auwälder wechselten sich mit Grasland ab, ein Stück des Wegs führte sie am Ufer eines behäbig dahinfließenden Flusses entlang, dann erklommen sie eine kleine Anhöhe, ritten durch weite Felder und durchquerten sogar eine Ansiedlung der Menschen. Ivaylo schenkte alldem keine Beachtung. Er hatte die menschlichen Bediensteten am Königsstein anfangs bestaunt, aber sich dann schnell an ihren Anblick gewöhnt.
Sie wechselten ihre Pferde an einer Poststation, die ebenfalls von Menschen geführt wurde, legten eine etwas längere Rast ein und ritten dann weiter.
Am Ende des langen Tages versank die Sonne hinter einer Hügelkuppe, tauchte den Himmel in flammende Farben und die Landschaft in rötliches Licht. »Wir sind da«, sagte Munir.
Trotz seiner Erschöpfung richtete sich Ivaylo im Sattel auf und beschattete die Augen mit der Hand. Das, worauf Munir deutete, war augenscheinlich nur ein kleines Wäldchen. Aber dann sah er ein Hausdach und hörte Hundebellen, und was er für ein Wäldchen gehalten hatte, entpuppte sich als eine Baumreihe, hinter der sich ein lang gestrecktes, niedriges Gebäude verbarg.
Die beiden Jäger, die den ganzen Ritt über kein Wort gesagt hatten, tauschten einen Gruß mit Munir, nickten Ivaylo erneut freundlich zu, wendeten ihre Pferde und ritten zurück. Ivaylo schaute ihnen erstaunt hinterher und Munir zuckte mit einem Lächeln die Achseln.
Dann ritten sie in den Hof des Anwesens ein. Ivaylo stieg mit weichen Knien aus dem Sattel und beobachtete gleichgültig vor Müdigkeit, wie ein hochgewachsener Elf aus der Tür trat und Munir begrüßte. Die beiden Männer schienen sich recht gut zu kennen, obwohl die Begrüßung nicht allzu herzlich, sondern eher reserviert ausfiel.
Dann sah der Elf Ivaylo an und der kühle Blick seiner Augen erwärmte sich. »Du bist also mein Neffe«, sagte er und streckte die Hand aus. Ivaylo ergriff sie nach einem kurzen Zögern, und der Mann zog ihn in eine kurze, herzliche Umarmung, die den Jungen überraschte. »Ich bin Gondiar«, sagte der Elf. »Und dort kommt deine Tante Daina.«
Ivaylo starrte die Elfe an, die jetzt aus dem Haus gelaufen kam. Lohfarbenes Haar flog um ihr Gesicht, honigdunkle Augen strahlten ihn an, sie breitete weit die Arme aus und rief »Ivaylo!«.
»Mam...«, er schluckte es hastig hinunter und beinahe erstickte er daran. Es war das Gesicht aus seinen Träumen, die Stimme seiner Mutter, und jetzt fühlte er die vertraute Umarmung, ihre weiche Hand, die über seine Wange streichelte. »Tante Daina?«, fragte er ungläubig.
»Sei willkommen, Ivaylo«, flüsterte sie in sein Ohr. »Sei von Herzen willkommen. Solange du bei uns lebst, bist du ebenso unser Kind wie Aindru und Alana.«
Er schluckte. »Danke«, sagte er heiser. »Das ist sehr freundlich von euch.« Er machte einen Schritt zurück, floh aus ihrer fremden und doch vertrauten Umarmung und verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre ihm kalt. »Ich bin sehr müde.«
Er bemerkte den Blick, den Munir und seine Tante wechselten. Der dunkle Elf nickte ihr zu, und beide gingen beiseite, um gedämpft miteinander zu sprechen. Ivaylo hörte Daina fragen: »Willst du nicht wenigstens für eine Nacht bleiben?« Er sah, wie Munir unentschlossen den Kopf schüttelte, woraufhin die Elfe ihn bei der Hand nahm und leise und eindringlich auf ihn einredete.
»Ich bringe dich auf dein Zimmer«, sagte Gondiar zu Ivaylo. »Du hast einen langen Ritt hinter dir. Seid ihr wirklich erst heute früh vom Königsstein aufgebrochen?«
Der Junge wandte seine Aufmerksamkeit ein wenig unwillig von den beiden anderen Elfen zu seinem Onkel. »Ja, heute früh«, bestätigte er. »Ich bin noch nie so lange und so weit geritten.«
Sein Onkel lachte. »Dann empfehle ich ein heißes Bad. Ich lasse dir eins herrichten.« Er legte Ivaylo eine Hand auf die Schulter und schob ihn zum Eingang. »Hast du Hunger?«
Munir und Daina blieben im Hof und sahen sich an. Dainas Blick war vorwurfsvoll. »Du solltest es nicht tun«, sagte sie bestimmt. »Auberon kann dich nicht dazu zwingen, wenn du dich weigerst.«
Munir strich fahrig über sein kurz geschorenes Haar. »Daina ...«, sagte er hilflos.
Sie schnitt ihm mit einer schroffen Handbewegung die Rede ab. »Ich kenne dich. Du glaubst also, dass er recht hat. Munir, irrst du dich nicht?«
Der Elf schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war dabei, als wir sie gefangen ... Daina, es wurde uns zugetragen, dass sie Böses planten. Auberon wollte sie sofort hinrichten – und der Rat hätte sich dem nicht widersetzt.«
Sie schlug die Hände vor die Augen. »Aber wir sprechen doch von Audra«, sagte sie erstickt. »Wie kann das sein? Wie kannst du glauben, dass sie und Farran ...«
»Es ist die Wahrheit, Daina.« Seine Stimme klang hart, doch auch in seinen Augen standen Tränen. »Sie wurden verhört und haben nichts geleugnet. Ich kann nun nichts mehr für sie tun – und ich will es auch nicht!«
Daina sah ihn entsetzt und ungläubig an, dann wandte sie sich wortlos ab und ließ ihn stehen.